Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Juli, 2014

Faro VI

Garden

Töchter sprechen über ihre Mütter, Jüngere sprechen über die Älteren und in beiden Konstellationen kommt irgendwann der Punkt im Leben, den man mit diesem Blick begleitet, dem Blick schräg nach unten und an der Person vorbei, mit der man eigentlich gerade spricht, der Blick, in den bereits jedes Gewicht gelegt wird, das man später auf den Schultern hat, wenn sich umkehrt, was man nie als umkehrbar erachtete, eben diese Konstellation, dass jünger sein mal bedeutet agiler zu sein, sich mehr beieinander zu haben, dass Tochter sein mal bedeutet, die Ruhe zu geben und nicht zu nehmen, sich auszukennen, dass es soweit kommen kann und muss und dass auch schon immer so war, aber von den Ewigkeiten haben wir alle bis heute ja gar keine Ahnung. T. erzählt von ihrer Mutter, die sie holen muss, da sie dement ist, und die Schwester von T. in die Ferien fährt, sonst obliegt die Obhut der Mutter nämlich ihr.

Und nach diesem Gespräch nehme ich den Gedanken noch mit in den Tag, in einen der letzten, und ich frage mich, ob es an den ebenerdigeren Wohnungen, am Klima oder nur an meinem verschobenen Fokus liegt, dass ich hier mehr ältere Leute auf den Straßen sehe, vor den Häusern, in den Cafés. Auch sind sie meist in Gruppen anzutreffen und nicht so allein wie in deutschen Großstadtstraßen, die sich sich in völliger Isolation hinunter schleppen, obwohl um sie herum das Leben tobt. Did you order pastéis de nata? No, we didn’t, antwortet N. Oh! Die Bedienung ist beinahe entsetzt. Cause there are only three left. Do you want two? I guess, you want two. Yes, we do.

Wir fliegen am Abend. Der Tag gehört der Stadt, die hinter dem repräsentativen Viertel liegt, der Stadt mit den Hochhäusern und den vielen Balkonen, den Mülltonnen an der Straße und dem Pflaster mit den Schlieren. Aber auch hier immer wieder feststellen, das die Portugiesen in jeder Hektik weniger hektisch sind als Menschen anderswo und auch weniger laut. Im Botschaftsviertel treffen wir auf keinen einzigen Menschen, nur auf einen das leere Haus beschützenden Hund, der sich die Seele aus dem Leib bellt, während die großen, pinkfarbenen Blüten im Wind zittern.

Wir trinken Tee und Kaffee im Café King, spielen Backgammon dabei und der Wind will nochmal zeigen, was er kann, weht beinahe das Spiel davon und auch den großen Schirm, N. stößt sich am Tisch vor Schreck, aber der Italiener nebenan packt seine großen Sprüche aus. Er beschütze uns, wir brauchen uns keine Sorgen machen, sein Begleiter lacht verschämt. Und immer wieder klingelt sein Telefon. Sophia ist dran, er möchte mit Sophia einen Termin ausmachen, ja, er käme gleich vorbei. Dann zwei Minuten später klingelt es erneut. Er hebt ab. „Sophia! How beautiful. You are a stupid person.“ Wir bezahlen drei Euro und ziehen weiter zum Hafen, um noch einmal Fisch zu essen. Wichtig ist, so stellen wir fest, wenn der Tisch nicht wackelt, ist es kein gutes Restaurant.

Zum ersten mal läuft nicht Rihanna oder Shakira sondern portugiesische Musik. Der Wind ist wirklich überall, das Segeltuch über unseren Köpfen flattert so laut, und wir müssen auch hier die Teller auf das Backgammonspiel stellen, dessen Spielfläche aus einrollbarem Leder besteht und nicht aus Holz, damit es nicht davon fliegt. Ich bestelle Suppe und Salat, der Begriff ‚Salat‘ ist sehr dehnbar. Mal bekommt man Dosengemüse, mal Tomate mit Zwiebel, mal Tomate mit Gurke, heute Tomate ohne Gurke und manchmal bekommt man mit etwas Glück auch grünen Salat. Wir lassen uns Zeit, ich schließe die Augen, ich will noch nicht gehen.

Später im Flugzeug tobt auf meiner Fensterseite irgendwo über Frankreich ein Gewitter, die Wolken stehen wie dunkle Berge, dazwischen zucken Blitze. So nah, als müsste ich nur den Arm ausstrecken, um mich aufzuladen, um etwas zu spüren.

Nonhardening.

