Divergence underneath

D. holt mich ab. Das Mietauto hat eine interessante Farbe. D. nennt sie Magen-Darm-Metallic. Unterwegs treffen wir ein Auto im Farbton Aperolkotze. Diese Neuwagen mit den vielen Knubbeln und Kanten, die aufgepustet sind an so vielen Stellen, „als hätten sie eine Haselnussallergie“. Die Anzeige plärrt, weil sie denkt, die Tasche auf dem Rücksitz sei ein Mensch. Die dazugehörige Stimme weist uns zudem immer wieder darauf hin, doch auf die Umgebung zu achten. Die Tankstellen sind gruselig leer, die Sanifair-Schranken abgebaut, zwei Kinder stehen ratlos auf dem kleinen Gelände herum, das ein Spielplatz sein soll. Wir sitzen und trinken Kaffee aus Styroporbechern, der Himmel blendet, obwohl er nur aus Wolken besteht. Die meisten Menschen, die vom Berg kommen, haben ein gnietschiges Gesicht, die wenigsten reden. Wir laufen und klettern und sagen ständig sowas wie „Ach“ oder „Hach“, wir begrüßen uns fremde Menschen, das macht D. sonst eigentlich nur bei Hunden, hier sind wir die Vergnügten. Als wir oben an den Schrammsteinen stehen und mir der Schweiß in Sturzbächen vom Körper rinnt, die Leitern riechen dort so stark metallisch, ich vermute, weil so viele Menschen auf ihnen herumrutschen, kommt das Gefühl zurück, das ich das letzte Mal auf La Gomera hatte oben auf dem Berg, als würde alles für einen Moment aussetzen, als hätte sich irgendwas gelohnt, von dem man nicht weiß, was es ist, es ist, als läge ich in genau diesem Moment gleichzeitig mit dem Rücken auf dem Boden, so, dass nichts mehr dazwischen passt, als gäbe es keine Lücke, nichts, das wackelt, es ist wie Ruhe, aber anders, weil es nicht still ist, nicht bewegungslos, sondern in Wellen kommt und geht. Ich habe die genaue Seite vergessen, aber am Abend lese ich diese Stelle in Nadja Spiegelmans Buch, in der sie beschreibt, wie sie auf der Beerdigung nicht den Großvater beweint, den sie hatte, sondern den, den sie gern gehabt hätte, und ich verstehe etwas mehr von all dem, was sich in mir zusammengeknotet hat über die Jahre wie diese Bälle aus Schnipsgummis. Als wir zurückfahren Richtung Stadt, begegnen wir einem Mann, der einen Kopfsalat spazieren fährt wie einen Hund. Morgens steht die Uhr auf 20er Chicken McNuggets. Auf dem Fristo-Getränkeparkplatz wird niemand Lyriker.

„Sillage, dachte ich. Es war ein französisches Wort, das ich erst kürzlich gelernt hatte. Es hatte einen wunderschönen Klang, see-yaj. Ursprünglich bezeichnete ich das Kielwasser, das sich hinter Booten im Wasser bildet. Gleichzeitig konnte es aber auch jenes Phänomen beschreiben, bei dem das Parfüm eines Menschen in der Luft bleibt, nachdem sein Träger bereits den Raum verlassen hat. Ich roch noch einmal an dem Fläschchen, doch der Geruch hatte sich bereits verflüchtigt. Es blieb nicht mehr viel von meinem Großvater, auf das ich meine Vergebung hätte projizieren können, und vielleicht, so vermutete ich in diesem Moment, war das hier alles, was ich jemals finden würde: ein Kräuseln des Wassers, ein Duft, der sich einen Moment später verflüchtigt.“ (Nadja Spiegelman, „Was nie geschehen ist“)

I have a thing for women sitting by an open window, smoking.
I have a thing for people running down the sidewalk because they`re in a hurry.
I have a thing for flowers dramatically leaning over the edges of their flower pots.

„Wohlstand zeigt sich in Dingen, die leicht kaputtgehen und schwer zu reinigen sind“, schreibt Anthony Marra in „Letztes Lied einer vergangenen Welt“. In der Eifel hört man am Morgen die Kühe und am Abend die Schafe. Alle leben im Schatten, es riecht überall nach Lavendel. Wir üben fallen nach Anleitung. Ich übe noch mehr, darunter: Frischluft als Strategie, und Raum machen für alles, was ohne mich passiert. In der Bahn ruft eine junge Frau in ihr Telefon: „Junge, geh mir nich auffen Pinsel.“ Ich schlafe hier so tief.

Manchmal synchronisiert sich das Wetter sehr pathetisch mit Gesagtem, und mittlerweile lasse ich jede sarkastische Bemerkung, jede Beschwichtigung und schaue nur zu, grinsend, so wie man lustige Namen auf Grabsteinen bemerkt und in der kurzen Berührung mit etwas Fremden verharrt, ohne sie wegzuwischen. Das nicht als Zeichen sehen, sondern als schönen Zufall. Weich bleiben.

Die Idee einer neuen Wohnung ist geplatzt und ich finde mich wieder in die zurück, die mich schon ein paar Jahre begleitet. Aber es ist beklemmend daran zu denken, dass dieser Winter auch so einer werden wird, den ich hier verbringe, tagelang, und ich überlege noch, wie eine Lösung aussehen könnte, diese Wohnung dem Zustand, den Umständen anzupassen, mich neu anzufreunden mit ihr, man kann sie ja so schlecht an der Hand nehmen und sagen, komm, wir rennen und schreien, damit wir danach wieder im Frieden miteinander sind. Ich suche noch, was es sein kann, das uns wieder aneinander rücken lässt.

Opa ist wütend. Seine Freundin hat vor zwei Tagen eine Fliege getötet. Opa kann das nicht abstrahieren. Für ihn steht das für alles. Für die beiden, für sie, für sich, in den Tagen, die er erlebt, trennt man nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig. Er sitzt dann da und will nicht sprechen, er stützt den Kopf in die linke Hand und erklärt ihr, dass die Kante am Tisch schräg ist und ihr Sektglas dort abrutschen kann, er nimmt ihr das Sektglas aus der Hand und stellt es weiter von der Kante weg, dann schweigt er wieder. Alles ist gleich viel wert in seiner Zeit, weil alles das letzte ist, was es gibt.

Als ich mit M. und N. auf dem Balkon sitze und es langsam dunkel wird, legen wir alle den Kopf in den Nacken, die Kinder auch. Dann ruft J.: Der Himmel sieht aus wie eine Armee.

Dieser Sommer rinnt so schnell und ich habe das Meer noch nicht gesehen.