Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Está de esperanças

Im Dunkeln losfliegen und im Dunkeln ankommen ist, als würde man Fahrstuhl fahren. Oder Rohrpost. Sich einfach in einen Karton setzen und dann fliegen ein paar Lichter vorbei und man kommt ganz woanders wieder raus. Dort, wo die Luft sofort feuchter ist, der Wind legt einem sofort diesen Film ins Haar, der sagt, du bist hier nicht zu Hause, aber manchmal wärst du es gern, man könnte ja mal überlegen, aber jetzt schau erst einmal. In einem ganz fremden Städten ankommen ist auch, als verließe man nach einem Film das Kino, weil man plötzlich wieder hinsieht. Als hätte jeder Schritt eine Bedeutung. Dabei sind die Farben ja auch nur dieselben an einem neuen Ort. Fahrtkartenautomaten finden, Bahnen finden und in der Bahn dann irgendwann die Musik von den Ohren nehmen, um hinzuhören. Portugiesisch klingt immer so, als könne nichts passieren. Bolhao aussteigen und den Weg gleich finden, aber langsam gehen, an dem blau gekachelten Eckhaus und den vielen dunklen Schaufenstern vorbei, die in den nächsten Tagen zur Gewohnheit gehören werden. Man sucht sich ja schnell seine Fixpunkte, wenn man neu ist. Das ist der Bäcker, das ist der Eingang zu U-Bahn, das ist das Parkhaus, hier muss ich abbiegen. Und am nächsten Tag erkennt man alles wieder. Am dritten Tag denkt man schon nicht mehr drüber nach und wenn doch, dann nur als „Kenn ich, kenn ich, kenn ich“. Die Schienen scheinen hier in höheren Tönen zu quietschen, die Schrift trägt Akzente. Über dem Abendessen schweben Fledermäuse. Das Licht ist ständig orange.

Am Hafen auf der anderen Seite sitzen, Portwein trinken und dann spielt der Mann mit der Trompete leider Despacito.

Am letzten Tag des Augusts steigen wir ins Auto und fahren in den Süden. Beim Aussteigen sieht man nur Sand, ein paar Sonnenhüte und ein, zwei aufgestellte Mülleimer, sonst nichts. Dem Rauschen entgegen rennen und dann stehen bleiben und einatmen und genau wissen, dass es das ist, was man öfter haben sollte. Den Wind, und das Blau und dass es sonst nicht viel gibt. Außer einem leisen Hallo seit dem letzten Jahr und einer Träne. Das Meer ist kein anderes, aber wir sind es. Später im Wind schlafen.

Es gibt manche Sachen, die sind allein schöner. Und manche, die macht man besser zu zweit.

Am Stadtstrand stehen die Möwen auf dem Sand wie eine Armee, eine durcheinander gewürfelte. Sie stehen und schauen und irgendwann kommt der kleine Junge und will sie erschrecken, rennt mitten hinein, aber die wenigsten fliegen auf, die meisten machen nur ein, zwei Schritte zur Seite. Da muss schon was Größeres kommen.

„Wer nie wütend wird, kann sich nicht aktualisieren“, sagt Dr. Maschke in „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky. Das Buch mit Blick aufs Meer lesen, also ganz zu Ende, und immer laut lachen und später weinen und es sofort auf Papier vorbestellen, weil es eines dieser Bücher ist, die man besitzen möchte, um immer wieder nachzusehen, sich zu vergewissern, es anderen zu zeigen oder vorzulesen, wenn es wichtig wird.

In der Casa de Música von Antonín Dvorák überrollt werden, fast wie vom Meer und nicht selbst hindurch tauchen, sondern sich untertauchen lassen. Einfach nichts tun und warten, was passiert. Der ältere, englische Herr neben mir schläft nach ein paar Takten ein, die Hände ordentlich auf der Anzughose abgelegt, aber später dann wacht er wieder auf und seine Unterarme zucken mit. Manch einer würde tanzen, ihn ergreift es so sehr, dass er nicht still sitzen kann, doch seine Miene verzieht sich nicht eine Sekunde.

Es sind die kleinen Rotunden aus buntem Glas, die auf manchen zerfallenen, zumindest alten Häusern sitzen wie verloren gegangene Hüte. Die einen überraschen, weil sie wie aus einer anderen Zeit gefallen immer noch dort herumliegen. Als würde gleich jemand mit großem Namen oder zumindest einer Aufgabe, mit einem Thema im Hirn darin herumlaufen oder zumindest so stehen, dass sein Kopf durch das bunte Glas zu sehen ist. Denn wer eine Aufgabe hat, der muss in die Ferne sehen, manchmal nur für einen Moment, auf jeden Fall tut ein Ausblick gut, wenn man noch etwas vorhat mit sich und der Welt, man kommt so der Lösung häufig näher.

Das Grinsen des alten Mannes, der nicht etwa die Welt, sondern vor allem sich selbst in der Scheibe des Bäckers ansieht. Wie die Menschen an beiden Ampeln an der Kreuzung immer den Knopf suchen, der sich aber etwas weiter weg hinter der Laterne versteckt, und aus Ungeduld dann immer bei Rot gehen, weil er ihnen zu weit weg ist. Wie die Wolken in Streifen die Dächer verbinden wie Wäscheleinen. Das Knattern der Flugzeuge, die gerade Kunststücke über dem Douro fliegen. Der Singsang der Dame, die am Nebentisch über die Handymusik ihres Sitznachbarn einfach hinweg trompetet.

Die großen Wahrheiten im Halbschatten erörtern. Was uns umgibt, ist weiches Gebrüll. Seit wir da sind, liegt diese traurige Banane auf der Mauer neben dem Apartment, auch noch am letzten Tag.

