Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Tag: Corona

Fast 500

Bis jetzt sind es in Deutschland über 19.000 Menschen, die an Corona gestorben sind. Die meisten von ihnen vermutlich allein. An vielen hängt eine Familie, vielleicht Freunde, manchen hinterlassen niemanden, aber dennoch ein Leben. Es macht mich in diesen Tagen abwechselnd sprachlos und in dem Sinne wütend, dass mir die Wut in die Glieder fährt. Eventuell kotze ich dem nächsten, der mir sagt, wir hätten doch noch genügend freie Intensivbetten, einfach vor die Füße. Vielleicht auf die Schuhe. Vielleicht auf den Pullover. Ich will immer sagen, die sollen auch frei bleiben, du willst da nicht hin, Kollege, du willst da wirklich nicht hin, denn wenn du da bist, dann ist es scheiße, nicht nur für dich, sondern für alle Beteiligten, wenn du da bist, ist die Kacke richtig am Dampfen, wenn du da liegst, siehst du das vermutlich anders, aber dann ist es zu spät, denn dann ist dein Bett nicht mehr frei. Mir geht es um den einen Millimeter den man die Seele weiter bewegen muss, aus sich selbst heraus an den Punkt, wo sie das Drumherum berühren kann, dort fühlt man, dass es nicht immer nur um einen selbst geht.

Die Geschichten der Kranken und Sterbenden und Toten werden selten erzählt. Denn die, die sie erzählen könnten, die haben keine Lobby, sondern etwas zu tun. Die versorgen, pflegen, operieren, die sind müde, die können nicht geradeaus gucken, die müssen irgendwie durchhalten, oder sie trauern. Und können dann eben in den meisten Fällen nicht einfach einen erfolgreichen Aufmacher schreiben, der auch noch hübsch bebildert und gut bezahlt ist. Die haben keine Kraft und keinen Nerv für sorgsam aufbereitete Tweets, Anträge, Gespräche, Hotlines, Pitches, die haben kein Publikum, und man stelle sich allein die Ruhe vor, die es braucht, um sich hinzusetzen und die Überwindung zu finden, das Innerste nach Außen zu kehren. Und die, die das gerade können, diejenigen, die Kapazitäten haben, die haben da mitunter eine Extraportion Energie und Lautstärke gefunden, die nicht alle geschickt bekommen. Es schreiben ja nur die, die gerade wirklich können. Und das sind nicht viele.

Is richtig, liest ja auch keiner gern, solche Geschichten. Ist unangenehm. Von Trauernden wendet man sich ab, weil sie einem zeigen, was sein könnte. Weil es weh tut zu sehen, dass jemand aushalten muss, was kaum auszuhalten ist, während man selbst dann auch noch aushalten muss, dass man nichts daran ändern kann. Das ist die schwerste aller Begleitungen. Aber die, die sich viele wünschen. Die, die anerkennt, wie schlimm und scheiße das ist. Die, die neben einem sitzen bleibt ohne auf die Uhr zu sehen. Die, die nicht versucht, das, was ist, zu ändern. Die, die nicht fragt: „Ist’s jetzt vorbei? Können wir weitermachen?“

Diese Geschichten sind oft die, bei denen man sich sagt „Ja, das müsste ich mal lesen, mach ich am Wochenende“ und sie auf den Stapel legt und irgendwann wegwirft. Weil es einem zwischen die Rippen zischen würde, sich zu jeder Ziffer ein Gesicht vorzustellen und einen Namen und ein Bett und ein Umfeld und Wunschlisten und Sockenpaare und Unverträglichkeiten und Sofakissen und eine Cornflakesschüssel und Zimmerpflanzen und Haargummis und Streitereien und Lieblingsbücher und Kühlschränke und Profilbilder und Wollmützen und große und kleine Lieben und Schluckauf.

