Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: En Känsla

Die zweite Woche Jahr

Zürisee

Manche Dinge kann man nur in der Dämmerung aufschreiben, weil dann die Welt die Klappe hält, weil man selbst noch nicht so eingestellt ist wie sonst und vielleicht auch so früh am Morgen eher sagt, was man wirklich meint, also dort, wo man es nicht unter Kontrolle hat. Dann noch ein Schläfchen, mit der Decke über allem, was beschützt werden muss.

Das erste Buch 2016 zu Ende gelesen. Auerhaus. Bov Bjerg erzählt darin, wie es ist, mit jemandem zu wohnen (nicht nur in einem Haus, sondern auch in einem Leben), der manchmal leben will und manchmal nicht und davon, wie man es nie ganz kapiert, wenn man selbst nicht weiß, wie es ist, gar nicht mehr leben zu wollen, und wie man sich dreht und wendet und manchmal hofft, im anderen wäre es vorbei gegangen, das mit dem nicht mehr wollen, und wie es dann doch nicht vorbei ist.

Von der Kunst, Einflüsse als solche zuzulassen. Das etwas in dich hinein fließt, aber auch wieder raus kann, etwas, das nicht sofort dein eigenes Bauchgefühl aushebelt, aber auch die Möglichkeit hat, Spuren zu hinterlassen. Kommt vermutlich aber auch auf die Beschaffenheit des Bauchgefühls an. Dennoch: Semipermeabilität war schon immer eine große Aufgabe.

Beobachtet: dieses Ringen um Meinungshoheit von Eltern(sorten). Jochen König darin als spannenden Neuentwurf gehört. Warum haben eigentlich nicht mehr Freunde Kinder miteinander?

Feststellen, besser geworden zu sein im Wissen um den eigenen Radius. Also wie viel Luft es braucht und wie viel Platz und was darin stehen kann und was im Gefüge eher stört. Noch zaghaft, aber (und wäre wankelmütig hier ein passendes Wort, ich würde es verwenden, weil es eigentlich so schön klingt ((wenn man mutig ist und zwar wankt, aber ach)) es ja dann aber doch meistens sowas wie ‚mankelwütig‘ meint im Sinne von irgendetwas mit Unbedachtheit und Wut und Unsinn) im Zentrum der Zaghaftigkeit dann aber spürbar bestimmter als früher, man muss sich ja manchmal erst einmal herantasten an neue Körper- und Lebensformen (die eigenen vor allem). Jedenfalls laufe ich die ganze Zeit mit dem Zollstock in mir selbst herum und denke „Oh“ und „Ah“ und „Achso“ und „Na hätten wir das mal früher gewusst“. Aber das haben wir ja nicht, deswegen vermessen wir erneut. Mit neuen Daten können wir arbeiten.

Es schauten nur die Flugblätter der Windräder aus den Wolken heraus. Als seien sie wahnsinnig hoch und es gäbe sonst nichts außer mit ihnen zu schneidende Schlagsahne.

Und dann sangen wir doch noch einmal „Starman“ mit Gänsehaut auf dem Kopf am Ende der Probe, als draußen schon der Barbetrieb losging. Wie so ein Plakat, das man aufhängt, wenn man eigentlich eine Postkarte schreiben will, aber nicht abschicken kann, weil alle Briefkästen der Stadt abgehängt wurden und die Türen unten zu sind.

„Als Kind war ich klüger als jetzt“, sagte Opa und saß in seiner Sofaecke mit dem Kissen hinter dem Rücken, dessen Stoff er damals unter seinem Hintern nach Deutschland geschmuggelt hat aus Zell am See. „Ich wusste immer, ich lebe in einer wahnsinnigen Zeit und ich wollte alles wissen. Und wenn du einmal alles wissen willst, hörst du ja nicht mehr auf.“

Das Dessert lag auf einem goldenen Pappteller in Zürich und ich könnte schwören, um meinen Kopf tanzte Lametta mit Armen und Beinen, als ich hinein biss.

J. verabschiedet. Alles wird anders die ganze Zeit. Wir könnten uns jetzt auch mal dran gewöhnen.

Die erste Woche Jahr

Baltic Sea

Das offene Fenster im Nebenzimmer vergessen und dann eintreten wie in eine andere Landschaft, in der kalte, feuchte Laken über den Feldern liegen, eigentlich ganz schön.

Ich muss das Buch nicht sofort schreiben. Ich lege die Gedanken neben die Seiten in die Schublade und warte einfach ab. Das wollte ich eh schon immer mal machen. Etwas irgendwo vergessen und es dann beim Aufräumen finden und es behalten wollen, mich zugehörig fühlen zu den Gedanken und Worte, sie mir zuschreiben und nicht wie etwas ansehen, in das sich Motten gefressen haben und das man daraufhin in eine Plastiktüte quetscht, die man dann mit dem Müll runterbringt, weil man zu faul ist zum Stopfen, oder es nie gelernt hat.