Weird fishes

„Die Dunkelheit im August ist die schönste aller Dunkelheiten. Sie ist nicht hell und offen wie die Dunkelheit im Juni, nicht so voller Möglichkeiten, aber auch nicht so verschlossen und abgeschottet wie die Dunkelheit im Herbst oder Winter. Das Vergangene, das Frühjahr und der Sommer, steht in der August-Dunkelheit noch immer offen, während man in das Künftige, den Herbst und den Winter, schon hineinsehen kann, und doch ist man noch kein Teil davon.“ (Karl Ove Knausgård)

Über zwanzig Jahre habe sie für ihn gearbeitet, sagt sie, während sie die Blumen einzeln aus dem Strauß im Eimer zupft und die Stiele in ihrer Hand neu arrangiert, er sei krank gewesen, die letzten zwei Jahre habe sie bei ihm gewohnt. Im Gästezimmer, gleich hier ein paar Straßen weiter. Nun sei er einfach gestorben. Eigentlich habe sie ja ihre kleine Wohnung in Marienfelde, die hat sie nicht aufgegeben, immer mal sei sie zurück zum Blumengießen. Aber sogar übernachtet habe sie hier, man habe ihn ja nicht mehr allein lassen können. Mittags habe sie den Blumenladen abgeschlossen, um ihm etwas zu kochen und abends natürlich. Bei ihr zu Hause sei es so still jetzt, sie müsse sich erst einmal wieder einleben. Wenigstens habe sie das Auto noch. Und der Kioskbesitzer, von dem habe sie sich eben Fotos vom Handy abfotografiert. Von ihr und ihrem Chef. Erst vor ein paar Tagen habe er die von den beiden gemacht, da hat er noch gelebt. Sie könne ja nicht einfach in seinen Schubladen wühlen da oben in der Wohnung, sowas mache sie nicht. Aber die Bilder seien schön, was zu haben, was man angucken kann, das sei ja wichtig. Andenken. Dass immer alle krank werden, sagt sie und seufzt. Auf das Papier für die Blumen sind Rosen gedruckt. Dann setzt sie sich wieder nach draußen, der Spätiverkäufer wartet auf einem der beiden Plastikstühle. Dort setzt sie sich wieder hin, winkt mir noch einmal. Den Verlust sieht man den wenigsten an.

Morgens kurz nach dem Aufstehen direkt ins Becken. Das sei der beste Moment, sagt R., mit dem Kopf unter Wasser, das mache alles leer, alles frei, alles verschwunden. Ein paar Bahnen später riecht man den frisch gebrühten Kaffee über der Stadt, in der Auslage Eibrötchen mit Petersilie.

Als wir mit dem Negroni draußen sitzen, kommt die kleine Frau mit dem roten Kopftuch und der Plastikmappe vorbei. Darin Folien mit ihren Zeichnungen und Bildern. Manche mit Buntstift, eins mit Tinte, manche mit Bleistift. Bei einem Laden in der Nähe würde sie die Drucke machen lassen, ob man ihr nicht eins abkaufen wolle. Nach dem Film sitzen wir ein paar Meter weiter, wieder draußen und eine jüngere Frau kommt vorbei, sie fragt nach Geld, neben uns auch die kleine Gruppe Menschen auf der nächsten Bank. Der eine mit den weißen Turnschuhen, die aussehen, als sei die Socke schon eingenäht, steht als einziger der Gruppe, die anderen sitzen. Als die junge Frau kommt und um eine Spende bittet, schaut er sie und fragt: „Na, kannste denn was?“ Sie lächelt verlegen, schaut auf den Boden, er fragt sie, woher sie kommt, sie murmelt. Am Ende gibt er ihr etwas, aber das Unbehagen ist ihr anzusehen.

Das Meckern sei nur seine Art des sich Wunderns, sagt Opi.

Auf dem Heimweg über den Mauerstreifen und die Friedrichstraße mit Absicht langsamer fahren, weil die Wolken sich türmen, so klar und gleichzeitig ungestüm, als wäre das Meer direkt um die Ecke, diese Tage sind die schönsten in der Stadt. Diejenigen, die auf der Brücke kurz anhalten und übers Wasser schauen, aufs Bodemuseum und den Fernsehturm, die wissen’s auch. Weiter hinten drehen sich Touristen um und schauen verwundert, denn die ganze Friedrichstraße riecht nach Pferdemist.

Everybody leaves if they get the chance.

Die Nacht auf links

In dieser einen Nacht in Brandenburg unterm Himmel sitzen, die Sterne angucken und relativ genau wissen, wo man sich befindet, die eigenen Koordinaten kennen, die Maße, den Standort. Näher als früher. Wieder denken: „Ich bin jetzt älter als er, als er starb. Was hat er damals schon gewusst, und vor allem, was nicht?“ C., N. und ich stapfen nachts über diese Landstraße, links und rechts und vorne und hinten kein Licht außer der Taschenlampe, der Wald macht Geräusche wie ein nervöses Tier, und auch hier taucht nochmal ein Satz auf, den ich mit K. vor ein paar Jahren in Mitte einmal sagte, als wir aus diesem Club stolperten, die Arme ineinander verhakt, die Füße stolpernd: „Es ist noch so weit bis geradeaus.“ Das war auch so eine Nacht damals, in der man das Licht des nächsten Tages schon ahnen konnte, die Musik noch mit sich herumschleppte und in der Stille dieser frühen Stunden alles nachhallte. Jetzt setzen wir die Schritte auf Asphalt und außer uns ist sonst niemand da. Nur wir drei und irgendwann die Bahnschienen und dann die ersten Häuser des nächsten Ortes. Als wir in den Jugendherbergsbetten liegen, wird es hell und es beginnt zu regnen.