Was schwer zu erzählen ist

Ich schwanke hin und her zwischen „Ich behalte es bei mir und mache es mit meiner Familie aus“ und „Ich erzähle es, denn dieses Virus ist nicht unsichtbar, es betrifft Menschen“. Mein Großvater hat Corona. Ich hatte es geahnt, als wir letzte Woche telefonierten, er klang schwächer als sonst, viel schwächer, man hörte es in seiner Stimme, welche Probleme er beim Atmen hat, er war verwirrter. Ich dachte erst, es könne auch die Depression sein, die sich jeden Winter immer breit macht, die seinen Körper dann meistens auch mitnimmt, ich hatte es gehofft (aber auch das zu schreiben fühlt sich bescheuert an, als gäbe es ein besser oder schlechter, das tut es nicht), ich hatte es gehofft, denn wir kennen sie schon und wir haben sie akzeptiert, zumindest wir haben gelernt, damit zu leben, mal besser, mal schlechter. Wir waren darauf eingestellt. Auf das, was nun ist, sind wir nicht vorbereitet.

Seit März denke ich den Gedanken immer mal wieder: Was ist, wenn er krank wird? Die Situation in den Pflegeheimen ist schwierig, das Personal knapp. Ich vertraue dem Personal in dem Heim, in dem Opa lebt. Die Menschen dort arbeiten hart. Sie setzen sich dem Risiko aus. Sie halten durch. Sie machen ihren Job, so gut sie können. Das System und die Gesellschaft unterstützen sie nicht dabei und sie machen es trotzdem. Jede_r von ihnen hat ein Leben zuhause, zu dem sie zurückkehren nach jedem Arbeitstag. Ein Leben, das trotzdem funktionieren muss. Ein Leben, das darunter leidet.

Wir leben in einer Pandemie. Es gibt keine 100%ige Sicherheit und es gibt keine 100%ige Kontrolle. Es gibt Möglichkeiten und Maßnahmen, die auch in dem Pflegeheim vom Opa ergriffen wurden, nun ist es trotzdem passiert. Er schläft viel, Fieber hat er keines, er kann schlecht atmen, er vergisst das meiste, hat starke Probleme sich zu artikulieren, sein Geschmack hat sich verändert, er erkennt viele Dinge in seinem Zimmer nicht mehr. Das hatte ich schon letzte Woche wahrgenommen, aber versucht, mich zu beruhigen, Möglichkeiten durchzuspielen und etwaige Handlungsstrategien auszuloten. Was nun ist, ist, dass man nichts tun kann. Außer anrufen. Jeden Tag anrufen. Wenn ein Mensch jedoch Demenz hat, vergisst er, dass er gerade telefoniert hat. Für ihn fühlt es sich an, als hätte ewig niemand angerufen. Nach ihm gefragt.

Was mir das Herz bricht, ist der Gedanke daran, dass die Menschen dort seit März niemanden umarmt haben. Sie haben ihre Familien nur auf Abstand gesehen, auf den Zimmern wenn überhaupt nur in voller Montur. Sie haben im März mal drei Wochen nur auf ihren Zimmern verbracht, als es im Heim die ersten Fälle gab. Nichts ist undurchlässig, es ist wieder passiert. Und das Pflegepersonal arbeitet sich den Arsch ab, im Frühling wurde applaudiert, jetzt ist dieser Applaus verstummt. Denn für die einen ist das Virus abstrakter geworden, weil es nicht mehr neu ist, eine Gewöhnung ist eingetreten, manche sind abgestumpft, manche haben noch nie daran geglaubt, manche haben es vergessen.

Viele Menschen in den Alten- und Pflegeheimen hatten im Sommer Angst, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen, mal wieder rauszugehen, und sei es nur für einen Spaziergang, weil diese diffuse Gefahr größer war als der Wunsch eine Runde um den Block zu gehen. Das beklemmende Gefühl davon, dass es da etwas gibt, das sie bedroht. Dass sie nicht wissen, wer von den anderen Leuten auf der Straße, im Laden, um die Ecke, im Park eventuell gefährlich sein könnte für sie. Diese unterschwellige, ständig klopfende Angst, das habe ich in mehreren Gesprächen mitbekommen, addierte sich zu der sowieso bestehenden Angst vor dem Sterben. Nicht vor dem Tod, aber vor dem Sterben. Vor Schmerzen. Vor noch größerer Einsamkeit.

