Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Faro III

50 shades of blue

C. ist 40, oder Anfang 40. Ihre Haut sieht aus wie ein frisch gegossener Teller. Sie ist klein und schmal und ihre Haare, von denen man nicht weiß, welche grau und welche blond sind, weil sie so gut zueinander passen, liegen auf ihrem Kopf wie zu einem Schläfchen. „Derzeit habe ich keine Wohnung, ich lebe als Nomadin“ sagt sie und N. und ich sind so perplex, dass wir vergessen, die richtigen, anschließenden Fragen zu stellen. Sie benutzt Begriffe wie „here and there“ and „back then“, sie besucht ihre Mutter und wir werden nicht herausfinden, wie genau sie ihren Tag verbringt, nur dass sie manchmal auch abends, wenn wir am großen Tisch sitzen und auf den Telefonen lesen und schreiben, still neben uns steht und dasselbe tut. Das einzige Mal, dass ich sie sitzen sehe, ist an diesem Abend auf der weißen Treppe, die vom Hof in die zweite Etage führt. Sie sagt etwas, das ich mir merken will und dennoch vergesse, aber ich erinnere mich genau an das Gefühl danach, in dem ich dachte: Irgendwas hat sie, irgendeinen Knick, und ich wüsste gern, woher der kommt. Einmal steht sie im Hof neben der großen Palme und wischt mit einem gelben Lappen die Drähte des Wäscheständers ab.

Der Grünstreifen vor dem ‚N Coisas‘ wird jeden Morgen von denselben Hunden besucht. N. sagt, R. könne das besonders gut, die Gedanken von Hunden lesen. Manchmal übersetze er für sie, wenn sie in Berlin einem Hund begegnen. Wir können das nicht, aber jeden Morgen kommt der kleine graue mit der lockigen Frisur und schnüffelt um den pinkfarbenen Strauch herum, danach besucht uns der schmale, dünne, der nur oben auf dem Kopf ein Büschel Haare hat und setzt ebenfalls eine Marke. So geht das mehrmals hintereinander. Jede Snackbar hat ihren eigenen, struppigen Bewacher. Ich verliebe mich alle zehn Meter neu.

Quiosque ist mein Lieblingswort. Handgeschrieben sieht es wunderschön aus, ausgesprochen auch. Später sehe ich vom Bus aus dieses riesige Plakat: Rent an emotion. Autovermietungswerbung. Auf dem Kreisverkehr kurz vor dem Flughafen stehen weiße, kastige Figuren. Mehrere Personen, die in die Luft schauen. Vielleicht aus Stein geschlagen, vielleicht aus Holz. Ihre Körperhaltungen sind so authentisch und echt, dass ich aussteigen und mich dazwischen legen möchte, ihre Blicken rühren mich so, dass ich schlucken muss, dabei haben sie nicht einmal richtige Augen.

Am Strand dann 50 shades of blue. Ich erinnere mich wieder, warum Blau meine Lieblingsfarbe geworden ist, früher war es Grün, vielleicht wird Blau es bleiben. N. sagt, in der chinesischen Medizin habe man sogar Deutungen für die Farbe von Kleidung, die man in bestimmten Zeiträumen kauft. Letztes Jahr vor allem Dunkelblau. Dieses Jahr Schwarz. Ich weiß nicht, ob ich diese Deutungen kenne möchte und bleibe innerlich lieber bei meiner ausgestreckten Hand. Manchmal, wenn ich länger in die Sonne schaue, flimmert es danach in blauen Blitzen in meinem Blickfeld, ich genieße jedes einzelne Mal. Sowieso sauge ich das Licht hier auf, als hätte ich jahrelang keines bekommen. Hinlegen, warten, warten, warten, warten, spüren, wie Schweiß sich bildet, warten, warten, warten, wie er austritt, warten, warten, wie er rinnt. In diesem Moment gibt es kaum Schöneres. Dagegen das Wasser. Strömung spüren, Wellen spüren, tauchen, nicht zu tief, aber tauchen, durch die Wellen hindurch und dazwischen. Anfangs direkt hineingehen, obwohl es arschkalt ist, einfach weiterlaufen, nicht zögern, keinen Moment, einfach laufen, das hält man schon aus, die Kälte, die Wucht. Wenn man sich nicht umdreht, ist überall Horizont.

Wenn man Regener und Cole parallel liest, vermischen sich New York und Bremen zu einem wunderlichen Brei, in dem kleine Klumpen schwimmen. Zweimal erschrecke ich über Parallelen. Die eine zum Wehrdienst und dass Verweigerer wohl zum Dilemma des Pazifisten gefragt werden, was sie täten, wenn jemand ihre Eltern mit einer Waffe bedrohen würde und sie selbst eine in der Hand hätten. Und in beiden Büchern werden Protagonisten zu gutmütigen Kümmersachen, zu Charity-Arbeit, überredet von Menschen, die ihnen irgendwie nahe stehen. Dabei haben sie dann Begegnungen, an die sie sich später erinnern. V allein kommen sie nicht auf die Idee, sich zu engagieren, das Drängen dazu übernehmen die Randfiguren für sie.

Wir essen frischen Fisch mit Zitrone und viel Knoblauch, die Sonne steht tief. Als wir zum Bus gehen, steht hinter der Brücke ein alter Fischer allein in seinen Gummischuhen, er fängt nichts, die Strömung ist schnell. Im Bus dann Halbstarke. Der eine hängt sich ein Handtuch über den Kopf, während er ganz laut über sein Handy Guns N‘ Roses hört. Runterkommen mit Axl Rose. Ich erkläre N. den Unterschied zwischen ‚Trottel‘ und ‚Tollpatsch‘. Der erste vergeigt’s mit dem Kopf, der zweite mit dem Körper. Im Quiosque kaufen wir Schokolade, spielen dann Backgammon im Hof. Die Wangen glühen nach.