„Nur die wenigsten Geschichten verkraften die Realität“, sagt F., „deswegen ist die Kunst nicht, die Geschichte im Nachhinein der Realität anzupassen, das geht meistens schief, sondern eine Geschichte zu schreiben, die von der Realität lebt, daraus erwächst.“

Die drei älteren Herren mit der Lederhaut, gebräunt in den Tagen, an denen es nicht regnete, der kleine Strand mit Blick auf den grünen Streifen ist ihr Vorgarten, vielleicht auch eher der hinterm Haus, wo man die Nachbarn vergisst, wenn man sich nicht gerade beschwert. Sie trinken Bier. Und der eine, ich nenne ihn sofort Wolfgang innen drin, trägt seine Angel auf und ab, versucht im Abendlicht noch eine gute Stelle zu finden, steht irgendwann nachdenklich am Ufer und schaut hinüber zu dem sich langsam in der Strömung drehenden Schiff, er kneift den Po ein bisschen zusammen, bekommt kleine ledrige Grübchen, er scheint so tagelang gestanden zu haben, es gibt keine weißen Streifen, keine Kleiderüberreste. Später watet er noch tiefer ins Wasser, die Arme in die Höhe gestreckt, als hebe ihn gleich jemand heraus. Am Ufer berlinert man über Krankschreibungen und Sanitätshäuser, Terminfindungsprobleme und Arbeitslosengeld. Das Hausboot, das vorbeifährt, liegt manchmal an der Warschauer Brücke in einer anderen Galaxie.

Wir steigen aus der U-Bahn da oben im Wedding und es ist, als kotze die Stadt in genau diesem Moment alles aus sich heraus, die Sirenen, die Spucke, der tiefliegende Sommer, die vom Schweiß an der Stirn klebenden Haare, die Halbsätze, die ins Telefon gebrüllt werden, weil man sonst nichts versteht und keine Hand frei hat zum Tippen und keine Zeit, um einfach die Klappe zu halten und abzuwarten. Die Stadt im Zustand der Überforderung, in dem sie sich eingerichtet hat, dass sie gar nicht mehr weiß, wie es ist, nicht immer einen halben Schritt zu weit zu gehen. Lautstärke als Beweis, aber für was eigentlich? Im Getränkemarkt stehen von jeder Sorte immer nur zwei Flaschen im Regal, dazwischen hat man Platz gelassen, die Gänge sehen aus wie die einer Ausstellung für Limonadengeschmack 2017. Die Stirn auf dem Kronkorken in einem der Kühlschränke ablegen. Kurz überlegen, dort einzuziehen. Bis die Kasse piepst und draußen wieder irgendjemand bellt. Dann doch lieber Hinterhof und den Hinterkopf auf die Stuhllehne, den Blick nach oben, wo die schwarzen Vögel im Schwarm ihre Kreise ziehen. Wir sind jetzt in dem Alter, da reden wir über Kinder, über die, die schon da sind, die, die vielleicht noch kommen, und die, die es vielleicht niemals geben wird.

In der Seitenlage durstig erweist sich Zeit als eine Chance, die Möglichkeit der Wende auf Kurs zur scheußlichen Balance.“

231 Schnecken hat Opa aus dem Beet gesammelt, das sagt er zumindest, wir vertrauen diesen Angaben je nach Tagesform. Salat gibt es deswegen dieses Jahr keinen, aber müden Mangold und Riesenzucchini. Die Überreste des Holzpferdes, das er letzten Jahr beerdigt hat, indem er es in Brand steckte, fand ich neulich in einer Schublade wieder, ordentlich in ein Schraubglas gefüllt und beschriftet, so ist er. Selbst nach dem Weltuntergang würde er kleine Aufkleber auf die Trümmer kleben, die erzählen, was das mal war und wohin es gehört. Vielleicht noch die Daten der wichtigsten Jahre mit Fineliner in verschiedenen Farben und Serifenschrift. Ein Garten wäre schön.

Sicuro come il cielo è blu l’autunno arriverà

Am frühen Morgen sirrt und summt es, während die Sonne an den Ästen vorbei auf die Steinstufen klettert. Man kann an genau diesem Platz besonders gut sitzen, wenn man die Welt noch nicht versteht, oder irgendetwas anderes, wenn es noch zu früh ist, um zu sprechen und schon zu spät, um nur zu liegen. Man kann warten, bis die Ameisen kommen und die Zehen umkreisen und wenn der Nacken brennt, zieht man auf die kleine Bank an der nachtkühlen Hauswand um, in den Halbschatten, die Steine an den Schulterblättern wie eine korrigierende Hand. Warten, bis im Nebenzimmer die ersten Schritte zu hören sind, barfuß auf Fliesen, das Quietschen der Terrassentür, das leise Einatmen, tagsüber immer alles offen stehen lassen. Siebeneinhalb Schritte bis zu den zwei Steinen. Fünfzehn bis zu den blauen Blumen, eine Handbreit bis zu den Wipfeln. Die Berge, als habe jemand Papier abgerissen.

Am Strand klettern immer wieder kleine Menschengruppen auf den Stein, der in der Brandung steht. Um auf ihn zu gelangen, muss man bis zu den Knien hinein in die Wellen und dann hinaufsteigen. Alle haben sich irgendetwas ins Haar gebunden, tragen Telefone in den nach oben gestreckten Händen. Sobald sie auf dem Stein stehen, bewegen sie sich, als hätte jemand in ihnen einen Draht angezogen, für das Fotos spannen sie alle Muskeln an, jedes Schienbein wird drapiert. Das eine Mädchen hält die Hand ins Wasser, um sich die Schulter fürs Foto zu benetzen, sie fällt beinahe hinein, versucht das Gleichgewicht zu halten und fängt sich wieder dank Selfiestick. Die andere hat vom Stein aufgeschürfte Fußrücken. „You can post it. We’ll cut it out.“

Beim kleinen Burgerladen in der Kurve am Hang macht der Kellner Licht im Kühlschrank, damit ich besser ein Eis aussuchen kann. Den Espresso trinken wir mit Blick auf das tiefblaue Meer, direkt davor sitzt die kleine Familie, Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Die Mutter hat so traurige Augen, dass ich wegsehen muss, ihre Zeigefinger falten sich permanent in ihren weißen Rock, wenn der Vater etwas sagt, zu den Kindern, zu ihr, zu dem Baum, unter dem sie sitzen. Sie wickelt sich die Zeigefinger in den Stoff, als müsse sie sie von irgendetwas abhalten. Als liefen sie Gefahr zu entwischen.