Berührung und Nähe sind seit März zu großen Teilen aus den Alten- und Pflegeheimen gewichen (wenn es sie vorher gab, das ist die Voraussetzung). Man steht vor dem unlösbaren Dilemma der Frage: Lässt man Nähe zu für den Moment, für Körpergefühl, Wohlbefinden, Dopamin, Oxytocin, für das Gefühl von Zugehörigkeit und das vegetative Nervensystem? Oder bleibt man in der Distanz, um das Leben zu verlängern, um jemanden nicht einem gefährlichen Virus auszusetzen und eine Kette an Dingen auszulösen, die schlimme Folgen haben für die Person und das System? Es gibt kein besser oder schlechter in diesem Fall. Die Vorstellung, dass viele Menschen seit einem halben Jahr noch mehr als sowieso schon auf sich selbst zurückgeworfen sind, dass ihnen jegliche Berührung abhanden gekommen ist, dass sie einsam leben und vielleicht sterben, bringt mein Herz zum Platzen. Und meinem Großvater geht es gerade genauso. Er versteht nicht richtig, was da gerade los ist mit ihm. Aber durchs Telefon klingt es furchtbar.

Und ich glaube, dass man diese Geschichten erzählen muss, obwohl es weh tut, obwohl man sich von innen nach außen gekrempelt vorkommt, andersrum voyeristisch, wenn man das so öffentlich macht. Aber es geht hier nicht um Mitleid (die Menschen in meiner Familie und Wahlfamilie sind füreinander da, keine Sorge). Es geht mir darum, dass Menschen ihre Masken tragen (ich bin so wütend, die ganze Zeit schon, aber jetzt noch mehr, mein Großvater schafft es, eine Maske richtig aufzusetzen, warum schaffen es so viele nicht?), sich die Hände desinfizieren, dass sie es leichter machen für die, die es eh schon schwer haben, dass sie aufpassen aufeinander, dass sie Abstand halten, wo es geht, und nah sind, wo es nötig ist, dass sie hören, dass dieses Virus Menschen trifft, die von irgendjemand anderem geliebt werden, die jemanden lieben, Menschen, die leben wollen und sich das nicht ausgesucht haben, was hier gerade passiert.

Divergence underneath

D. holt mich ab. Das Mietauto hat eine interessante Farbe. D. nennt sie Magen-Darm-Metallic. Unterwegs treffen wir ein Auto im Farbton Aperolkotze. Diese Neuwagen mit den vielen Knubbeln und Kanten, die aufgepustet sind an so vielen Stellen, „als hätten sie eine Haselnussallergie“. Die Anzeige plärrt, weil sie denkt, die Tasche auf dem Rücksitz sei ein Mensch. Die dazugehörige Stimme weist uns zudem immer wieder darauf hin, doch auf die Umgebung zu achten. Die Tankstellen sind gruselig leer, die Sanifair-Schranken abgebaut, zwei Kinder stehen ratlos auf dem kleinen Gelände herum, das ein Spielplatz sein soll. Wir sitzen und trinken Kaffee aus Styroporbechern, der Himmel blendet, obwohl er nur aus Wolken besteht. Die meisten Menschen, die vom Berg kommen, haben ein gnietschiges Gesicht, die wenigsten reden. Wir laufen und klettern und sagen ständig sowas wie „Ach“ oder „Hach“, wir begrüßen uns fremde Menschen, das macht D. sonst eigentlich nur bei Hunden, hier sind wir die Vergnügten. Als wir oben an den Schrammsteinen stehen und mir der Schweiß in Sturzbächen vom Körper rinnt, die Leitern riechen dort so stark metallisch, ich vermute, weil so viele Menschen auf ihnen herumrutschen, kommt das Gefühl zurück, das ich das letzte Mal auf La Gomera hatte oben auf dem Berg, als würde alles für einen Moment aussetzen, als hätte sich irgendwas gelohnt, von dem man nicht weiß, was es ist, es ist, als läge ich in genau diesem Moment gleichzeitig mit dem Rücken auf dem Boden, so, dass nichts mehr dazwischen passt, als gäbe es keine Lücke, nichts, das wackelt, es ist wie Ruhe, aber anders, weil es nicht still ist, nicht bewegungslos, sondern in Wellen kommt und geht. Ich habe die genaue Seite vergessen, aber am Abend lese ich diese Stelle in Nadja Spiegelmans Buch, in der sie beschreibt, wie sie auf der Beerdigung nicht den Großvater beweint, den sie hatte, sondern den, den sie gern gehabt hätte, und ich verstehe etwas mehr von all dem, was sich in mir zusammengeknotet hat über die Jahre wie diese Bälle aus Schnipsgummis. Als wir zurückfahren Richtung Stadt, begegnen wir einem Mann, der einen Kopfsalat spazieren fährt wie einen Hund. Morgens steht die Uhr auf 20er Chicken McNuggets. Auf dem Fristo-Getränkeparkplatz wird niemand Lyriker.