Faro II

Faro

Ankommen ist immer anders, es gibt kein Rezept und keinen Plan, ankommen muss man eben können, man muss in der Lage sein zu sehen und aufzunehmen und einen Platz finden und dann erst, dann kann man ankommen, also sich zurücklehnen und da sein, man kann nicht sagen, dass es dauert, sowas geht manchmal ganz schnell, das ist auch so eine Sache, die ist von Ort und Mensch und Zeit und Blutdruck und Wetter abhängig, von dem, was man daheim gelassen hat und was vielleicht nicht, ankommen kann man nicht lernen, aber trotzdem besser werden darin. Ankommen ist immer auch ein bisschen Zufall und Glück.

Im Schatten ist es frisch, wir bestellen in einem kleinen Café frischen Saft, Pastéis de Nata, Sandwiches und Galão, der Wind fegt alles, was man nicht festhält, vom Tisch. Es ist ein guter Platz da auf der Avenida da República. Das ‚N Coisas‘ ist relativ neu, eines dieser Cafés, deren Besitzer glauben, man müsse viel Glas, Kunstleder und Dekorationsartikel verwenden, um modern und neu zu sein. Der Name bedeutet ‚1000 Sachen‘ und der Kaffee ist sehr gut. Dass die Bedienungen sich an uns erinnern werden, wissen wir noch nicht, aber die Einheimischen kommen auch hierher, vor allem die älteren, wir mögen das. Wir sitzen und frieren und schauen den Busfahrern zu, die hier Pause machen und sich die Krawatten lösen, denn gegenüber ist das Hotel Eva und im Hotel Eva ist ein riesiges Loch, in das permanent Busse fahren. Das Hotel Eva scheint die Menschen auszuspucken und die Busse zu verdauen, denn irgendwie fahren alle immer nur hinein und nie ein Bus hinaus. Ich kaufe einen Ring im Crazy Shop, und Sonnencreme.

Manchmal liegt ein Rauschen in der Luft, wenn man durch die schmalen Gassen der Altstadt läuft, das ist dann nicht das Meer sondern ein tief fliegender Storch, sie nisten überall auf den Kirchen und klappern laut mit den Schnäbeln. In der Rua Batista Pinto steht N. vor einem Haus, das gerade renoviert wird, und schaut hinein, sie dreht sich um, ich warte auf der anderen Straßenseite, sie grinst. Einer der Bauarbeiter hat sie bemerkt und bittet uns hinein, er kann kein Englisch, aber er führt uns durch die hohen Räume, als gehörten sie ihm, zurückhaltend, aber stolz. Auf Holzplanken laufen wir über die Baustelle, an allen Ecken und Enden verputzen sie die Vergangenheit, säubern und restaurieren. Seine Kollegen fragen vermutlich, wer wir sind, was wir wollen, er spricht mit beruhigender Stimme und wiegelt sie ab, in jedem Raum wieder. Wir klettern über eine Treppe auch in die zweite Etage, überall sitzen Männer mit Helmen zwischen Zementsäcken und morschen Türrahmen aus dem Jahr 1878. Ein Hostel soll es werden, und ich bekomme Gänsehaut.

In der Rua da Porta Nova dann die zwei grau melierten Herren auf der Steinbank, zwischen ihnen mit weißer Farbe „No comment“ geschrieben, sie sitzen dort zurückgelehnt und unterhalten sich, pinkfarbene Blüten hängen wie ein Wasserfall über ihnen, die Tür daneben steht offen und wieder gehen wir nach kurzem Zögern einfach hinein. Dahinter ein Raum voller Staub und Fliesen, Kartons voller Kacheln und der riesige Schreibtisch des Besitzers, auf dem sich das Papier stapelt, Notizbücher, Rechnungen, Zettel. Die fünf Minuten, die wir allein im Laden sind, bevor eine Touristengruppe einfällt, sind ruhig und kühl. Vor den kleinen Holzhäusern, wo die Boote zu den Inseln ablegen, liegt ein dicker Hund und schläft. Ein Katzenbaby hat sich auf den Lenker eines Mofas gegen die Windschutzscheibe gelegt und beobachtet uns. Wind, Wasser und Plakatreste haben große Figuren und Monster auf die hellen Steinmauern in der ganzen Stadt gemalt. Wenn ein Haus leer steht, werden alle Türen und Fenster zugemauert, ich erschrecke ständig davor. Manchmal wird ein kleiner Spalt offen gelassen, der ein Vorhängeschloss freigibt. Keine romantischen Gründe.

Wir laufen, bis wir nicht mehr laufen können. Wir verlaufen uns, bis wir uns nicht weiter verlaufen können und den Kreis erkennen, den man in Faro automatisch geht, wenn man nicht aufpasst, man kommt immer zum Hafen zurück. Ich beobachte den alten Herren, der die beiden Jungs von der Schule abholt. Die Kinder zeigen noch aufgeregt auf die Störche, ihn kostet das nicht einmal einen Augenblick. Für zwei kleine Bier bezahlt man auf dem Platz zusammen 2,40 Euro. Dort schauen sie alle die Weltmeisterschaft, die Portugiesen, ein paar Touristen, die Schüler, die schon frei haben, und die Männer, die Pause machen dürfen. Die Älteren sitzen im Schatten, die Jüngeren tanzen bei jedem Tor auf den roten Stühlen des Biersponsors. Wir kaufen Churros, der Zucker klebt in den Mundwinkeln, über uns kreisen aufgeregt die Schwalben. Portugal fliegt raus, aber man merkt es den Menschen nicht an, kein Gezeter, keine Tränen, sie machen einfach weiter, gehen heim, essen Abendbrot. Nachts flattert die Plastikfolie, die T. als Sichtschutz an die unteren Fensterscheiben geklebt hat, wie ein Segel. Ich träume, dass K. den spanischen König heiratet. Meine Haut ist so warm. Ankommen dauert einen Moment.