Groß Glienicker See

An den Sommer denken, den ich dieses Jahr schon hatte, denn er zieht sich und macht auch mal Pause und er und ich, wir mögen uns wirklich, er und ich und diese Regenschauer und heißen Tage, die vielen Gewitter und dann auch die Kopfschmerzen davor, von denen man weiß, wann sie vorbeigehen, der Sommer scheint beinahe zu sagen: „Schau hin, so bin ich eben und das ist nicht einmal unbeständig oder unzuverlässig, so war ich schon immer, du hast nur zum ersten Mal seit langem wieder Zeit, es wirklich merken“. An den Sommer denken, während er sich kurz ausruht und unruhig schläft. Man sagt, Tiere spüren, wenn es Menschen nicht gut geht. A. spürt das auch und nimmt meine Hand. 10 Grad besser. Von den Eisbechern sammle ich die Physalis herunter, weil ich dieses Obst und seine Verwendung noch nie verstanden habe, es bleibt immer körnig und weiter hinten etwas bitter. Unter den Bäumen der Stadt liegen und warten, bis der Kaffee abkühlt, Falten ins Hemd machen und dann das Wort „wundernehmen“ aus einer SMS klauben und mir schon denken, was es bedeutet, es aber sicherheitshalber noch einmal nachschlagen, es dann den ganzen Tag und Abend noch mit mir herumtragen wie die erste Kastanie des Herbstes. In den Seen schwimmen, die diese Stadt umgeben und immer wieder unterbrechen, schwimmen und vor allem mehr tauchen als die Jahre zuvor, feststellen dabei, dass das schönste Gefühl mitunter das Durchbrechen der Wasseroberfläche mit der Stirn ist, weil man weiß, gleich gibt es Luft, weil man sieht, gleich gibt es Licht, weil man spürt, gleich hat man’s geschafft, das ist der Beweis. Jetzt, genau jetzt. Zum ersten Mal seit langem nichts, aber auch wirklich gar nichts vom Sommer erwartet und alles bekommen.

Arteria poplitea.

Fraenkelufer

Ich werde mich erinnern an dieses Jahr als das Jahr, in dem ich lernte, wie meine wirklich guten Freunde unter ihrer Haut aussehen, in all ihren Winkeln und Ecken, mit all ihrem Blut und Sehnen und Knochen, mit all dem, für das es keinen angemessenen Namen gibt und das man vor allem einfach halten muss, obwohl man nicht genau weiß, wo es liegt, aber wenn man es hat, dann spürt man, dort muss die Hand jetzt einfach einmal bleiben, dort darf man sich nicht rühren, dort muss man verharren, damit dem anderen nichts passiert, dort wird man stehen, solange es nötig ist, und nötig ist länger als notwendig, nötig ist vor allem über den nächsten Atemzug hinaus, wirklich nötig dauert über das Defizit hinaus, über ein Auffüllen hinweg, nötig ist immer bis zu einem sicheren Vorrat, vorher geh ich nicht, keinen Schritt, und wirklich, ich habe eine Karte gemalt, um nichts zu vergessen und ich werde mich erinnern an dieses Jahr als das Jahr, in dem ich sagte „Wir bekommen das hin“ und wusste, es stimmt.

Im Anzug den Müll raus.

Berninger Brothers

Ich schrieb einmal über The National, sie wären mit keiner Geschichte verknüpft, eine von den Bands, die immer gehen, zu allem passen, vor denen ich keine Angst habe. Das stimmt nicht. Es stimmt nicht mehr. An Tagen mit aufgeschürfter Brust gehe ich ihnen mittlerweile aus dem Weg. Sie würden einfach in mich hineingreifen und ich hätte vermutlich nicht für örtliche Betäubung gesorgt, mir ist noch nie der Bauch, noch nie das Herz eingeschlafen, ich würde alles spüren.

Und bei der Premiere von „Mistaken For Strangers“ heute Abend erinnere ich mich wieder, warum ich Matt Berninger als Projektionsfläche so schätze, die Band mit ihrer Kunst. Denn ich mag Berninger nicht als Mann, ich könnte ihn vermutlich nicht ertragen, ach wer weiß das schon, ich kenne ihn einfach nur als Figur und diese Figur spielt auf der Bühne mein wütendes Herz. Mit jedem Stolpern und Krächzen und Schreien führt er den Abgrund auf, den man dann nicht mehr leben oder tragen muss, Berninger übernimmt den Drecksjob, er bringt den Müll raus, den wir vorher noch sorgsam im Zimmer verteilt haben, und er trägt einen Anzug dabei.

Ich schaffe es, den ganzen Film nicht zu heulen. Später nach dem Q&A sitzen wir beinahe allein im Kino, da kommt plötzlich ein Mädchen in unsere Reihe und sagt: „Hallo Lisa, ich wollte dir nur schnell sagen, ich mag deine Bücher und Texte so sehr. Dankeschön!“ Sie flitzt sofort wieder weg, noch bevor ich wirklich etwas sagen kann, danach ist mein Vorsatz im Eimer. Auf dem Heimweg flippe ich mit dem Fuß aus Versehen einen nassen, halben Toast übers Pflaster, der Mond leuchtet beinahe voll aus einer Seitenstraße heraus. Leave your home. Change your name. Live alone. Eat your cake.

Faro V

door

Die kleinen Dinge, die man wiederholt, machen ein fremdes Land weniger fremd. Man kennt und erkennt plötzlich etwas. Auch wenn es nur die Speisekarte einer Snackbar ist. Im Bus zum Strand sitzt vor uns die alte Dame, ihre schwarzen Haare hat sie sich über die bereits grauen gelegt und mit Haarspray und kleinen Spangen fixiert. Vor dem Aussteigen richtet sie die Gardine und nickt. Der Strand ist wieder leer, das Wochenende vorbei, in den Zwischenströmen von Insel und Festland arbeiten die Fischer und kontrollieren die Reusen. Ihre Autos stehen vor der kleinen Brücke direkt neben der Strasse, nicht auf dem Parkplatz dort, wo die Strandbesucher ihre Wagen abstellen. Weiter hinten ein kleines, zerfallenes Holzhaus. Neulich bei Ebbe watete daneben ein Mann nur in Unterhose in kniehohem Wasser und wusch sich darin. Woher plötzlich mein Bedürfnis nach Farbe und einer Leinwand kommt, weiß ich nicht. Viel Blau und Rotbraun, dazwischen kleine weiße Sprenkel. Ich hab das seit Jahren nicht gefühlt. Wenn das Wasser hoch steht, ist der Wind stärker.