„Sillage, dachte ich. Es war ein französisches Wort, das ich erst kürzlich gelernt hatte. Es hatte einen wunderschönen Klang, see-yaj. Ursprünglich bezeichnete ich das Kielwasser, das sich hinter Booten im Wasser bildet. Gleichzeitig konnte es aber auch jenes Phänomen beschreiben, bei dem das Parfüm eines Menschen in der Luft bleibt, nachdem sein Träger bereits den Raum verlassen hat. Ich roch noch einmal an dem Fläschchen, doch der Geruch hatte sich bereits verflüchtigt. Es blieb nicht mehr viel von meinem Großvater, auf das ich meine Vergebung hätte projizieren können, und vielleicht, so vermutete ich in diesem Moment, war das hier alles, was ich jemals finden würde: ein Kräuseln des Wassers, ein Duft, der sich einen Moment später verflüchtigt.“ (Nadja Spiegelman, „Was nie geschehen ist“)

I have a thing for women sitting by an open window, smoking.
I have a thing for people running down the sidewalk because they`re in a hurry.
I have a thing for flowers dramatically leaning over the edges of their flower pots.

„Wohlstand zeigt sich in Dingen, die leicht kaputtgehen und schwer zu reinigen sind“, schreibt Anthony Marra in „Letztes Lied einer vergangenen Welt“. In der Eifel hört man am Morgen die Kühe und am Abend die Schafe. Alle leben im Schatten, es riecht überall nach Lavendel. Wir üben fallen nach Anleitung. Ich übe noch mehr, darunter: Frischluft als Strategie, und Raum machen für alles, was ohne mich passiert. In der Bahn ruft eine junge Frau in ihr Telefon: „Junge, geh mir nich auffen Pinsel.“ Ich schlafe hier so tief.

Manchmal synchronisiert sich das Wetter sehr pathetisch mit Gesagtem, und mittlerweile lasse ich jede sarkastische Bemerkung, jede Beschwichtigung und schaue nur zu, grinsend, so wie man lustige Namen auf Grabsteinen bemerkt und in der kurzen Berührung mit etwas Fremden verharrt, ohne sie wegzuwischen. Das nicht als Zeichen sehen, sondern als schönen Zufall. Weich bleiben.

Die Idee einer neuen Wohnung ist geplatzt und ich finde mich wieder in die zurück, die mich schon ein paar Jahre begleitet. Aber es ist beklemmend daran zu denken, dass dieser Winter auch so einer werden wird, den ich hier verbringe, tagelang, und ich überlege noch, wie eine Lösung aussehen könnte, diese Wohnung dem Zustand, den Umständen anzupassen, mich neu anzufreunden mit ihr, man kann sie ja so schlecht an der Hand nehmen und sagen, komm, wir rennen und schreien, damit wir danach wieder im Frieden miteinander sind. Ich suche noch, was es sein kann, das uns wieder aneinander rücken lässt.

Opa ist wütend. Seine Freundin hat vor zwei Tagen eine Fliege getötet. Opa kann das nicht abstrahieren. Für ihn steht das für alles. Für die beiden, für sie, für sich, in den Tagen, die er erlebt, trennt man nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig. Er sitzt dann da und will nicht sprechen, er stützt den Kopf in die linke Hand und erklärt ihr, dass die Kante am Tisch schräg ist und ihr Sektglas dort abrutschen kann, er nimmt ihr das Sektglas aus der Hand und stellt es weiter von der Kante weg, dann schweigt er wieder. Alles ist gleich viel wert in seiner Zeit, weil alles das letzte ist, was es gibt.