Faro I

Farotiles

Es regnet in Berlin, es regnet so sehr, dass man denkt „Jetzt kann ich ja auch gehen“ und das in so einem leicht bockigen Unterton, also ich meine, wenn es Untertöne gibt beim Denken. Ich radle zum Buchladen, kaufe Teju Cole und Sven Regener. Regener eigentlich nur, weil’s so dick ist und ich doch so schnell lese im Urlaub, das weiß ich mittlerweile und das Schlimmste ist, wenn man sich zügeln muss aus Angst, dann nach zwei Tagen dazuliegen und nicht lesen zu können. Der Buchhändler hat soeben eine grüne Trillerpfeife von jemandem geschenkt bekommen, und ich schreibe „jemandem“, weil ich vergessen habe, welchen Begriff er verwendet hat, irgendjemand, der regelmäßig zu ihm kommt und mit dem er geschäftlich zu tun hat. Auch wieder so etwas, ich betrete diesen Buchladen, vor dem ich schon so oft stand, heute zum ersten Mal. „Die schicken öfter mal was, Aufkleber, Postkarten, Sie wissen schon… Aber die Trillerpfeifenidee ist neu“ sagt er und bläst in die kleine grüne Pfeife. „Möchten Sie eine Trillerpfeife?“, er betont das ‚Sie‘ in dem Satz, er hält mir die Pfeife entgegen, ich verneine, aber bedanke mich, wir überlegen kurz, wem man die Pfeife schenken könnte, denn er hat ja nun wirklich keine Verwendung dafür, Kinder, nein, das wäre unfair den Eltern und Nachbarn gegenüber, den Eltern die Pfeife schenken vielleicht, nein, das wäre noch unfairer. Vielleicht, so verbleiben wir, kommt heute noch jemand passendes in den Laden. Er gibt mir eine Plastiktüte für den Weg, „Ihre Jackentaschen sind ja zu klein, nicht wahr“, ja, meine Jackentaschen sind zu klein.

N. hat Angst, dass wir zu früh am Flughafen sind. Ich habe Angst, dass wir zu spät kommen. Damit könnte man jetzt eigentlich einen Roman beginnen und die zwei Charaktere loserzählen, aber das tun wir ja nicht, wir machen ja Urlaub, wir schreiben keinen Roman, jedenfalls nicht jetzt. Wir sind pünktlich, das kann man sagen, und treffen am Flughafen mit dieser stillen Hibbeligkeit ein, die früher noch eine laute Hibbeligkeit war und nun im Daumennagelhautkauen endet. Wir sind jedenfalls so früh, dass wir es schaffen, Verpflegung zu besorgen und sie so an uns zu befestigen, dass wir nur ein Handgepäckstück haben und trotzdem Wasser und Lebensmittel und etwas zu lesen und Kopfhörer und einen Schal und einen Pullover.

Wir bekommen noch einen Sitzplatz im Wartebereich des Gates. Ich habe keinen Computer dabei und übe das Tippen auf dem quergelegten Handy, das ist fummeliger als die Playstation, deren Controller mich auch immer sehr herausfordert, aber die Autokorrektur hat gute Laune und schon nach ein paar Zeilen werde ich besser. Die Menschen sprechen miteinander, die meisten hier haben einen Urlaub vor sich, glaube ich. Die ältere Dame neben mir zischt ein „Pssscht“ in alle Richtungen, weil sie die Durchsage der Flughafenmitarbeiter nicht versteht, ich erkläre ihr, dass sie nichts verpasst hat und auf ihre aufgeregte Frage, wer wann das Flugzeug besteigen dürfe, antworte ich, wir dürfen alle gemeinsam einsteigen. Plötzlich ist sie wieder freundlich und schaut aus dem Fenster. Als wir zum Flugzeug gehen, hat es aufgehört zu regnen und N. summt leise „Guantanamera“.

„Oh hallo!“ sagt der Flugbegleiter etwas überrascht ins Mikrofon und erklärt die Situation. Die Fluglotsen in Frankreich streiken. Das Flugzeug steht also noch eine Stunde in Schönefeld herum, wir sitzen darin und lesen. Es gibt Wasser aus durchsichtigen Plastikbechern. Das Wasser ist umsonst, das sorgt beinahe für helle Aufregung im Flugzeug, „denn bei Easy Jet ist ja wenig umsonst, da muss man ja beinahe noch fürs Reden dürfen bezahlen“. Die Flugbegleiterinnen tragen die Wasserbecher auf einem durchsichtigen Tablett durch den Gang, wie schön es wäre, wenn jetzt eine Tanzemariechenparade durch den Gang käme oder jemand vom Zirkus, also eigentlich wäre das ziemlich schrecklich, aber die Reaktionen wären so schön, wie all jene gucken würden, die eigentlich genervt sind ob des Wartens, sich aber die Genervtheit noch nicht ganz erlauben, weil sie ja jetzt in den Urlaub fahren und am Anfang des Urlaubs hat man sich ja gefälligst zu freuen und schließlich gibt es ja Wasser umsonst, also bitte. Aber es gibt keine Parade. Immer wenn Flugbegleiter die Schwimmweste mit der Pfeife erklären, muss ich unweigerlich an Titanic denken, an die Szene, in der sie alle im Wasser schwimmen und es irgendwo leise trötet. Es ist Trillerpfeifentag, N. sitzt am Fenster und lacht, der Platz zwischen uns ist frei. Jetzt regnet es wieder.