Das Forum Algarve, ein riesiges Einkaufszentrum in Terrakotta. Die Dekoration davor und um das Haus herum ist für Menschen in Autos gemacht, hier kommt man direkt von der Autobahn, um in die Stadt zu fahren oder hinaus. Als Fußgänger daneben auf dem schmalen Gehsteig sieht man nur Steinmauern, laufen ist hier nicht vorgesehen. Nach dem zweiten Fußballspiel verlassen die paar Gäste ihre Sitze, die Algarve Big Band spielt auf einem leeren Platz. Morgens hört man aus dem Zimmer von T. als erstes Schniefen und Husten, danach das Piepsen des Laptops. Dann ist sie wach. Im Hof plötzlich aufgeregtes Gackern von Hühnern, aber kein Tier zu sehen. Es klingt, als säßen hunderte unter dem Tisch.

Vielleicht gibt es kaum etwas besseres als Schlafen im Zug. Ich meine, sicherlich gibt es besseres, zuhauf, aber an manchen Tagen eben nicht. Das flackernde Licht und wie die Geräusche mit dem Schließen der Augen anfangs lauter und dann erst später wieder leiser werden. Das leichte Ruckeln, die Stimmen und die Gedanken, die kommen, wenn man sie kommen lässt – stellvertretend für alles Vorbeifliegende, das man gerade nicht sehen kann. Manchmal kurz die Augen öffnen, sich vergewissern, weiterschlafen und irgendwo anders wieder aufwachen.

Am Bahnhof treffen wir S., wir kennen ihn von Weitem vom Strand und aus der Stadt. Hier lachen wir einander an und als der Zug einfährt, kommen wir ins Gespräch. Er ist aus Mailand angereist, arbeitet eigentlich als Radiologe. Es ist unser erster Tag mit grauweißen Wolken am Himmel. Später malt S. eine Schnecke in sein Notizbuch, weil ihm das englische Wort dafür nicht einfällt, gestern hatte er welche als Abendbrot. Wir verabschieden ihn in Lagos irgendwo zwischen den Touristenmassen, die einem den Weg nehmen, den man zumindest in Faro einfach spürt und nicht einmal auf der Karte suchen muss. Es scheint, als habe dieser zerwürfelte Ort alles auf Zugereiste ausgelegt, jedes Geschäft, jeden Putzlappen, jedes Wort. Man kann beobachten, wenn man es schafft ruhig zu bleiben, irgendwo im Schatten eines Balkons vielleicht: Kaufentscheidungen, Familienleben, Ehekrisen, Liebesgeschichten und wie sich Menschen etwas zu eigen machen wollen, das ihnen fremd ist, in dem sie alles dafür tun, ihr Zuhause mitzubringen, auch wenn sie genau davon wegfahren. Sie müssen auch immer alles anfassen, jeden Zaun, das 15. Kleid, das auf einem Bügel baumelt, einander. Der Strip Club heißt Aplauso.

Auf der Heimfahrt kommen plötzlich die Farben heraus. Alles, was auf dem Hinweg noch grau und vernebelt schien, ist jetzt in sattes Braun, Rot und Grün gefallen, so geht Leuchten. Zwischen den Plantagenbäumen immer wieder ältere Herren mit ihren Hunden, sie sehen dem Zug nach, die Hunde neben oder hinter sich, dann stapfen sie langsam weiter. Mittendrin steht ein graues Pferd auf einem Hügel mit aufrechtem Kopf, es bewegt sich keinen Zentimeter, zuckt nicht einmal. Als habe es all seine Sinne verloren. Und ich hab all meine wieder.

Juli, U2.

Cemetery

Vinetastraße. Sie sind zu dritt, zwei setzen sich auf die Plätze gegenüber, eine neben mich. „Haha, jetzt wo ich weiß, dass du den nicht heiratest, finde ich den cool. Das war bei B. auch so, als sie den hatte, da fand ich den nicht gut, so – ich kann’s gar nicht erklären – vielleicht unzuverlässig? Er hat ständig alles verpeilt, nix hat der hinbekommen, obwohl der eigentlich ganz okay war, also so zum Labern, völlig okay eigentlich, aber für meine Freundin, da wollte ich was anderes, die hätte ja alles machen müssen, so’n ganzes Leben, also nee echt nicht. Aber als sie sich dann getrennt hat, hab ich mit dem geredet und so und der war echt lustig, ich mein, der ist eigentlich voll okay. Aber B. wirklich, neulich da hat sie einen Chickenburger bestellt und meinte noch: Keine Currysauce, wirklich, also echt nich, keine Currysauce. Und dann sitzen wir im Auto, packen das aus und dann is da natürlich Currysauce drauf. Ruft die wirklich im Laden an und sagt: Ich will mich beschweren, ich hab gesagt, ohne Currysauce. Die hat da echt angerufen und denen das gesagt ausm Auto, als wir das gegessen haben.“