Als ich mit M. und N. auf dem Balkon sitze und es langsam dunkel wird, legen wir alle den Kopf in den Nacken, die Kinder auch. Dann ruft J.: Der Himmel sieht aus wie eine Armee.

Dieser Sommer rinnt so schnell und ich habe das Meer noch nicht gesehen.

Rollsplit

Gordi singt, während vor meinem Fenster das Wasser vom Himmel fällt, als ginge es um was. Alle Fenster auf und sich mittenrein stellen. Ich merke, das ist eines dieser Dinge, die mir in den letzten drei bis vier Monaten immer mehr fehlen, das sich mittenrein stellen, weil alles so mit Vorsicht belegt ist und Zweifeln und Verantwortung, aber mir fehlt der situative Überschwang, ich brauche das nicht ständig, nicht mehr so wie früher, aber es gibt diesen Moment im Bauch, den man meistens erst hinterher realisiert, in dem man sich entscheidet vollkommen loszulassen, in dem es nicht knackt, sondern rollt, der Fuckitmoment, der Isallesegalmoment, ich vermisse dieses Gefühl wie jemanden, der gerade erst weggezogen ist und von dem man sich einredet, dass man ihn ja noch gar nicht vermissen kann, weil man sich vorgestern ja erst gesehen und angemessen verabschiedet hat und sowieso sei man doch jetzt erwachsen und man könne sich ja anrufen und schreiben, aber für manche Begegnung gibt es kein Substitut und für den Jetztoderniemoment eben auch nicht. (And I am lying about leaking here.)

Es ist ein guter Tag. Ich weiß das schon, als ich ihn von weitem auf der Bank sitzen sehe, er hat sich eine kurze Hose angezogen, seine Hemden sind ihm mittlerweile viel zu lang. Aber heute sind seine Augen wacher, heute benutzt er seine Hände beim Reden, er schaut sich um und sieht nicht aus, als würde er jede Sekunde einschlafen, er isst die Erdbeeren, die ich ihm mitgebracht habe, mit den Fingern direkt aus dem Glas. Kleine roten Flecken an seiner Maske, auf seinem Hemd, auf seiner Hose, aber die interessieren uns nicht. Er regt sich nicht auf, als der Hausmeister den Rasensprenger so stellt, dass wir kurz nass werden, er lacht sogar mit ihm, das passiert mittlerweile nur noch selten. Es ist auch ein Tag, an dem er Fragen stellt. Unser Abschied verläuft in Etappen, heute rasten wir.

„Wie weit entfernt ist nah genug?“ (Thomas Pletzinger, The Great Nowitzki, S. 55)

Das Geräusch der Simson schubst mich für ein paar Ampelphasen in meine Kindheit zurück, aufs Land und den Geruch von trockenem Gras und dem Appetit auf Schnitzel, mir ging damals jedes Zeitgefühl verloren, auch in größerem Umfang, mir schlief schon damals auf dem Roller der Hintern ein, ich wusste nicht mehr, als dass Ferien waren und irgendwann Ende Zwanzig kam dieses Gefühl zurück, ich brauchte nicht mehr tagelang, um die Arbeit und den Alltag loszulassen, mittlerweile kann ich das innerhalb weniger Minuten, in einem Zug, in einem Auto, auf einem Roller, in einer S-Bahn. Mich ausschütteln und bemerken, wie der Wind riecht, und die Augen nach gestreiften Markisen offenhalten, nach Imbissschildern und Vogelstimmen und Falten in fremden Gesichtern, sich erst nach und nach raus bewegen und dann raus sein. Die Stelle am See ist noch fast leer, als wir ankommen, das Ufer ein bisschen schlammig, aber sobald man im Wasser ist, sieht man nur noch die Bäume am anderen Ufer und den Himmel und zwei drei Anleger, der Wald riecht bis hinaus aufs Wasser, sonst sieht man nichts, unter Wasser ist es ganz still und dunkelgrün und hellbraun, kühl und genau richtig und schon beinahe Ende Juni. Danach grabe ich die Füße in den Sand, schließe die Augen und höre Badestellengeräusche, Kinderstimmen, sanftes Stapfen, Plätschern und der Wind schiebt die Bäume hin und her wie alte Bekannte, die Konstante aller Sommer. Am Baum lehnt eine aufblasbare Brezel. Auf dem Rückweg fallen die ersten Tropfen, als wir an der Ampel stehen und kurz darauf biegen wir rechts auf einen kurzgeschorenen Rasen vor einem Kiosk, wir bestellen Pommes und Cola und Fanta. Dann kommt das Gewitter.