Um 18:23 Uhr gibt es eine Durchsage vom Kapitän. Wir fliegen über Paris und den Charles-de-Gaulle mit seinen vier Landebahnen, alle Köpfe neigen sich, die Hälfte sieht nichts. Im Gang des Flugzeugs spielen Kinder mit Eimern und Schaufeln. Ich habe die Dummy mit dem Titelthema „Abenteuer“ fertig gelesen, kann jetzt also losgehen. Ein junger Mann sitzt neben uns, dazwischen liegt noch der Gang. Er hat sich ein Glas Kokosöl mitgebracht und löffelt davon mit einem Umrührstäbchen mehrere Portionen in seinen Beutelkaffee. Beutelkaffee ist Kaffee, den man wie Tee aufgießt. Hier oben ist es still, die Sonne scheint. Ich erkläre N., was das Wort „rumpeln“ bedeutet.

Teju Cole im Flugzeug zu lesen, die ersten Seiten der Streifzüge seines Protagonisten durch New York, ist fast, als flöge ich direkt dorthin. Ob das am Strand immer noch da sein wird, das Gefühl, das er jetzt hinbekommt in mir? Das Flugzeugklo stinkt. Eine Familie hat extra einen kleinen Toilettensitz für die Kinder dabei. Alle 30 Minuten holt Papa das Ding aus der grünen Plastiktüte, das er im Gepäckablagefach über sich verstaut hat, und schleppt es samt Kind aufs Klo. Danach wieder einpacken und verstauen, also nur den Deckel. Sind Reisen nicht auch Zeiten, in denen Dinge mal anders sein sollten als Zuhause? Der Kokosölmann programmiert eine Website auf dem Laptop, seine Freundin schläft auf zwei Sitzen. Als er vor dem Start einnickte und sein Kopf nach hinten fiel, faltete sich seine Hinterkopfhaut zu kleinen Rollen an der Kopfstütze zusammen.

In Faro bekommen wir eine Willkommenszeremonie, die örtliche Feuerwehr wäscht das Flugzeug mit einem großen Spritzauto, wir fahren direkt durch den Strahl zum Gate. Die Prozedur wird von einem Regenbogen dekoriert. Wieder sieht die Hälfte der Leute nichts, das ist dann schon dieses Touristendilemma, man hat immer Angst, dass man was verpasst oder falsch steht, den falschen Ausgang nimmt, sich die falsche Uhrzeit gemerkt hat, dass man dies, dass man das. Ein Regenbogen jedenfalls, ein portugiesischer. Es riecht sofort nach Urlaub, als wir aus dem Flugzeug treten, die Luft ist feuchter, die Sonne wärmer, das Licht so grell, dass ich die Augen zusammenkneife. Das ist hier schöner als Zuhause, das Augen zusammenkneifen, bilde ich mir ein. Der erste Taxifahrer erklärt uns sofort ungefragt und freundlich den Bus, er versucht nicht einmal uns zu einer Taxifahrt zu überreden, sondern grinst nur breit. Das Licht so golden, ich kann es gar nicht anders sagen, wir sitzen auf der Bank und gucken in den Himmel, davor die gewellten Dächer des Flughafengeländes, dahinter irgendwo Palmen. Im Bus läuft die Klimaanlage. Neben dem Jumbo Supermarkt tanzen Schülerinnen in roten T-Shirts einem HipHopper auf einer großen Bühne hinterher. Das große Ding daneben ist das Einkaufszentrum, aber das wissen wir noch nicht.

Wir wohnen in einem Haus, dessen Fliesen an der Außenwand wir fotografieren, bevor wir wissen, dass wir in diesem Haus wohnen. Darin lebt T., der man ansieht, dass sie viel gesehen hat, vielleicht ist das nicht gut ausgedrückt, das klingt ja so nach Furchen und Augenringen, aber ich meine eher die Geschichten im Ganzen ohne Wertung. Sie serviert uns Minizwieback und Feigenmarmelade am großen Holztisch im Wohnraum des Hauses, von dem der Flur, die Küche, der kleine Hof und ein Rumpelzimmer abgehen. Wir sind vom Flug so müde und von dem schönen Haus so geplättet, dass wir nur ganz still sitzen und zuhören. Ich starre permanent auf ihre Hände, T. hat nebenan ein Atelier und arbeitet mit Keramik.

Später stehen wir mit in den Nacken gelegten Köpfen vor dem Arco da Vila, auf dessen Türmchen Störche nisten. Die Kakerlake im Bad taufen wir Gimmie und entlassen sie mit Hilfe eines Glases und eines Zugfahrplans in den zweiten, kleinen Hof. Dass T. ihn am liebsten sofort zerstampft hätte, wäre sie dabei gewesen, wissen wir auch noch nicht.

Zürich VII

Idaplatz

Das Licht des Sommeranfangs legt sich auf den See wie eine Hand auf warme Haut, die sie zwar kennt, aber noch nicht ganz so lange. Am frühen Abend noch hell und etwas plötzlich, aber man kann schon ahnen, wann die Nacht kommt, wie sie wird und dass die Stimmen dann kurz noch etwas lauter werden vor Euphorie und Oxytocin. Auf dem Bellevue so viele Hinterköpfe, denn sie übertragen den Rigoletto in neuer Inszenierung, der Herr mit dem grauen Haar vor mir wippt mit und man erkennt an seiner Bewegung, dass er, wäre er allein, vielleicht ausschweifender wäre, vielleicht lauter summen würde. Hier sitzen sie dicht an dicht, die blauen Klappstühle kann man kaufen (sie kommen in handlichen Taschen zum über die Schulter werfen), und so sitzen sie alle und lauschen (sie lauschen wirklich, nur an den Rändern des Platzes, wo man steht, wird geredet zwischendurch, aber auch das leise), manche haben sich Decken mitgebracht, viele Hüte, dazwischen immer wieder ein paar ausgezogene High Heels auf dem Valser Quarzit. Bei der einen Arie bewegt der Herr die Hände in den Hosentaschen, die Fersen hebt er im Takt, ob er dirigiert oder mitspielt oder ob genau so wirkliches Lauschen geht, vermag ich nicht zu sagen.