An der Schönhauser Allee eine Klassenfahrtsgruppe. Es sind so viele, es ist so eng, es ist laut und riecht nach Pubertät. Um schmale Hälse hängen riesige Digitalkameras mit Extra-Akku. „Hier kann man ja gar kein Selfie machen, geh mal kurz weg, is mir egal, wohin, aber ey, kann ich hier ein Selfie machen? Geht, oder? Warte.. Ja, geht. Willste sehen? Warte, ich mach noch eins. Moment. So. Geht. Ey, hier kann man Selfies machen!“

Alexanderplatz, die Klasse steigt aus, Studenten ein, sie sind zu fünft. Am Arm trägt sie drei Festivalbändchen und etwas mit Perlen: „Ich verstehe das nicht. M. hat immer gesagt, pass auf. Aber echt. ich hasse Geld. Ich hasse Geld wirklich. Scheiß Kapital! Nächsten Monat möchte ich mich endlich wieder vollkommen fühlen, das macht mir so ein Loch im Gehirn. Scheiß Geld. Wer hat die Fahrkarten? D.? Okay.“

Zuhause das Os zygomaticum am Waschbeckenrand, irgendetwas zwischen Empathie und Resonanz. An J. denken und wie mein Bauch heute nachgespürt hat, ob er im Schlaf noch atmet auf mir. Augenblickliche Fühler, J. ist vier Wochen alt. Sein Zeh ist so groß wie der Nagel meines kleinen Fingers.

Faro IV

Waves

Am Morgen vor dem Öffnen der Augen die Rollkoffergeräusche vor dem Fenster hören und nicht wissen, wo man ist. Aber die Wärme spüren und dann erst Sekunde für Sekunde kriecht das Wissen um den eigenen Aufenthaltsort zurück in sein Haus. Später auch das Gefühl für Zeit verlieren, es zählt nur müde sein und wach sein und worauf man Lust hat. Auf dem Boot dann die Hand in den Fahrtwind halten und denken, das mit dem Fühlen ist manchmal so ähnlich, das hinein Fassen und wie es einem entwischt, Gefühle zerzausen einem auch die Frisur. Nur an diesen bestimmten Sonntagen, da hat man manchmal Glück und einen Zipfel vom Laken, und wenn man dann in die richtige Richtung steht, bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, welches Volumen so ein Herz doch hat, man kann’s dann sogar (be)greifen für einen Moment.

Pastéis de Nata sind ausverkauft, Sonntag ist Tag der Einheimischen, heute machen sie Pause, sie sitzen und reden weniger laut, als man erwarten würde, aber sie bestellen viele Tassen Kaffee und schauen und verschränken die Hände über dem Bauch. Ich entdecke ein neues Muttermal an meiner Wade. Entstehen die irgendwann? Habe ich es vergessen? War der Winter so lang? Ich lege meine Hand darauf und versuche mir vorzustellen, es sei gar nicht da. Und schon geht das nicht mehr. N. sagt, es gibt von jedem Menschen zwei auf der Welt. Planets calling for each other.

Oma sitzt auf dem Handtuch und soll mit dem iPhone ihre Enkelin fotografieren. Stehend, im Sand liegend, im Wasser stehend, in den Wellen liegend. Die junge Frau öffnet das Programm und gibt das Handy dann ihrer Großmutter, das Telefon steckt in so einer Klapphülle, weiß mit Strass verziert. Oma hält es mit zwei Fingern, mit dem Zeigefinger der rechten Hand drückt sie auf den Auslöser. Dabei schaut sie jedes Mal sehr angestrengt, die Enkelin hingegen grinst, sie grinst solange, bis Oma den Button gefunden hat, das dauert manchmal und die Miene der jungen Frau verzieht sich nicht, sie grinst und steht und das einzige, was sich bewegt, sind ihre Haare im Wind oder das Wasser. Nach dem Auslösergeräusch löst sich ihr Gesicht und sie überprüft sofort das Bild. Jetzt lächelt Oma, aber nicht nur mit dem Mund.

Auf den Fliesen der Snackbar hüpfen bunte Delfine über gestreifte Wellen. Gezeiten sind etwas Gutes. Man liegt so herum und schläft und plötzlich, wenn man sich aufrappelt nach einigen Stunden, ist das Wasser viel näher gerückt, und genau das ist es ja eigentlich, was man sich manchmal nach dem Aufwachen wünscht, in der Stadt, meine ich, also dass das Meer direkt neben dem eigenen Kissen beginnt. In der Halbzeitpause zwischen den Spielen läuft jedes Mal Shakira. Keine Schwalben heute, dafür ein kreisender Storch. Eine ältere Dame springt beim Tor von Holland so von ihrem Platz, als wolle sie fliegen.