T. schickt dieses Lied, das mich ein paar Tage lang begleitet, manchmal weiß man ja auch nicht, welcher Ton das ist, den manches in einem anschlägt.

Als ich den Kaffeeladen betrete, läuft Blister von Jimmy Eat World und der Kaffeemann singt unter seiner Maske mit, ich grinse unter meiner. Wir waren 17 und neben der Razzmatazz von Pale waren die Give Up von The Postal Service und die Clarity unser Soundtrack für die Landstraßen zu den Festivals, für die Abende neben den S-Bahn-Gleisen, für den einen Moment, wenn man sich nur kurz ansah und dann aus verschiedenen Ecken auf die Tanzfläche strömte, für die Nächte, in denen keine Bahn mehr fuhr und man einfach ein, zwei Stunden zu Fuß nach Hause lief ohne zu murren, weil man hatte ja Kopfhörer dabei und Ersatzbatterien, wir hörten diese drei Platten am Rand des Fußballfelds und vor und nach den ersten Katastrophen, die man auch wirklich als solche bezeichnen konnte.

Dieses Jahr schlenkert. Ich spüre, wie sehr ich gefragt bin, mich umzustellen und zu justieren, alle paar Tage neu, vielleicht hat es gar nichts mit dem Gefühl zu tun, sich auf nur wenig verlassen zu können, vielleicht verwechsle ich das manchmal und es geht eigentlich darum, vor allem Erwartungen zurückzuschrauben und dort zu werkeln, wo man kann, und nicht, wo man könnte, vor allem im Heute. Frauenmagazine und Ratgeber propagieren ja gerne, dass man aus jeder Niederlage etwas lernt und schwere Zeiten könnten auch reinigend sein, und in mir sträubt sich dann noch immer meistens etwas, das sagt, jetzt gesteht doch mal Leuten zu, dass es einfach mal scheiße ist, dass nicht alles auf seinen Wert für später hin abgeklopft werden muss und dass Erschöpfung und Angst und Konflikt und Traurigkeit nicht immer auszuwringen sind. Und gleichzeitig empfinde ich Mitgefühl mit jenen, die genau das nicht anerkennen können, weil es vermutlich zu dunkel wäre, weil Aufgeben ja meistens das Schwerste ist, also anzuerkennen, dass etwas wirklich nur um seiner selbst willen und manchmal sogar umsonst existiert, dass es keinen weiteren Sinn hat als beschissen zu sein oder unangenehm oder ermüdend, und woher kommt eigentlich die Erwartung, sowas existiere nicht? Sich in die Kurven legen, während auf meinem Fensterbrett der Mohn blüht.

„Hope is a vulnerable place.“ (The High/Low)

Ich liege auf der Decke, die Kinder klatschen mit ihren nassen Bäuchen auf die Plane und lachen sich kaputt, der Himmel wird erst hellblau, dann dunkelblau, dann gelb an den Rändern, orange und später marmoriert er sich pink. Über uns summen die ersten Nachtinsekten, Flaschen klirren, in den Hochhäusern hinter den Bäumen öffnen sich die ersten Fenster in den Abend, und wie so oft, wenn ich irgendwo bin, wo ich mich vollkommen losgelöst und wohl und geborgen fühle, fällt er mir ein. Ich hätte ihm wirklich gern von alldem erzählt.