Die sandpapierfarbenen Kühe neben den roten Stämmen der Korkeichen.

Abends neben der Bank auf den sonnenwarmen Steinen sitzen, Rotwein aus Nutellagläsern trinken, auf den zerfurchten Hund warten, der sich fürchtet vor Menschen, die stehen. Auch vor solchen, die hocken, aber vor denen etwas weniger, sodass er sich, wenn ein paar Stunden in sicherer Entfernung vergangen sind, sogar traut, an einem vorbei zu schleichen, nur um mal zu schauen, ob nicht irgendwo noch ein Keks herumliegt, ein Krümel, ein Rest. Unsere Rücken nie aus den Augen lassen, die Hände schon gar nicht. Das Vorsichtshalberzittern. Irgendwann das kleine Terrassenlicht ausschalten, den Kopf zurücklehnen, die Sterne tauchen nach und nach auf, beinahe jeder für sich, wie abgezählt, fast ordentlich nacheinander. Nicht einmal sagen müssen, dass man wiederkommt. Auch nicht, wann genau.

Zitronenfaltertage

„Born to make money“ steht in Weiß auf den grünen T-Shirts, die die beiden grinsenden Erwachsenen tragen, als sie mir am Morgen auf der Straße entgegen kommen. Sie tragen Papiere unter dem Arm, unterhalten sich angeregt. Die Sonne scheint und rollt rechts am Horizont aus dem Bild.

Beim Blick auf die leere Torstraße halten wir die Füße in das blau-orangene Planschbecken, weil der Weg in den Wald uns zu weit ist, weil man sich zwischendurch auf den großen Teppich legen und verschnaufen kann, weil man dann immer noch die wenigen Autos hört, die zu spät sind, zu spät auf dem Weg nach draußen, zu spät an der Erfrischung, zu schnell für diese Kurve. Gegenüber im Späti sitzen ein paar vergessene Gestalten und schwitzen, das Klirren ihrer Gläser klingt bis zu uns, wir prosten leise zurück und verbrennen uns die Ellbogen beim Abstützen am Fensterbrett. Ich erinnere mich an die Sommer im Bürgerpark, in denen wir ebenso apathisch herumlagen, aber uns genau deswegen tagelang wiederholten, die Hundstage, in denen alles schmilzt, alles ineiander fließt ohne Sinn und Verstand, an denen trinkt man Kaffee und Limoncello beinahe in einem Zug und wundert sich am Abend wirklich über nichts mehr.

Sie sagt, sie habe jetzt die Entscheidung getroffen, zu kündigen. Nach den vielen Jahren. Ohne eine neue Idee. Es sei jetzt an der Zeit, es sei ja wirklich lange nicht an der Zeit gewesen, eigentlich noch nie. Und sie sitzt da im Halbdunkel und blinzelt gegen unsere großen Augen an, die erwartungsvollen Blicke. „In meinem Kopf ist Fukushima“, sagt sie und ich will vor allem applaudieren. Sich loszumachen, bevor man weiß, wo es hingeht, wenn man weiß, dass man hier nicht mehr sein will, erfordert so viel Mut.

Im Schatten ist es gar nicht so wahnsinnig warm, sondern genau so warm, dass man nichts braucht, nicht mehr und nicht weniger, die Temperatur der eigenen Mitte. Sommer ist immer dann da, wenn Sonneneinstrahlung nicht mehr alles ist, um das es geht, wenn er einfach dabei ist, ohne dass man alles auf ihn auslegt. Zwei Frauen liegen neben mir am See. Ich schätze sie auf Ende Vierzig. Die eine macht gerade eine Therapie, Zucker sei nun verboten. Und dann habe sie noch diese Freundin mit den zwei Jagdhunden, mit der sie sich ein Haus angesehen hat auf dem Land, das habe sie ja unterschätzt, also diese Haussuche und auch die Hunde. Das sei ja wie mit zwei Kindern. Man müsse das vorbereiten, das Essen und den Ausflug, das habe sie anfangs nicht verstanden. Jetzt im Nachhinein wisse sie, sie hätte da achtsamer sein müssen, Bindung sei ja sowieso ihr Thema, und Geduld, sie habe sich also jetzt entschieden, der Freundin immer mal zu helfen mit ihren Hundekindern, sie gehe immer mal einkaufen für sie und erwarte keinen Dank, aber ihrer Therapeutin erzähle sie davon, irgendwo müsse man ja hin damit. Aber wenigstens sei das Leben jetzt schöner ohne Zucker, so Süchte hätten ja auch immer was mit Sehnsucht zu tun, da müsse man sich eh mal von losmachen. Die Haubentaucher klettert über den ins Wasser gefallenen Baumstamm an Land, schauen sich um, stehen ein bisschen und watscheln dann zurück hinein. Im Baumstumpf wohnt eine Maus, die in der Dämmerung größer wird. Später kommen die beiden Anfang Zwanzig. Ihre Haare sind blau, sein Kleid ist gelb, sie sprechen darüber, wie schwer es doch sei, sich dem eigenen Druck nicht hinzugeben, sofort den besten Job der Welt finden zu müssen, sie sprechen Englisch und wenn man die Augen schließt, könnte man meinen, man läge aus Versehen als Statistin in einer dieser Serien herum, von denen man nicht weiß, ob sie aus der Realität abgeschrieben sind oder ob die Realität von ihnen abschreibt, ob ihre Zuschauer wirklich so reden oder es nur tun, weil sie die Folgen so oft gesehen haben. Jedenfalls möchte man sie im ersten Moment komisch finden, aber wenn man ihnen zuhört, gönnt man es ihnen sofort, die Unbedarftheit und die großen Fragen, man schaut zwar etwas beschämt zur Seite, als sie mit den Handys in den See springen und mit den Beinen im Wasser zittern für ein Instagrambild, man möchte ihnen sagen „Ihr seid doch schon schön“, als sie über den richtigen Filter diskutieren und die Bildunterschrift, man gönnt ihnen das Grinsen zwischen den Zweifeln und vor allem das Gefühl, alles finge gerade erst an.