Faro III

50 shades of blue

C. ist 40, oder Anfang 40. Ihre Haut sieht aus wie ein frisch gegossener Teller. Sie ist klein und schmal und ihre Haare, von denen man nicht weiß, welche grau und welche blond sind, weil sie so gut zueinander passen, liegen auf ihrem Kopf wie zu einem Schläfchen. „Derzeit habe ich keine Wohnung, ich lebe als Nomadin“ sagt sie und N. und ich sind so perplex, dass wir vergessen, die richtigen, anschließenden Fragen zu stellen. Sie benutzt Begriffe wie „here and there“ and „back then“, sie besucht ihre Mutter und wir werden nicht herausfinden, wie genau sie ihren Tag verbringt, nur dass sie manchmal auch abends, wenn wir am großen Tisch sitzen und auf den Telefonen lesen und schreiben, still neben uns steht und dasselbe tut. Das einzige Mal, dass ich sie sitzen sehe, ist an diesem Abend auf der weißen Treppe, die vom Hof in die zweite Etage führt. Sie sagt etwas, das ich mir merken will und dennoch vergesse, aber ich erinnere mich genau an das Gefühl danach, in dem ich dachte: Irgendwas hat sie, irgendeinen Knick, und ich wüsste gern, woher der kommt. Einmal steht sie im Hof neben der großen Palme und wischt mit einem gelben Lappen die Drähte des Wäscheständers ab.

Der Grünstreifen vor dem ‚N Coisas‘ wird jeden Morgen von denselben Hunden besucht. N. sagt, R. könne das besonders gut, die Gedanken von Hunden lesen. Manchmal übersetze er für sie, wenn sie in Berlin einem Hund begegnen. Wir können das nicht, aber jeden Morgen kommt der kleine graue mit der lockigen Frisur und schnüffelt um den pinkfarbenen Strauch herum, danach besucht uns der schmale, dünne, der nur oben auf dem Kopf ein Büschel Haare hat und setzt ebenfalls eine Marke. So geht das mehrmals hintereinander. Jede Snackbar hat ihren eigenen, struppigen Bewacher. Ich verliebe mich alle zehn Meter neu.

Quiosque ist mein Lieblingswort. Handgeschrieben sieht es wunderschön aus, ausgesprochen auch. Später sehe ich vom Bus aus dieses riesige Plakat: Rent an emotion. Autovermietungswerbung. Auf dem Kreisverkehr kurz vor dem Flughafen stehen weiße, kastige Figuren. Mehrere Personen, die in die Luft schauen. Vielleicht aus Stein geschlagen, vielleicht aus Holz. Ihre Körperhaltungen sind so authentisch und echt, dass ich aussteigen und mich dazwischen legen möchte, ihre Blicken rühren mich so, dass ich schlucken muss, dabei haben sie nicht einmal richtige Augen.

Am Strand dann 50 shades of blue. Ich erinnere mich wieder, warum Blau meine Lieblingsfarbe geworden ist, früher war es Grün, vielleicht wird Blau es bleiben. N. sagt, in der chinesischen Medizin habe man sogar Deutungen für die Farbe von Kleidung, die man in bestimmten Zeiträumen kauft. Letztes Jahr vor allem Dunkelblau. Dieses Jahr Schwarz. Ich weiß nicht, ob ich diese Deutungen kenne möchte und bleibe innerlich lieber bei meiner ausgestreckten Hand. Manchmal, wenn ich länger in die Sonne schaue, flimmert es danach in blauen Blitzen in meinem Blickfeld, ich genieße jedes einzelne Mal. Sowieso sauge ich das Licht hier auf, als hätte ich jahrelang keines bekommen. Hinlegen, warten, warten, warten, warten, spüren, wie Schweiß sich bildet, warten, warten, warten, wie er austritt, warten, warten, wie er rinnt. In diesem Moment gibt es kaum Schöneres. Dagegen das Wasser. Strömung spüren, Wellen spüren, tauchen, nicht zu tief, aber tauchen, durch die Wellen hindurch und dazwischen. Anfangs direkt hineingehen, obwohl es arschkalt ist, einfach weiterlaufen, nicht zögern, keinen Moment, einfach laufen, das hält man schon aus, die Kälte, die Wucht. Wenn man sich nicht umdreht, ist überall Horizont.

Wenn man Regener und Cole parallel liest, vermischen sich New York und Bremen zu einem wunderlichen Brei, in dem kleine Klumpen schwimmen. Zweimal erschrecke ich über Parallelen. Die eine zum Wehrdienst und dass Verweigerer wohl zum Dilemma des Pazifisten gefragt werden, was sie täten, wenn jemand ihre Eltern mit einer Waffe bedrohen würde und sie selbst eine in der Hand hätten. Und in beiden Büchern werden Protagonisten zu gutmütigen Kümmersachen, zu Charity-Arbeit, überredet von Menschen, die ihnen irgendwie nahe stehen. Dabei haben sie dann Begegnungen, an die sie sich später erinnern. V allein kommen sie nicht auf die Idee, sich zu engagieren, das Drängen dazu übernehmen die Randfiguren für sie.

Wir essen frischen Fisch mit Zitrone und viel Knoblauch, die Sonne steht tief. Als wir zum Bus gehen, steht hinter der Brücke ein alter Fischer allein in seinen Gummischuhen, er fängt nichts, die Strömung ist schnell. Im Bus dann Halbstarke. Der eine hängt sich ein Handtuch über den Kopf, während er ganz laut über sein Handy Guns N‘ Roses hört. Runterkommen mit Axl Rose. Ich erkläre N. den Unterschied zwischen ‚Trottel‘ und ‚Tollpatsch‘. Der erste vergeigt’s mit dem Kopf, der zweite mit dem Körper. Im Quiosque kaufen wir Schokolade, spielen dann Backgammon im Hof. Die Wangen glühen nach.