Schneekugeln

„I feel like i am in one of those snow globes that you bring home from travelling. And i still need some time for things to settle.“ – „You should consider stopping all your jumping around the house, or go outside to do it, or you will keep stirring up the snow. Also maybe put your penguin in her enclosure.“

C. sagt, es gibt dieses Gefühl davon (das kennen nicht viele, aber ein paar, ich zähle mich zu denen, die es kennen), dass man plötzlich nicht mehr weiß, wo man anfängt und wo man aufhört. Der eigene Körper, das Selbst. Und dann braucht man jemanden, der einen festhält, der einem mit dem Finger die Grenzen nachzeichnet, einen Druck von außen ausübt, damit man wieder spürt, wo man zu Ende ist. Wir sind die, die jetzt eine ganze Weile ohne diesen Jemand auskommen werden müssen.

P. schreibt, sie sei eigentlich nicht jemand, der ständig berührt werden müsse, der gern zuhause sei, der keine laute Musik oder Bars braucht, aber die letzten Tage seien eine solche Herausforderung gewesen, plötzlich sei das Gefühl in einem hochgekommen, man wolle genau jetzt dann doch die engsten Menschen umarmen. Und sie wisse nicht, warum. Ich glaube, die Stille ist etwas, das wir meistens nur gut ertragen, wenn sie selbst wählen dürfen.

In jedem dieser Worte hier steckt Banalität, aber ich kann gerade noch nicht aus anderen Universen erzählen, ich kann nur diese vier Wände beschreiben, obwohl ich alles andere sehe. Sobald ich anfange, über fremde Realitäten zu sprechen, klingt es unzulänglich und nicht weitreichend genug. Ich sehe sie, aber hier an diesem Platz finde ich noch nicht die richtigen Worte dafür, hier an diesem Platz bleibe ich bei den kleinen Beobachtungen, diese sind am einfachsten zu beschreiben. Der Rest ist zu groß.

Tagsüber fällt mir manchmal ein, wie gut es wäre, jemanden in der Küche lachen zu hören, der sich über etwas freut, das man gerade nicht sehen kann, das nur ihm gehört. Und Radioheads „Where I end and you begin“: I can watch but not take part. Where I end and where you start.“ Die Nächte sind traumlos, die Morgensonne hält meistens bis in den frühen Nachmittag hinein. Ab halb drei fällt sie so, dass ich im Sessel sitzen kann und sie mich trifft.

Die einen gewöhnen sich gerade an die Abwesenheit des Planbaren, an die Nähe zu manchen, an die veränderte Nähe, an das neue Zeitgefühl in welcher Variante auch immer (wie schnell das auch geht, dass zumindest ein paar wesentliche Teile des Körpers die neue Realität annehmen, sich drauf einstellen, justieren). Die anderen treten gerade erst hinein in dieses Zimmer, in dem alles plötzlich an einem anderen Ort steht, in dem es laut ist und sehr leise zugleich, in dem das, was vorher da war, zehnmal dick unterstrichen wird, das Gute und das nicht so Gute, die stehen noch in der Türschwelle und würden am liebsten sofort kehrtmachen, doch im Blick zurück gibt es gerade vor allem Melancholie und Sehnsucht und nicht viel mehr.

Jeden Morgen bringt Opi seiner Freundin im Pflegeheim einen Jogurt nach unten. Sie wohnt im zweiten Stock, er im siebten. Er bekommt zwei und mag Jogurt nicht ganz so gern. „Sie bekommt das Innere, ich das Äußere“, sagt er und meint, das er nach dem Essen die Plastikbecher ausspült und wieder mit nach oben in sein Zimmer nimmt, um Kleinigkeiten darin aufzubewahren. Einerseits meckert er immer über zuviel Kram, andererseits holt er sich immer neuen dazu. Alles muss seinen Ort haben, damit er es nicht so einfach vergisst. Er hat es lieber, wenn die Dinge nicht lose auf dem Tisch liegen, sondern in einem Gefäß sind.