Die Nacht kommt langsam über die Stadt. Sie schiebt den Abend so beiseite, dass er es kaum merkt und die Blitze zucken über den schwarzen Kanten, bevor der Regen kommt. Sie spielen „Bei dir war es immer so schön“ von Hildegard Knef, als die ersten Tropfen fallen, kurz darauf rennen die Leute nur so an den großen Fenstern vorbei, halten sich Jacken und Taschen über den Kopf, das Dunkelblau ist fast fort, die Laternen leuchten in schmalen Streifen. Von nun an werden die Tage wieder kürzer, das war das Höchste an Licht.

Als wir auf der Wiese des Gleisdreieckparks liegen, kommt irgendwann der Wind und fährt so durch A. und mich hindurch, dass wir aufstehen und gehen, aber in dieser Sekunde des Aufstehens denke ich, das könnte doch dieser Moment sein, in dem sowas passiert, was eigentlich nicht passieren kann, also dass der Wind uns zum Beispiel hochhebt und wir nicht wieder selber die Beine in die Hand und die Hände um den Verstand herumlegen müssen. „Jetzt sind wir ja doch erwachsen geworden“, sagt A. und verfolgt mit dem Blick einen verirrten Junikäfer und die sich neben den Bierflaschen küssenden Teenager. I’ll keep this photo safe til my dying day.

Mitternachtskäsebrot

Das Flüstern am Fenster über die Leerstellen im Leben, auf die man Acht gibt, die man beinahe einzäunt, zumindest absperrt. Die Absperrung später durch einen Glaskasten ersetzt, manche Leute schaffen es, die Leerstellen einfach so im Raum zu lassen ohne sie zu markieren und die Besucher treten trotzdem nicht drauf. Da mal hinwollen, das irgendwann können. Umwege nicht mehr als solche zu begreifen.

Beim Karneval läuft nach dem Gewitter das Wasser an der riesigen Hüpfburg hinab, im Rinnstein schwimmt eine Honigmelone davon. Zwei Morgen danach fahren die Autos plötzlich nicht mehr, die Kreuzung ist gesperrt, überall stehen Last- und Kranwagen, es riecht nach Teer. Und während die einen die oberste Schicht von der Straße abtragen, um eine neue draufzulegen, beschneiden die anderen die Bäume. Alles auf einmal, die Kreuzung sieht aus, als würde man sie operieren.

Gegenüber wohnen die zwei, die immer am Fenster rauchen. Vielleicht haben sie keinen Kühlschrank, oder einen zu kleinen. Aber viele Lebensmittel hoben sie bis vor kurzem in einem selbstgebauten Kasten auf dem Fensterbrett auf. Fünfter Stock. Manchmal lassen sie einander den Schlüssel zur Haustür in einem roten Beutel an einem Seil herab. Manchmal lehnen sie sich beim Rauchen zu sehr auf das Holz, es könnte sein, dass irgendwann jemand von Joghurt, Margarine und Milch erschlagen wird. Aber nicht jetzt, nicht im Sommer.

Als ich morgens am Kanal nach Hause laufe nach den Liedern und den Reimen auf dem Balkon ist das Licht schon da, ohne da zu sein, und niemand sonst; für einen Augenblick das Gefühl, allein zu sein in der Stadt, so als habe jemand für ein paar Minuten einen anderen Filter eingestellt. Die Schwäne schwimmen brav in Zweierreihen, und weiter hinten sitzen dann doch noch zwei Menschen am Ufer vor dem Krankenhaus, die Köpfe aneinander gelehnt, immer wieder wild knutschend, sie bemerken nicht, dass zwölf Schwäne sie umringen, sie ansehen, nur einer schläft, die anderen betrachten das Paar, platzieren sich um sie herum, kreisen sie ein.

Auf dem Feld schließen wir eine Wette ab ohne Gewinn, ob der große Streifen Wolken an uns vorüberzieht, ob das Gewitter wirklich kommt, ob es Blitz und Donner geben wird. Am Ende kommt nur der Wind und schiebt alles weiter, auch den großen Mann ganz in Schwarz, mit dem gefärbten Undercut, der immer nur ein bisschen hin und her rollt auf seinen Skates, als traue er sich noch nicht, als würde er darauf warten, es gleich zu können, aber immerhin ein Versuch am Rand der Bahn, während hinter ihm die beiden Mädchen beinahe Pirouetten drehen. Der Regen kommt später dann doch noch, aber aus dem Hinterhalt und ganz ohne Pathos, als wären wir nur eine Erledigung auf seinem Weg.