Faro II

Faro

Ankommen ist immer anders, es gibt kein Rezept und keinen Plan, ankommen muss man eben können, man muss in der Lage sein zu sehen und aufzunehmen und einen Platz finden und dann erst, dann kann man ankommen, also sich zurücklehnen und da sein, man kann nicht sagen, dass es dauert, sowas geht manchmal ganz schnell, das ist auch so eine Sache, die ist von Ort und Mensch und Zeit und Blutdruck und Wetter abhängig, von dem, was man daheim gelassen hat und was vielleicht nicht, ankommen kann man nicht lernen, aber trotzdem besser werden darin. Ankommen ist immer auch ein bisschen Zufall und Glück.

Im Schatten ist es frisch, wir bestellen in einem kleinen Café frischen Saft, Pastéis de Nata, Sandwiches und Galão, der Wind fegt alles, was man nicht festhält, vom Tisch. Es ist ein guter Platz da auf der Avenida da República. Das ‚N Coisas‘ ist relativ neu, eines dieser Cafés, deren Besitzer glauben, man müsse viel Glas, Kunstleder und Dekorationsartikel verwenden, um modern und neu zu sein. Der Name bedeutet ‚1000 Sachen‘ und der Kaffee ist sehr gut. Dass die Bedienungen sich an uns erinnern werden, wissen wir noch nicht, aber die Einheimischen kommen auch hierher, vor allem die älteren, wir mögen das. Wir sitzen und frieren und schauen den Busfahrern zu, die hier Pause machen und sich die Krawatten lösen, denn gegenüber ist das Hotel Eva und im Hotel Eva ist ein riesiges Loch, in das permanent Busse fahren. Das Hotel Eva scheint die Menschen auszuspucken und die Busse zu verdauen, denn irgendwie fahren alle immer nur hinein und nie ein Bus hinaus. Ich kaufe einen Ring im Crazy Shop, und Sonnencreme.

Manchmal liegt ein Rauschen in der Luft, wenn man durch die schmalen Gassen der Altstadt läuft, das ist dann nicht das Meer sondern ein tief fliegender Storch, sie nisten überall auf den Kirchen und klappern laut mit den Schnäbeln. In der Rua Batista Pinto steht N. vor einem Haus, das gerade renoviert wird, und schaut hinein, sie dreht sich um, ich warte auf der anderen Straßenseite, sie grinst. Einer der Bauarbeiter hat sie bemerkt und bittet uns hinein, er kann kein Englisch, aber er führt uns durch die hohen Räume, als gehörten sie ihm, zurückhaltend, aber stolz. Auf Holzplanken laufen wir über die Baustelle, an allen Ecken und Enden verputzen sie die Vergangenheit, säubern und restaurieren. Seine Kollegen fragen vermutlich, wer wir sind, was wir wollen, er spricht mit beruhigender Stimme und wiegelt sie ab, in jedem Raum wieder. Wir klettern über eine Treppe auch in die zweite Etage, überall sitzen Männer mit Helmen zwischen Zementsäcken und morschen Türrahmen aus dem Jahr 1878. Ein Hostel soll es werden, und ich bekomme Gänsehaut.

In der Rua da Porta Nova dann die zwei grau melierten Herren auf der Steinbank, zwischen ihnen mit weißer Farbe „No comment“ geschrieben, sie sitzen dort zurückgelehnt und unterhalten sich, pinkfarbene Blüten hängen wie ein Wasserfall über ihnen, die Tür daneben steht offen und wieder gehen wir nach kurzem Zögern einfach hinein. Dahinter ein Raum voller Staub und Fliesen, Kartons voller Kacheln und der riesige Schreibtisch des Besitzers, auf dem sich das Papier stapelt, Notizbücher, Rechnungen, Zettel. Die fünf Minuten, die wir allein im Laden sind, bevor eine Touristengruppe einfällt, sind ruhig und kühl. Vor den kleinen Holzhäusern, wo die Boote zu den Inseln ablegen, liegt ein dicker Hund und schläft. Ein Katzenbaby hat sich auf den Lenker eines Mofas gegen die Windschutzscheibe gelegt und beobachtet uns. Wind, Wasser und Plakatreste haben große Figuren und Monster auf die hellen Steinmauern in der ganzen Stadt gemalt. Wenn ein Haus leer steht, werden alle Türen und Fenster zugemauert, ich erschrecke ständig davor. Manchmal wird ein kleiner Spalt offen gelassen, der ein Vorhängeschloss freigibt. Keine romantischen Gründe.

Wir laufen, bis wir nicht mehr laufen können. Wir verlaufen uns, bis wir uns nicht weiter verlaufen können und den Kreis erkennen, den man in Faro automatisch geht, wenn man nicht aufpasst, man kommt immer zum Hafen zurück. Ich beobachte den alten Herren, der die beiden Jungs von der Schule abholt. Die Kinder zeigen noch aufgeregt auf die Störche, ihn kostet das nicht einmal einen Augenblick. Für zwei kleine Bier bezahlt man auf dem Platz zusammen 2,40 Euro. Dort schauen sie alle die Weltmeisterschaft, die Portugiesen, ein paar Touristen, die Schüler, die schon frei haben, und die Männer, die Pause machen dürfen. Die Älteren sitzen im Schatten, die Jüngeren tanzen bei jedem Tor auf den roten Stühlen des Biersponsors. Wir kaufen Churros, der Zucker klebt in den Mundwinkeln, über uns kreisen aufgeregt die Schwalben. Portugal fliegt raus, aber man merkt es den Menschen nicht an, kein Gezeter, keine Tränen, sie machen einfach weiter, gehen heim, essen Abendbrot. Nachts flattert die Plastikfolie, die T. als Sichtschutz an die unteren Fensterscheiben geklebt hat, wie ein Segel. Ich träume, dass K. den spanischen König heiratet. Meine Haut ist so warm. Ankommen dauert einen Moment.