In Zürich kann man von der einen Sekunde auf die andere allein sein. Aus dem größten Trubel heraus genügen manchmal schon zwei, drei Schritte und alles ist wieder still, niemand bleibt zurück, nur Fensterläden und gelbe Fahrbahnmarkierungen und Malven, überall Malven an den Straßenrändern. Und das helle Chopfab passt in diesen Abend, weil es hinten nach genau diesem Licht schmeckt, das am späteren Abend neben den nackten Füßen und dem Klirren der Gläser liegt. Wir fallen nach dem Spiel aus der Nebenstraße wieder ans Ufer, und hier drüben ist es laut, die Jugend hat sich versammelt und liegt und hockt neben den Wasserpfeifen, es pfeift und lacht und kreischt an jeder Bank, wir laufen Slalom um die kleinen Grüppchen, ich verstehe keine Wort, aber die Gesten kenne ich noch, die zurückgeworfenen Köpfe, die zusammengesteckten, die nach innen gedrehten Füße und die Artikulation, die man dann ja auch noch für sich finden muss neben dem ganzen Rest.

Am Fluss wird um Mitternacht getanzt, die Käfer sammeln sich beim Licht. Die Betonstufen sind noch warm vom Tag und man kann die Augen schließen und kurz aufhören zu existieren zwischen all denen, die sich hier auskennen, die nicht drauf achten müssen, auf etwas zu achten, man kann sitzen und nicht gesehen werden und vielleicht noch ein Bier trinken und sich vorstellen, so könnte der Sommer sein und bleiben, es aber nicht aussprechen sondern nur kurz denken und dann weiter beobachten. Über uns flattern bunte Bänder im Wind, den man erst spürt, wenn man aufsteht, um sich zu strecken und nach Hause zu finden. Am Sonntag gibt vielleicht keinen ruhigeren Ort in der Stadt als die eine Wiese auf dem Friedhof Sihlfeld, und wir laufen neben den geordneten Gräbern, deren Steine alle dieselbe Höhe haben, auch die Kreuze sehen beinahe gleich aus, Quadrat an Quadrat und die verrückteren Steine außer der Norm stehen hinten auf einer eigenen Fläche. Unter manchen Bäumen darf das Gras wachsen, dort legt es sich schräg und man sieht, von wo meistens das Wetter kommt, ein Baby lernt stehen. Was passiert eigentlich mit Namen, wenn sie niemand mehr vergibt?

Als ich zurückkomme nach Berlin, ist es 15 Grad kälter, aber auf der anderen Straßenseite ein paar Meter nach links stehen rosa Malven. Mir fehlt auch das i an den Worten.

Zürich VI

Café Lang

Allein wegen der Tapeten sollte man die Toilette im Café Lang einmal besuchen, vielleicht auch wegen dem großen Spiegel und dem gedämmten Licht, vielleicht einfach weil man ganz kurz in irgendeine verwegene Zwischenzeit katapultiert wird, die auch noch anhält, wenn man die Stufen wieder hinauf durch den Raum mit der dunklen Holzvertäfelung zurück in den Raum mit dem hellen Holz geht und sich dorthin setzt, wo man zu gleichen Teilen den Gastraum sowie das Geschehen hinter der Bar beobachten kann, wo die Gläser schon mit Orange und Eis vorbereitet werden, wo man sich die Hände an der kleinen blau-weiß-karierten Schürze abwischt, die zweimal um den Bauch gebunden wird. Das kleine Milchkännchen hat einen Sprung am Ausguss, wäre ich alt und hätte ich Platz und zu viel Zeit, ich würde vielleicht Kännchen sammeln aus aller Herren Länder. Die Blumen sind frisch, wir stehen auf und überqueren die Straße vorbei an den Wartenden auf dem Limmatplatz, es riecht hier selten nach Essen fällt mir auf, vielleicht haben sie andere Lüftungen, aber es riecht immer irgendwie eher nach Wasser oder Wind und vielleicht ist das einfach stärker als stehendes Fett.

Durch den Tunnel Richtung Langstraße, ein anderes Zürich, mehr Kabel, mehr Menschen, mehr flackernde Schilder, alle ziehen etwas an Geschwindigkeit an, aber immer noch nicht laut, erst am späten Nachmittag wird gehupt und im Weg herum gestanden, meist aus Versehen, aber dann verheddern sich Autos und Spuren und das nach Hause Wollen aller. Die Tische vor der Sport Bar sind alle besetzt, dann kommt einer herein, ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt, Spanisch sprechend, nicht mehr ganz so viele Zähne, er lacht so, dass man ihn sich merkt. Der Schokoladenkuchen kommt ohne Mehl aus, noch ein Kaffee und den Blick rausgeworfen auf das gute Licht der Stunde, gleißend und doch ganz langsam setzt es sich zwischen den Ästen der Bäume hindurch auf den Asphalt und bleibt dort einfach liegen, als könne man sich alles nehmen, was man wolle. Von allem ein bisschen.