Eigentlich müsste man genau jetzt beschließen, den Sommer woanders zu verbringen. Damit die Gerüche, die man schon kennt aus dem letzten Jahr, abgelöst werden nicht nur von ihresgleichen, sondern von allem, weil sich die Eindrücke ja dann so ineinander schieben, dass man abends im Bett, wenn das Herz klopft, weil man nicht weiß, woran man zuerst denken soll, in dieses Rauschen fällt. „Alle Knöpfe gleichzeitig drücken ist Neustart“, hat J. immer gesagt. Das alte Lied hören, das wir damals zusammen aufgenommen haben, sofort wieder gewusst von dieser Wohnung am anderen Ende der Stadt, noch nicht einmal 20 war ich damals, der Weg dorthin beinahe schon eine Reise, in jedem Fall aufregend, einer dieser Orte, an denen du weißt, das hier wird was, das hier werden Tage, an die du dich immer erinnern können wirst, an das helle Holz vom Regal, die Salatschleuder, den Unterschied zwischen der Lautstärke in der Wohnung und der großen Straße draußen, daran, wie wir nicht genau wussten, wohin das eigentlich gehen soll, und uns trotzdem immer wieder trafen. Das wird weniger im Alter. Dass man die Sachen laufen lässt, einfach nur, um zu sehen, was passiert, dass man das Zaudern aushält ohne Exit-Strategie. „Komm, wir treffen uns“ war damals immer ein Versprechen, den Nachmittag miteinander zu sein, ohne Plan, vielleicht essen, vielleicht sitzen, vielleicht lesen oder irgendwohin gehen, maximale Momentorientierung, manchmal haben wir auch einfach nur rumgelegen auf dem großen Bett, die Sonne war schief und J. machte Töne auf der Gitarre oder spielte mir Lieder vor von anderen, die ich noch nicht kannte, ich kannte eigentlich fast gar nichts, aber in dem Moment dachte ich, jetzt fängt das Leben an, so wird es später immer sein, so ruhig und dass man sich keine Sorgen macht, jedenfalls nicht solche, über die man kein Lied schreiben könnte, ich musste mich auch erst einmal daran gewöhnen, dass man bei J. da sein durfte. „Ich bin heute nicht so gut drauf“ ließ er als Absage nicht gelten, auch Krankheit nicht, dann kam er eben in die andere Hälfte der Stadt, J. war der erste Mensch in meinem Alter damals, bei dem es okay war, immer alles zu sein, was man ist.

Nuancen als Maßband

Die Mohnblüten sind größer als meine Hand. Sie stehen in einem der Vorgärten, die die bunten Blumen nach vorne raus pflanzen, damit es für jene gut aussieht, die den Weg entlang gehen. Den Weg benutzen die wenigsten, jedenfalls zu Fuß. Man fährt den Weg bis zu seinem Grundstück, dann steigt man aus und geht über zurechtgelegte Bodenplatten zu einer streng gefegten Terrasse, auf der man erst eine Weile sitzen und später die Ränder sauber zupfen wird. Unkraut mögen sie nicht. Auch wenn sie gar nicht genau wissen, was das ist, das Unkraut. Bei Opa wächst alles ineinander. Später sitzt er stöhnend zwischen den Kürbispflanzen, um zu kontrollieren, ob ich die Pflanzen in der richtigen Höhe in die Erde gesetzt, die Klammern auch sicher an die Pflanzen geklemmt und die Erde richtig festgedrückt habe. Ich schneide ihm die Haare und er sagt, er bekäme dabei so ein komisches Gefühl im Arm, als würde er einschlafen; und dann lasse ich mir mehr Zeit, als ich bräuchte. Sein Arm schläft nicht ein, er wird einfach nicht mehr so häufig berührt. Auf der Rückfahrt schauen zwei Katzen und ein Marder direkt ins Licht. Es gibt diese Stelle an der Straße, an der so viele leuchtende Fahrbahnbegrenzungen angebracht sind, dass es aussieht wie ein Bonuslevel bei Grand Theft Auto. Oder eine Landebahn. Wir müssen öfter wiederkommen, ich will sehen, wie hoch der Fingerhut es schafft.

Ich halte das Glas Gin Tonic über das Geländer und es ist einer dieser Momente, in denen man sieht, was passieren könnte, eine Sekunde in zweien. Und sich dann fühlt, als habe man alles im Griff, weil man das Glas eben nicht fallen lässt, sondern fest umschließt, nicht wegsieht, obwohl es so blendet, nichts sagt, obwohl man könnte, sich einfach nicht bewegt, obwohl es von allen Seiten zieht, die Häuser nicht zählt und den Weg nach Hause ein bisschen langsamer fährt.

Die Vögel im Hof sind zurück. Man sieht sie nicht, aber wenn man morgens aufwacht und das Fenster sowie die Tür zum Bad offen lässt, kann ich sie hören. Manchmal wache ich von ihnen auf. Die Geräusche werden sich verschieben, wenn die Ampel kommt. Sie steht schon, aber es hat sie noch niemand angeschaltet.

Wir fahren unter das Dach der Tankstelle, hinter uns fährt ein dunkelgrüner Oldtimer, aus dem Jugendliche steigen, die aussehen wie aus einem Werbespot mit diesen Barbiefrisuren, die immer sitzen, egal wie sehr sich die Menschen darunter bewegen, es bewegt sich kein einziges Haar. Nichts schwingt mit. Bis der Wind kommt und den Schwarm an Pollen aufwirbelt, die plötzlich überall sind, als würden sie sich sekündlich verdoppeln, irgendwann ist alles weiß und der eine Junge, es ist der, der fahren darf, neben seinem Wagen steht und aussieht, als sei er grau geworden, weil sich die Sporen an seinem klebrigen Haar festsetzen. Man ahnt plötzlich, wie er aussehen wird in zehn oder zwanzig Jahren. Am See fällt die Sonne in Fetzen an den Blättern vorbei auf den Boden, als müsse sie jemand einsammeln und zusammensetzen, und direkt über uns in dem blauen Stück kreuzen sich die Spuren von zwei Flugzeugen.

„Ich darf ja nichts sagen, ich gehe schließlich jetzt nach Hause und halte mich beim Schlafen an einer Glühbirne fest.“ Wenn sie alt ist, werde ich ihr noch einmal davon erzählen, obwohl sie es nicht vergessen haben wird, mir zuliebe wird sie dennoch so lächeln, als wisse sie es nicht mehr ganz so genau. Sie weiß immer.

Man kann nur neben manchen Menschen wirklich gut sitzen. Und dann ist plötzlich Juni.