Faro I

Farotiles

Es regnet in Berlin, es regnet so sehr, dass man denkt „Jetzt kann ich ja auch gehen“ und das in so einem leicht bockigen Unterton, also ich meine, wenn es Untertöne gibt beim Denken. Ich radle zum Buchladen, kaufe Teju Cole und Sven Regener. Regener eigentlich nur, weil’s so dick ist und ich doch so schnell lese im Urlaub, das weiß ich mittlerweile und das Schlimmste ist, wenn man sich zügeln muss aus Angst, dann nach zwei Tagen dazuliegen und nicht lesen zu können. Der Buchhändler hat soeben eine grüne Trillerpfeife von jemandem geschenkt bekommen, und ich schreibe „jemandem“, weil ich vergessen habe, welchen Begriff er verwendet hat, irgendjemand, der regelmäßig zu ihm kommt und mit dem er geschäftlich zu tun hat. Auch wieder so etwas, ich betrete diesen Buchladen, vor dem ich schon so oft stand, heute zum ersten Mal. „Die schicken öfter mal was, Aufkleber, Postkarten, Sie wissen schon… Aber die Trillerpfeifenidee ist neu“ sagt er und bläst in die kleine grüne Pfeife. „Möchten Sie eine Trillerpfeife?“, er betont das ‚Sie‘ in dem Satz, er hält mir die Pfeife entgegen, ich verneine, aber bedanke mich, wir überlegen kurz, wem man die Pfeife schenken könnte, denn er hat ja nun wirklich keine Verwendung dafür, Kinder, nein, das wäre unfair den Eltern und Nachbarn gegenüber, den Eltern die Pfeife schenken vielleicht, nein, das wäre noch unfairer. Vielleicht, so verbleiben wir, kommt heute noch jemand passendes in den Laden. Er gibt mir eine Plastiktüte für den Weg, „Ihre Jackentaschen sind ja zu klein, nicht wahr“, ja, meine Jackentaschen sind zu klein.

N. hat Angst, dass wir zu früh am Flughafen sind. Ich habe Angst, dass wir zu spät kommen. Damit könnte man jetzt eigentlich einen Roman beginnen und die zwei Charaktere loserzählen, aber das tun wir ja nicht, wir machen ja Urlaub, wir schreiben keinen Roman, jedenfalls nicht jetzt. Wir sind pünktlich, das kann man sagen, und treffen am Flughafen mit dieser stillen Hibbeligkeit ein, die früher noch eine laute Hibbeligkeit war und nun im Daumennagelhautkauen endet. Wir sind jedenfalls so früh, dass wir es schaffen, Verpflegung zu besorgen und sie so an uns zu befestigen, dass wir nur ein Handgepäckstück haben und trotzdem Wasser und Lebensmittel und etwas zu lesen und Kopfhörer und einen Schal und einen Pullover.

Wir bekommen noch einen Sitzplatz im Wartebereich des Gates. Ich habe keinen Computer dabei und übe das Tippen auf dem quergelegten Handy, das ist fummeliger als die Playstation, deren Controller mich auch immer sehr herausfordert, aber die Autokorrektur hat gute Laune und schon nach ein paar Zeilen werde ich besser. Die Menschen sprechen miteinander, die meisten hier haben einen Urlaub vor sich, glaube ich. Die ältere Dame neben mir zischt ein „Pssscht“ in alle Richtungen, weil sie die Durchsage der Flughafenmitarbeiter nicht versteht, ich erkläre ihr, dass sie nichts verpasst hat und auf ihre aufgeregte Frage, wer wann das Flugzeug besteigen dürfe, antworte ich, wir dürfen alle gemeinsam einsteigen. Plötzlich ist sie wieder freundlich und schaut aus dem Fenster. Als wir zum Flugzeug gehen, hat es aufgehört zu regnen und N. summt leise „Guantanamera“.

„Oh hallo!“ sagt der Flugbegleiter etwas überrascht ins Mikrofon und erklärt die Situation. Die Fluglotsen in Frankreich streiken. Das Flugzeug steht also noch eine Stunde in Schönefeld herum, wir sitzen darin und lesen. Es gibt Wasser aus durchsichtigen Plastikbechern. Das Wasser ist umsonst, das sorgt beinahe für helle Aufregung im Flugzeug, „denn bei Easy Jet ist ja wenig umsonst, da muss man ja beinahe noch fürs Reden dürfen bezahlen“. Die Flugbegleiterinnen tragen die Wasserbecher auf einem durchsichtigen Tablett durch den Gang, wie schön es wäre, wenn jetzt eine Tanzemariechenparade durch den Gang käme oder jemand vom Zirkus, also eigentlich wäre das ziemlich schrecklich, aber die Reaktionen wären so schön, wie all jene gucken würden, die eigentlich genervt sind ob des Wartens, sich aber die Genervtheit noch nicht ganz erlauben, weil sie ja jetzt in den Urlaub fahren und am Anfang des Urlaubs hat man sich ja gefälligst zu freuen und schließlich gibt es ja Wasser umsonst, also bitte. Aber es gibt keine Parade. Immer wenn Flugbegleiter die Schwimmweste mit der Pfeife erklären, muss ich unweigerlich an Titanic denken, an die Szene, in der sie alle im Wasser schwimmen und es irgendwo leise trötet. Es ist Trillerpfeifentag, N. sitzt am Fenster und lacht, der Platz zwischen uns ist frei. Jetzt regnet es wieder.