Durch die kleinen Knoten dann wieder zurück, im Krokodil gibt es spanische Spezialitäten, hinter dem Tunnel links. Auf dem Asphalt haben sie ordentlich fünfmal hintereinander das Wort Besucher in die Spur geschrieben, wir haben es jetzt verstanden, hier ist mehr Schatten. Auf dem Röntgenplatz sitzen zwei ältere Herren auf der hölzernen Sitzgelegenheit und schauen jeden an, der auf den Platz kommt, sie lächeln, ohne zu lächeln, Kinder kommen nun von der Schule nach Hause, die Beete vor den Häusern sind alle gepflegt. In manchen Erdgeschosswohnungen stapelt man, was man nicht braucht, auf dem Fensterbrett wie eine Gardine. Zum Licht kommen hier Kreidefiguren. Wenn man langsam und ohne Hast durch das Industrieviertel läuft, wird man angeschaut. Hier will niemand sein, alle wollen irgendwohin und müssen hier durch. Aus der Versicherung kommt der Mann im Anzug gelaufen und zischt „Ach scheiße“, bevor er ins Auto steigt, ich schaue ihn an und er hebt entschuldigend die Hände, beinahe hätte ich geflüstert, sag’s nochmal.

Die alten Schienen führen noch in den Bauch vom Schiffswerk, man kann dort jetzt essen unter großen Schirmen, auch hier fallen verwunderte Blicke auf einen, wenn man schlendert statt auf die Uhr zu sehen, wenn man sich nach links und rechts umdreht und sich alles genau ansieht, das scheint man hier nicht gewohnt zu sein. Im Schatten dann noch einmal zum guten Buchladen und dort ausschnaufen, die Sonne brennt, der Fluss ist heute schneller als am Dienstag, zwei Schlauchboote wackeln unter der Brücke hindurch. Dort drüben am Ufer in dem kleinen Häuschen hinter dem Spielplatz könne man sich Hamster leasen, hat N. gesagt. Die kleine Frau im weißen Kleid fragt, ob sie mir helfen könne, ich danke und sage, die Auswahl der Bücher hier sei schon Hilfe genug, sie lacht und meint: „Wenn das doch immer so einfach wäre.“ Am Dienstag liefen The National, als wir den Laden betraten, heute spielt man Bon Iver. Pour a little salt.

Zürich V

See

Am Hafen Enge gibt es diesen Streifen aus Beton im Wasser, den man über den kleinen Steg erreichen kann, vermutlich schützt er die dort liegenden Boote vor den Wellen der größeren Schiffe. Man kann darauf sitzen und herumlaufen und wenn man also sitzt und die Beine herunter hängen lässt, dann kommen bald ein paar Enten vorbei, gestern also wirklich ein Paar, die vor den Füßen desjenigen immer wieder einen Moment auf der Stelle schwimmen und herauf schauen, manchmal quaken sogar, damit man vielleicht doch ein paar Krumen wirft. Ich habe keine Krumen sondern Kuhlbrodt und Rothmann dabei, die sich gut machen neben dem Rauschen der Fontäne weiter rechts. Und irgendwann reißt die Wolkendecke auf, die Sonne schaut erst gar nicht und dann plötzlich brennt sie einem beinahe Löcher in die Haut, völlig unvermittelt. Das Ziepen in den Zellen kann man auch genießen, wie lange schafft man’s, wie lange hält man’s aus, das ist Sommer, so fühlt sich Sommer an, meistens plötzlich und blitzschnell und dann muss man einfach sitzen bleiben, sonst hat man ihn womöglich schon wieder verpasst.

Die Stockenten haben dieses blau-weiße Band an der Seite, das bei den Erpeln sofort glänzt und sich einfügt, sie schwimmen zu dieser Zeit im Prachtkleid, der Kopf ist grün, der Schnabel hell und dann noch das leuchtende Blau. Die Stockentenweibchen sind unauffälliger, aber den blauen Flügelspiegel haben sie auch, es scheint nur, eher versteckt wie ein heimlich gestochenes Tattoo, das man erst entdecken muss. Weiter rechts sitzt ein Mann, dessen Pullover zu den Köpfen der Erpel passt, er heut auf einem Ohr Musik und winkt, sobald ich in Richtung Fontäne schaue kurz, um den Blick auszuruhen und die Sätze nachklingen zu lassen. Er winkt jedes Mal, ich sehe ihn nicht an, irgendwann setzt sich jemand zwischen uns, später geht er und winkt vom Ende des Stegs noch einmal, ich sehe ihn aus dem Augenwinkel und schaue dann wieder auf die Fontäne, auf die gerade zwei in Badehose klettern und lachen, so laut lachen, wie man es nur kann, wenn man wirklich lachen muss, ohne Kontrolle und aus dem Bauch heraus, ich denke die ganze Zeit, gleich haut’s ihn weg, den einen. Aber keinen haut’s weg, sie sitzen auf dem Rand und hinter ihnen schießt das Wasser in die Höhe.

Kuhlbrodt schreibt von dem Kreuzberg, in dem ich jetzt wohne, aus einer Zeit, in der ich noch am anderen Ende der Stadt lebte, und ich versuche mich zu erinnern, wie diese Jahre waren, 2007, 2008, wo ich meine Tage verbrachte, wen ich gesehen hab. Jetzt beginnt das Alter, in dem man sortieren muss und nicht sofort sagen kann, dieses und jenes passierte dann und dann, das Leben häuft und stapelt sich vor allem nach seiner eigenen Façon, aber so muss es ja auch. Mich gruseln Menschen ja dann doch, die immer alles so ganz genau wissen, die alles ablegen und vermerkt haben. Sowieso ‚vermerkt‘, das Wort allein ist schon so ein Grund sich kurz zu schütteln, als habe man sich beim eigentlichen Erinnern vertan. Am Abend soll es Regen geben, aber der kommt nicht. Stattdessen die goldenen Laternen vor dem Dunkelblau der Stadt. In der Berthastraße fragt mich jemand nach dem Weg. Somehow, anyhow.