La Gomera #8

An der Stadtmauer von Alojera stirbt eine kleine Katze vor sich hin. Die Schale mit Wasser rührt sie nicht mehr an, wir gehen weiter dorthin, wo das Meer mit voller Wucht gegen den Strand und die Kaimauer knallt, von der nicht mehr so viel, aber genug übrig ist, man sieht, wie das Meer an den Kanten nagt, das Ufer hat aufgegeben. Eine richtige Abfahrt mit Haltepunkt gibt es nicht mehr, wir parken dort, wo auf großen Schildern in allen erdenklichen Sprachen vor Steinschlag gewarnt wird. Hier lebt kaum noch jemand. Außer vielleicht der Frau Mitte Vierzig und ihrer Mutter, die in der einzigen Kneipe zwischen den eng stehenden Häusern steht und so tut, als kämen sie gleich. Also die, die man gerade nicht sehen kann und die vermutlich nicht mehr kommen werden, als wären sie nur kurz ausgeflogen. Im Fernseher in der hinteren Ecke läuft ein Western, in der Kühltruhe liegen Eissorten bereit. Hinter der Bar hängt ein Blatt Papier in einer Plastikfolie an Reißzwecken: „Bück dich vor niemandem“ steht in Spanisch darauf. Die dürren Katzen unter den Tischen draußen sehen erst auf den zweiten Blick so aus, als lägen sie auch bald neben der Mauer. Bis dahin zerfleischen sie abwechselnd einen zuckenden Salamander mit Blick auf das Boot, das auf den Treppen zum Strand hin angebunden wurde. Die Häuser sind nicht verfallen, manche scheinen frisch gestrichen, frisch verriegelt, die Gardinen haben noch keinen Gilb angesetzt, aber die ersten Spinnweben klettern langsam an den Balken hinauf. Auf dem Tresen des zerfallenen Motels steht noch das Welcome-Schild, sodass der Blick direkt drauf fällt, wenn man durchs Fenster sieht. Da steht noch ein Sofa, das man nur mit dem Blick einfach kurz zurechtrücken müsste, im Raum ein bisschen fegen, die blaue und grüne Farbe an den Fensterläden erneuern. Der Tischtennisplatte auf dem Dach die andere Hälfte zurückgeben. All die guten, bunten Häuser stehen leer, es gibt kein Geräusch außer dem Meer, außer dem Wind, und man merkt erst eine Sekunde zu spät, wie seltsam das klingt. Man sieht die Einsamkeit in den Löchern unter den Treppen vor der Eingangstür, die Einsamkeit, die sich einstellt, wenn jemand gegangen und weggeblieben ist ohne Bescheid zu sagen.

Zurück daheim dem Knistern der Palmenblätter zuhören und dem Rauschen, das vom Berg herkommt, weil dort der Wind durch die Bäume fährt. Wäre ich ein Kind, das Leben hier würde sich allein an den handtellergroßen Maracujablüten bemessen, die aussehen wie Ufos, an dem Winseln der Katze, die immer viel mehr essen will als sie essen kann, an den wütenden Kohlmeisen, die in den knisternen Wedeln sitzen und sich in einem Singsang aufregen, den sie sich eventuell von den Menschen abgeschaut haben. Es ginge nur darum, passgenaue und biegsame Stöcker zu finden, die sich zu einem Kreis binden lassen. Es ginge darum, den Moment der Fähre nicht zu verpassen, Ama oder Fred Olsen, und dann auf das Geländer zu steigen und „Amerika!“ zu rufen, obwohl es nur Teneriffa ist, was sich an der Horizontlinie türmt. Es ginge nur darum, solange zu bleiben, bis die Fährspuren sich wieder mit dem Meer verwoben haben, darum auszuhalten, dass es eine Weile dauert, nur darum, den Blick auf die Spuren im Blau zu legen, vor dem Verschwinden nicht loszulassen.

La Gomera #7

Vor der Wanderung ins Tal liegt oben an der Kurve dieser Hund unter der Leitplanke. Man weiß nicht, ob er schläft oder schon so tot ist, ich nähere mich langsam, dann bewegt er die Augen doch und die Pfote und den Schwanz und nach einigen langen Sekunden rappelt er sich langsam und behäbig auf, schief, als täte ihm die Hüfte weh, er schaut nicht genervt, aber zumindest so, als hätte er all das schon mehr als einmal erlebt, die bereits heiße Morgensonne, den Staub an meinen Füßen, meine ausgestreckte Hand. Aber dann setzt er sich doch neben mein Bein und lehnt sich an, er bewegt sich nur langsam, trinken will er nicht, aber sich anlehnen findet er gut, wir machen das eine Weile, bis die Sonne immer höher steigt und wir los müssen. Er humpelt zur kleinen Treppe am Eckhäuschen und legt sich dahinter. Die Strecke an der Wand hinter Arure scheint auf den ersten Blick so, als würde man sich nach der Hälfte langweilen, man steigt steil hinab ins Tal, mal geht es sanft bergab, mal nehme ich alle Hände und Füße zu Hilfe. Auch hier kommt das Gefühl nach einigen Höhenmetern zurück, obwohl es ja bergab geht, das sich damals in Bad Gastein am zweiten Tag einstellte, das Gefühl von, ich kann’s ja doch noch, das Kriechen und Krauchen, den eigenen Körper mit den eigenen Knien hinauf drücken und runtertragen, schleppen und voranbringen. Und wieder will ich den Ärzten, die sagten „Davon werden Sie sich vermutlich für immer verabschieden müssen“, zumindest eine Postkarte schicken. Keine Langeweile, nur dieser Fokus, das Körperliche und dazwischen schauen und atmen und sich an den Pflanzen und den Dornen, dem kleinen Bach vorbeidrücken, den richtigen Abzweig suchen, einfach laufen. Unten im Dorf warten drei aggressive, winzige Köter neben großen Kakteen auf uns, die Taverna hat zu, in ihrem Schatten unter dem Balkon essen wir Pistazien und Äpfel und hoffen, dass das Wasser für den Aufstieg reicht. Und am rechten Talhang schieben wir uns zurück hinauf, zwischen den Kiefern entlang, unter denen es angenehm kühl ist, noch ein Stückchen weiter hinauf bis in die Wolken zurück, die aus den Wellen aufzusteigen scheinen, bis zu den Ziegen zurück und dem Wind und es nimmt mir noch immer jedes Mal den Atem dort oben, weil die Geschichten, die Opa früher immer von den Bergen erzählte, nun anders klingen. Ich verstehe sie jetzt. Und die anderen haben sich alle geirrt. Er hebt nur kurz die Pfote im Schatten des Autos, als wir wieder an ihm vorbeilaufen, dieses Mal langsamer, er kennt uns ja jetzt.