Um 18:23 Uhr gibt es eine Durchsage vom Kapitän. Wir fliegen über Paris und den Charles-de-Gaulle mit seinen vier Landebahnen, alle Köpfe neigen sich, die Hälfte sieht nichts. Im Gang des Flugzeugs spielen Kinder mit Eimern und Schaufeln. Ich habe die Dummy mit dem Titelthema „Abenteuer“ fertig gelesen, kann jetzt also losgehen. Ein junger Mann sitzt neben uns, dazwischen liegt noch der Gang. Er hat sich ein Glas Kokosöl mitgebracht und löffelt davon mit einem Umrührstäbchen mehrere Portionen in seinen Beutelkaffee. Beutelkaffee ist Kaffee, den man wie Tee aufgießt. Hier oben ist es still, die Sonne scheint. Ich erkläre N., was das Wort „rumpeln“ bedeutet.

Teju Cole im Flugzeug zu lesen, die ersten Seiten der Streifzüge seines Protagonisten durch New York, ist fast, als flöge ich direkt dorthin. Ob das am Strand immer noch da sein wird, das Gefühl, das er jetzt hinbekommt in mir? Das Flugzeugklo stinkt. Eine Familie hat extra einen kleinen Toilettensitz für die Kinder dabei. Alle 30 Minuten holt Papa das Ding aus der grünen Plastiktüte, das er im Gepäckablagefach über sich verstaut hat, und schleppt es samt Kind aufs Klo. Danach wieder einpacken und verstauen, also nur den Deckel. Sind Reisen nicht auch Zeiten, in denen Dinge mal anders sein sollten als Zuhause? Der Kokosölmann programmiert eine Website auf dem Laptop, seine Freundin schläft auf zwei Sitzen. Als er vor dem Start einnickte und sein Kopf nach hinten fiel, faltete sich seine Hinterkopfhaut zu kleinen Rollen an der Kopfstütze zusammen.

In Faro bekommen wir eine Willkommenszeremonie, die örtliche Feuerwehr wäscht das Flugzeug mit einem großen Spritzauto, wir fahren direkt durch den Strahl zum Gate. Die Prozedur wird von einem Regenbogen dekoriert. Wieder sieht die Hälfte der Leute nichts, das ist dann schon dieses Touristendilemma, man hat immer Angst, dass man was verpasst oder falsch steht, den falschen Ausgang nimmt, sich die falsche Uhrzeit gemerkt hat, dass man dies, dass man das. Ein Regenbogen jedenfalls, ein portugiesischer. Es riecht sofort nach Urlaub, als wir aus dem Flugzeug treten, die Luft ist feuchter, die Sonne wärmer, das Licht so grell, dass ich die Augen zusammenkneife. Das ist hier schöner als Zuhause, das Augen zusammenkneifen, bilde ich mir ein. Der erste Taxifahrer erklärt uns sofort ungefragt und freundlich den Bus, er versucht nicht einmal uns zu einer Taxifahrt zu überreden, sondern grinst nur breit. Das Licht so golden, ich kann es gar nicht anders sagen, wir sitzen auf der Bank und gucken in den Himmel, davor die gewellten Dächer des Flughafengeländes, dahinter irgendwo Palmen. Im Bus läuft die Klimaanlage. Neben dem Jumbo Supermarkt tanzen Schülerinnen in roten T-Shirts einem HipHopper auf einer großen Bühne hinterher. Das große Ding daneben ist das Einkaufszentrum, aber das wissen wir noch nicht.

Wir wohnen in einem Haus, dessen Fliesen an der Außenwand wir fotografieren, bevor wir wissen, dass wir in diesem Haus wohnen. Darin lebt T., der man ansieht, dass sie viel gesehen hat, vielleicht ist das nicht gut ausgedrückt, das klingt ja so nach Furchen und Augenringen, aber ich meine eher die Geschichten im Ganzen ohne Wertung. Sie serviert uns Minizwieback und Feigenmarmelade am großen Holztisch im Wohnraum des Hauses, von dem der Flur, die Küche, der kleine Hof und ein Rumpelzimmer abgehen. Wir sind vom Flug so müde und von dem schönen Haus so geplättet, dass wir nur ganz still sitzen und zuhören. Ich starre permanent auf ihre Hände, T. hat nebenan ein Atelier und arbeitet mit Keramik.

Später stehen wir mit in den Nacken gelegten Köpfen vor dem Arco da Vila, auf dessen Türmchen Störche nisten. Die Kakerlake im Bad taufen wir Gimmie und entlassen sie mit Hilfe eines Glases und eines Zugfahrplans in den zweiten, kleinen Hof. Dass T. ihn am liebsten sofort zerstampft hätte, wäre sie dabei gewesen, wissen wir auch noch nicht.