Zürich IV

Limmat

So sehr wie nie die Zeiten genießen, in denen nicht geredet werden muss. Zürich dabei als Ort, an dem es mir mit am leichtesten fällt, weil der Tag nur mir gehört und es keinen Plan gibt und keine Liste, nur ein Bauchgefühl und wohin die Füße tragen (wollen). Und die Abende sind gefüllt mit Menschen, mit denen man nicht reden muss, aber kann, mit denen auch Stille wie ein gutes Gespräch ist und beides nahtlos ineinander übergeht. Wenn man aus Jahren kommt, in denen man den Tag mit Kommunikation verbracht hat, schriftlich und gesprochen und beinahe auch getanzt, musst man erst wieder lernen, tagelang die Klappe zu halten, lernen das eigene Bedürfnis zu erkennen und milde mit ihm zu sein, den Lärm aussperren, um den eigenen Körper wieder hören zu können, nicht nur das Ticken des Kopfes sondern zum Beispiel, wann Hunger wirklich Hunger ist und wann Durst beginnt und wie weit man noch kann und wie weit man noch will und schlafen, einfach wenn man müde ist und wach sein, wenn man wach ist, alles ohne Zwang und endlich einmal umgedreht, nicht nur Veräußerung sondern vor allem Verinnerlichung.

Und dabei hilft, dass man hier die Gespräche nur versteht, wenn man sie verstehen will, dass es leichter fällt als daheim, abzuschalten, Stimmen nur noch als Rauschen wahrzunehmen, und trotzdem offen zu sein für jedes charmante Wort, das manchmal herausfällt. Nuancen sind hier etwas Gutes und nicht schwer. Wie der Dunst, der gestern zum ersten Mal seit den Besuchen hier über den Bergen hing. In der Sihlfeldstraße plötzlich die hohen Gewächse neben der klassischen Baumbepflanzung bemerken, die hat der Maggi gesät, Borretsch erkenne ich, den habe ich nachgeschlagen, Wegwarte auch, die sehen ja fast aus wie Kornblumen, meine liebsten als Kind. Wenn man weiß, was Sauerampfer ist, sieht man ihn auch plötzlich überall, an den langen Holztischen mit den roten Beinen sitzt am Nachmittag noch niemand, prachtvolle Stengel blühen jetzt in Lila und Pink und Beige mit roten Rändern, beinahe größer als wir. Früher verlief hier die Autobahn. Jetzt springen Kinder in den Brunnen am Bullingerplatz, vor der Apotheke steht ein Minikicker mit einem Schild. Den Ball zum Spielen könne man sich im Laden abholen. Sie haben einen Schirm aufgestellt gegen die Sonne.

Dann die zwei in dem Boot, Weidling genannt (auch das schlage ich nach später), wie sie sich flußaufwärts kämpfen, die Knie in Schoner gepackt stemmen sie sich zu zweit gegen den Steckling, der aussieht wie eine Holzgabel und mit dem sie das Boot schieben und lenken. Zwei grauhaarige Männer, vier Arme, die Strömung. Das Wasser ist flach, man sieht bis auf den Grund, mit den Bojen haben sie eine Strecke abgesteckt, es kommt nicht so richtig in flüssige Bewegung, was sie da tun, sie kämpfen und mühen sich und lachen, die Kurven müssen sie noch üben. Immer wieder bleiben Menschen am Ufer stehen und schauen ihnen zu, die Hand an der Stirn gegen die Sonne oder auch nur das Licht, wenn man schaut, steht man gerne so, dann sehen auch die anderen, dass man schaut und vielleicht nicht gestört werden will dabei. Überall fliegende Käfer.

Milchstraßensystem.

Jet

Entbündelung als Aufgabe erkennen. Nicht einmal als Entwirrung verstehen (denn es muss ja nicht alles ungeordnet und verwirrt sein, was kompakt ineinander liegt). Sondern eher als Prozess des Platz Schaffens betrachten, als Entzerrung und Setzkasten. Ein Akt für mehr Linigkeit (denn ob gerade oder gekreuzt spielt dabei erst einmal keine Rolle, es geht vor allem um den Abstand zwischen den Dingen, um Luft und Bewegungsfreiheit). Wieder (mehr, neue, andere, bestehende) Zusammenhänge identifizieren und damit die Episodenhaftigkeit abschütteln, das Würfeln abschütteln. Und sowieso weniger Sollbruch. Stattdessen: Wollbruch und Prävention.

Alles aufreihen, allem erst einmal Raum lassen und dann schauen, ob es funktioniert, allem einen einzelnen Platz zu geben (denn Platz büßt ja im Gegensatz zu Raum schon irgendwo an Dimensionalität ein und wenn man sich dafür entscheidet, dann soll es doch bitteschön passen, gut aussehen, sich so anfühlen, als wäre es keine Einbuße sondern zumindest ein Gleichbleiben, es muss ja auch nicht sofort alles messbarer Zugewinn sein, die Unveränderlichkeit von Dingen ist so rar geworden, dass man auch sie manchmal ins Museum stellen möchte, aufpieken und in einen Glaskasten legen). Jedenfalls: Allem Raum geben, dem, was war, was ist, was kommen kann. Und dann erst entscheiden, was überdauernd (und noch immer) oder überraschend neu zusammengehört. Denn Zeit vergeht, und mit ihr Perspektiven. Nichts ist ohne Arbeit gültig für immer.

Blattschnitt.