„Imagine light as touch. Looking out of the window is still a perspective.“

Und das.
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D. hat mit ein paar Menschen zusammen einen Solidaritätsfond gegründet. Sie sammeln Spenden, um freie Bühnen- und Tontechniker:innen, Beleuchter:innen, Stage Hands und Veranstaltungshelfer:innen zu unterstützen. Vielleicht helft ihr auch, wenn ihr könnt.

I am putting my face on you again in order to perceive a very small thing inside your chest

Ich habe das Gefühl, wir führen jetzt ein Episodenleben. Season 1, Episode 1,2,3,4,5,6,7,8,9,10. Pause. Press play. Season 2. Trailer. Exhaustion. Trailer 2. Episode 1,2,3. Season Break. Episode 4,5,6,7,8- Am liebsten würde ich von jedem Tag ein Foto machen. Nicht von einem Moment, sondern von allem. Um zu sehen, was genau geschieht. Um mehr Zeit zu haben, die Unterschiede zu erkennen, aber eben auch das, was bleibt.

Die Planbarkeit kommt abhanden und mir manchmal der Atem. Wir haben selbstverständlich Pläne für in zwei Wochen gemacht, für in drei Monaten, für in einem halten Jahr. Ich höre nun von Menschen, von denen ich seit einem Jahr nicht ein Wort gehört habe, es bleibt bei ein paar Worten, Nebensätzen, Versicherungen, bist du okay, wir sind okay, dann ist’s gut, aber eben ohne Satzzeichen am Ende, ist es das denn? Gut? Und wenn’s doch nur die Pläne wären, aber über die große Panik schreibe ich noch nicht. Wir sind ja noch eine Weile hier.

Die frühen Morgen am Kanal sind mein Atem. Eine Verkörperlichung dessen, was sonst vor allem im Kopf stattfindet. Die Beine werden wach und heiß und schwer, man fühlt alles auf einmal, den Schweiß, die kalte Luft, die erste warme Sonne, das Keuchen und den Wunsch, dass es niemals aufhört, die Müdigkeit und das Drängen nach vorn, eine Kurve noch, eine Ecke noch, eine Brücke noch. Wir laufen Bogen umeinander, die Frauen lächeln einander zu, freundlich, die Männer atmen vor allem immer sehr laut aus.

Ich weiß nicht, was morgen ist, ich habe keine Ahnung. Aber im Wald steht der junge Bärlauch, der schon schmeckt. Wenn man den Kopf in den Nacken legt, sieht man überall kleine hellgrüne Punkte. Das Wasser flimmert. Im Frühling liegt immer dieses Diashowgefühl, die letzten drei bis vier Jahre laufen vor einem ab, jeder Geruch ist belegt, alle sind sehr euphorisch miteinander verwoben wie Patchwork, und Krokusse.

Mir fehlen die Berührungen schon in Woche 2. Im Kopf flackern Hände und Haut herum, wen umarmt man eigentlich wie, wessen Wangenkonsistenz kennt man, welchen Kussgeschmack, welche Handoberfläche, Rauheit, Weichheit, Druckstärken, Oberflächen, Wärmeverteilung. Manchmal erschrecke ich, wenn mein Fuß aus Versehen an ein Stuhlbein stößt, wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, der Stuhl und ich. Wenn ich den Stuhl neben die kleine Kommode schiebe, scheint die Sonne für eine halbe Stunde auf uns beide drauf. Ich glaube, wir mögen das. Plötzlich ist jeder Tag wie der Moment nach dem Kino, in dem man in die Luft tritt und alles wahrnimmt, Farben und Gerüche und Geräusche. Die Straße richtet sich ein im Sonntagsgeräuschpegel.

N. schreibt, drei Sekunden nach dem Aufwachen fühlt sich immer alles an wie Liebeskummer.

(Die Titelzeile ist aus dem Gedicht „at 5:30 in the morning von Mira Gonzalez. Kevin und ich haben außerdem ein Lied geschrieben, gesungen und aufgenommen – gemeinsam mit vielen anderen in und um das Künstler*innen-Kollektiv Barner 16 herum. Hier könnt ihr es hören und sehen. Dieses Lied zu schreiben hat mir zwei Abende lang die Nerven beruhigt.)