La Gomera #6

Am Sonntag verstecken sich die Menschen in Agulo, falls es überhaupt mehr Menschen gibt als jene, die uns vereinzelt über den Weg laufen; eher huschen als laufen. Der ältere Herr, der die etwas jüngere Dame fragt, wo sie herkomme. „Von den Blumen!“, ruft sie und winkt ihm lachend zu, er humpelt ihr mit seinem Stock entgegen, das Geräusch des Stockes rollt die schmalen Gassen entlang, in denen man im Schatten läuft, weil es in der Sonne zu warm ist und weil man im Schatten besser schauen kann, besser erkennt. Später die zwei Männer mit den sich unter quietschbunten T-Shirts wölbenden Bäuchen, sie tragen Plastiktüten über den schmalen Weg zwischen Bananenplantage und Ortsgrenze, unterhalten sich laut und rufen am Ende des Weges laut den Autos entgegen, die sich vor der roten Wand die Serpentinen hinunter schlängeln, den Autos, die der Berg aus dem Tunnel spuckt. Es sind nicht viele diesen Sonntag. Wir essen neben einem französischen Wanderpaar, die sich das Wasser aus den gewöhnlichen Flaschen in grüne, bauchige Dreiviertelliterflaschen umfüllen am Tisch. Er studiert die Karte und lächelt sie unentwegt an. Sie diskutiert mit dem Kellner und steht später hinter ihrem Partner, als sie gemeinsam auf die Karte schauen, ihr Blick fällt dabei auf seinen Hinterkopf und irgendetwas gefällt ihr daran nicht, sagt ihr Blick, sie hebt die Hand, als wolle sie hineingreifen in seinen Igelschnitt, aber kurz davor zieht sie doch die Hand zurück, lässt sie sinken, hebt nur die Augenbrauen. Er merkt davon nichts, er schaut nur nach vorn und studiert die Strecke, die heute noch zu gehen ist. Der Mann mit dem großen Tattoo hängt auf dem Dach die Wäsche auf und sein Sohn hilft ihm dabei. Ein anderer kommt telefonierend aus dem Haus, mehr Menschen sehen wir nicht.

Oben auf dem Berg mit der roten Erde stehen plötzlich sehr viele Menschen und fotografieren von oben auf den Ort, sie stehen vor der Glasabsperrung, als markiere nur diese eine Sensation. Der Himmel zieht sich zu. Auf dem kleinen Skywalk steht ein älteres Paar, die Kinder führen sie bis nach vorne ans Ende, wo man sich fühlen würde, als stünde man im Nichts, wären da nicht die Schlieren auf dem Boden, vielleicht eher im Nebel stehen. Der ältere Herr mit Hut wankt dort, voller Ehrfurcht und schaut und winkt ab, als sein Sohn ein Foto von ihm machen will, vielleicht braucht er das nicht mehr. Dafür verschränkt er die Hände hinter dem Rücken und senkt den Kopf. In der Ecke telefoniert der Kellner und poliert Gläser. Die Festtagsgesellschaft wird mit dem Bus ankommen, in der Zeit kann man nicht nach unten fahren, weil die Straße nicht breit genug ist. Der rote Staub fällt noch Tage später aus den Schuhen.

K. kann uns nicht sagen, was das Schwimmbecken neben vier riesigen Säulen früher mal gewesen ist. Man klettert erst über die Absperrung, läuft dann den staubigen Weg nach unten, das Meer wirft sich an die Klippen daneben, überall kleben Schilder, man solle aufpassen auf den Steinschlag, die großen Brocken liegen überall. Und man will gar nicht nachlesen, was das früher einmal war, was sich dann vor einem auftut, eine zerfallene Terrasse mit kleinen bunten Häuschen, in denen niemand mehr sitzt und aufs Meer schaut oder Eis verkauft, man könnte aus ihnen heraus sehr gut Eis verkaufen, das Orange und das Rosa und das Blau hängen hin großen Fetzen herab, aber strahlen noch immer, wie sich das mal jemand ausgedacht hat. Damals, als die Dächer dem Steinschlag noch nicht nachgegeben hatten. Dahinter dann die Treppe nach unten und der Blick auf die sanften Übergänge zwischen Meer und Schwimmbecken. Das eiskalte, stille Wasser geht einem nur bis zum Hals. Beim Schwimmen habe ich trotzdem das Gefühl unter mir geht die Tiefe endlos weiter, als würde ich in einem aufgegossenen Hochhaus schwimmen, neben mir die Fische. Zwei, drei Seeigel wohnen in den Ecken, der Rest ist mit weichem Algenteppich bedeckt, und man kann ohne Probleme stundenlang sitzen und dabei zusehen, wie sich das Wasser über die Felsen, über den Beton rollt, wie es sich selbst auffüllt, als brauche es nichts und niemanden sonst. Auch so ein Ort, wo man ganz genau sieht, was man eigentlich nicht sehen kann und nie sehen wird, und wo man okay ist damit. Die eigene Unzulänglichkeit zu den anderen werfen und einfach warten, was passiert.

An Sonntagabenden gehen K., C. und die Kinder hoch an die letzte Kurve der Straße, die nirgendwohin führt. Sie schreien dann ins Tal, alle zusammen, die Kinder am lautesten. Irgendwohin gehen und die Welt in regelmäßigen Abständen anbrüllen, sodass es niemand abbekommt und dann nichts mehr mit hinunter nach Hause nehmen. Ich habe selten ein schöneres Ritual gesehen. In der Nacht randaliert die Maus im Abwasch und findet nicht hinaus.