Wiese

SaÅ¡a sprach am Freitag bei der ZEIT am Ende kurz, als jemand fragte, von Heimat und Zuhause, von Ankommen und Weggehen, und ich kann ihn kaum noch zitieren, weil ich’s mir nicht direkt aufgeschrieben habe, aber schön hat’s geklungen und auf dem Weg nach Hause, als es schon richtig dunkel und nicht mehr ganz so verregnet war, da ist mir mein eigener Bezug dazu wieder ein- und beinahe zwischen die Speichen gefallen, fast hätte ich es laut gesagt, also dieses „Jawohl!“, denn solche Gedanken brauchen neuerdings immer ein wenig, um sich in mir zu setzen. (Früher hat sich in mir jede Regung als endgültiger Gedanke getarnt, mittlerweile habe ich ein Alter erreicht, in dem Nuancen als Möglichkeiten besser auszuhalten und sogar zu genießen sind und die wirklichen Gedanken, also die mit Anfang und Ende und Sitzfleisch, die brauchen länger, um aufrecht stehen und in mir herumlaufen zu können, die bauen sich erst nach und nach).

Jemand im Publikum fragte Saša also, ob er sich mit dem Dorf aus „Vor dem Fest“ auch eine neue Heimat geschrieben habe, und SaÅ¡a antwortete mit der Begegnung des Malers, der etwas gesagt habe, das auch ich vermutlich so schnell nicht vergesse: „Heimat ist, wo ich mich auskenne“. Und dann ging es um das Aneignen von Orten, also wie man sich beschäftigt damit und so immer näher rückt, wie man sich hinein gräbt in die Geschichte eines Platzes und damit auch seine gegenwärtigen Strukturen versteht, wie Wissen auch Nähe schafft und Verständnis – und da auf dem Fahrrad hab ich mir gedacht, das ist der Grund, warum ich immer diese Texte schreibe, Gefühle seziere, es ist ja so einfach, genau das ist die Erklärung. Vermutlich müsste ich jetzt darauf anstoßen oder mir etwas gönnen, ich hatte ja bisher nie eine Antwort auf die Frage, warum ich diese Bücher mache, also keine wirklich verwurzelte, man sagt dann immer, man habe Spaß daran und lügt damit nicht, aber man kämpft ja auch, also ich zumindest, mit den Zeilen und den Sachen, die man sich dann zu schreiben traut (oder eben auch nicht), und jetzt habe ich eine. Sagen wir es mal so: Ich laufe vermutlich so viel in diesen Worten herum, um all die Möglichkeiten, Begegnungen, Regungen, den menschlichen Atem, das Herz, das Hirn und vor allem Mischkalkulationen aus all dem nicht mehr ganz so unheimlich zu finden, um mich daran zu gewöhnen, auszuloten, zu versuchen und mich dann möglicherweise irgendwann auszukennen oder hier und da mindestens kurz souveräner so auszusehen. Diese Geschichten sind ein Versuch, mich bäuchlings heran zu robben. Da haben Sie’s.

Rollenware.

Wolken

An meinem Tisch sehe ich den ganzen Tag nur Füße, alle eingepackt, alle sorgsam verschnürt. Wenn die Sonne herauskommt und die Wetterberichtssprecherin gut geföhnt ist, dann kann ich sehen, wie sich morgens fünf Minuten mehr Zeit genommen wurde für den Bimsstein, man schrubbelt die Hornhaut weg, es gibt jetzt sogar elektrische Bimssteine. Sowas braucht der Großstadtmensch, er möchte sich mit dem Handgelenk keine Mühe machen, nicht schon morgens in der Dusche, deswegen kauft er Batterien für das Gerät, das leise an den Verhornungen kratzt, er kauft gleich die richtigen, da sind sich all diese Geräte ähnlich und der Großstadtmensch hat ein Auge dafür. Aber nicht auf mich, in Sichthöhe habe ich nun das Fenster abgeklebt. Wenn ich bequem sitze, sieht man nur meinen Scheitel. Wenn ich mich konzentriere, nur die Wand hinter mir, so ein Ladengeschäft wird man ja nicht los, wenn man es einmal hat, nicht einmal in der Großstadt, in die Fenster eines Ladengeschäfts schaut der vorbei eilende Großstadtmensch automatisch suchend hinein, auch etwas gelangweilt, aber niemals unvoreingenommen, niemals ohne Erwartung. So ein Schaufenster wird niemals ein Knopf sein, auf dem „Haltewunsch“ steht, den schaut niemand an, der wird nur benutzt, geschaut wird immer nur auf die Anzeigetafel, den Haltewunsch betätigt der Großstadtmensch ganz beiläufig, Hauptsache raus bald. Aber ein Ladengeschäft, da sieht er hinein, da hat er schon fünfzehn Satzanfänge für den Gedanken danach im Kopf, die von Beschwerde über Einkaufsliste bis hin zu Verwunderung reichen können, eine simple Feststellung passiert selten, die Meinung des Großstadtmenschen sitzt schon im Gedanken, bevor überhaupt gedacht wurde. Deswegen habe ich diese Folie gekauft und behutsam auf die Scheibe geklebt, bloß nicht stolpern im Auftrag, keine Rillen hinterlassen, keine Irritation, an den Rändern franst sie etwas, das macht nichts, der Rand liegt im Schatten der Hauswand. Wenn der Großstadtmensch nicht eilt sondern flaniert, sieht er nur meine Schienbeine, die Knöchel, die Füße, die Fußmatte, den Boden, den Papierkorb, die Tischbeine; die Tasche sieht er nicht, die steht auf dem Tisch, genau wie das Glas und der Stift und das Blatt und die Postkarte und die Lampe, die Lampe kann er erahnen, ich weiß, aber das macht nichts, mich ja auch. Mich kann man erahnen, aber zwischen da draußen und mir sind immer noch Staub und Glas und Folie und Luft, so viel Luft.