Gibt es ein Lexikon für Oberflächen, einen Thesaurus für Textur? Ich komme mir ständig vor, als hätte ich nicht richtig begriffen, wie sich Dinge anfühlen können/sollen/müssen, ich würde gern über Konsistenzen lesen, um mir selbst sagen zu können: „Ach das, das ist nur Abscheu, das muss sich so anfühlen, alles richtig, keine Sorge.“

In einem Haus zwischen dichtem Nebel sitzen und froh sein, nichts zu sehen. Einfach nichts außer ein paar Baumspitzen und Reif auf den Gräsern und die Fettstreifen, die Nase und Stirn an der Scheibe hinterlassen. Bis zur Heizung ist, soweit die Füße tragen. Später sich wundern, dass Teleportation immer noch nicht erfunden wurde. Immer. Noch. Nicht. Wie fühlt es sich an, sich aneinander festzuhalten und sich kurz aufzulösen, um woanders wieder zusammengesetzt zu werden? Kann es sein, dass dabei ein Teilchen vertauscht wird? Und dann läuft man für immer mit diesem Teilchen des anderen herum, das anfängt, im eigenen Körper zu funktionieren und Aufgaben zu übernehmen und mitzumachen? Als würde man die Augenfarbe tauschen und vergessen, dass das passiert ist.

In der Kälte fühlt sich Haut nicht mehr wie Haut an, sondern wie irgendwas anderes und für einen Moment ist das auch beruhigend. Also dass man selbst auch splittern kann, ohne sofort kaputt zu gehen.

Sowieso: Ahnungen weniger Gewicht zuschreiben, und den Fokus auf Fakten drehen. Etwas krächzend, aber mit der Übung wird man besser darin. Und drei Kilo leichter. Weniger meinen, mehr wissen. Mehr weggehen oder sich in Ruhe daneben setzen und zuhören. Gefasel ist eh kein gutes Wort.

Jemanden von hinten umarmen ist eine schönere Geste, als ich dachte. Denn der andere hat die Hände und die Augen frei und manchmal braucht man ja genau das und dennoch jemanden im Rücken.

Zwanzigfünfzehn

Skyfall

In sich Frieden machen, indem man erst ganz viel reinholt, eher ungewollt, vielleicht eher unachtsam, und dann wieder ausräumt, leer fegt, rausschmeißt, Gefühle und Entscheidungen selbst in die Hand nehmen, sich vor die Nase halten und bei Bedarf anbrüllen, sowieso auch mal brüllen, seit Jahren habe ich das nicht getan, dieses Jahr schon, wie erleichternd, dass das noch geht. Jedenfalls die Dinge in die Hand nehmen oder was auch immer ein Ding sein will, und einander in die Augen starren, ich habe gewonnen. Hinspüren auch, wo die Grenzen wirklich sind und nicht, wo man will, dass sie sind, weil das vielleicht hübscher aussieht oder sich so gehört oder einem das antrainiert wurde, wieder ein Gefühl für das Eigentliche entwickeln, vor allem in der zweiten Jahreshälfte, eigentlich wirklich erst dann, auch das mit der Freiheit. Die erste Hälfte war viel Übung und Nachwehen und Ankommen und auch das braucht Zeit. Sowieso auch: Zeit geben, mir selbst und anderen. Ebenfalls: Entscheidungen treffen. Und nicht darauf warten, dass das jemand anderen für einen macht. Die eigene Komfortzone verlassen, mutig sein, so ein Jahr war das. Sich selbst bewegen und nicht einfach nur passieren. Die wichtigste Anschaffung dieses Jahr waren die Wanderschuhe, die rührendsten Konzerte waren Die höchste Eisenbahn, Death Cab For Cutie und Oh Wonder, das wichtigste Album das neue von CHVRCHES, die wichtigsten Menschen rückten noch näher. Ein Jahr, in dem Energie freigesetzt wurde, endlich, ich mich von meiner Lieblingsbar verabschiedete, wir uns auf einen neuen Menschen freuen, wir einen anderen Menschen verloren haben, und gemacht und getan und still gehalten und viel geschaut und viel Kraft gebraucht, das habe ich. Ich bin stiller geworden, und klarer, als hätte jemand die Wogen gebügelt, anders, aber schön. Ich habe viel Ja und an ein paar sehr wichtigen Stellen Nein gesagt. 2015, auch ein Jahr der Berge, der Kaleidoskopbewegung. Und: I asked myself for peace and found a piece of me. Ziemlich okay ist ziemlich okay.

Daneben

Hand

(Wen anrufen?) Es sitzt dort, wo das Sodbrennen entsteht. (Wen sehen?) Es ist keine Angst, es ist eine Ahnung. (Wohin gehen?) Eine Annäherung an Orte, an denen man sonst nicht ist. (Wen festhalten?) Jemand hat an der Verbindung gezupft, zu denen, die man liebt. (Was tun?) Es ist die Skizze von etwas, das man selbst noch nicht erlebt hat. (Was fühlen?) Als habe man schon und noch nie davon gehört. (Wem zuhören?) Es schluckt Worte. (Was zulassen?) Es vervielfacht Schulterblicke. (Was zurückhalten?) Es flackert. (Was nachlesen?) Es verweigert sich. (Was fragen?) Plötzlich sehen wir mehr und weniger zugleich.

Sichelmonat

August

Immer im Sommer ankommen, wenn er beinahe vorüber ist, jedes Jahr. Also dass man ihn erst nach einer ganzen, beinahe vollständigen Weile nicht mehr in Frage stellt und er sich in genau diesem Moment umdreht und geht. Wenn man ihn nicht mehr anzweifelt, sich ganz fallen lässt, das ist schon eine Weile so. Nur Kinder nehmen den Sommer an, sobald er ihnen vor die Nase gesetzt wird, genau wie den Regen und den Nebel und jede Unmittelbarkeit, die unüberwindbar scheint, durch die man hindurch geht, weil es keine andere Möglichkeit gibt, jedenfalls keine, die man sehen kann. Später dann warten wir so lange, bis er uns überzeugt hat, der Sommer, und das sanfte Gefühl, dieses innere Aufgeben des Zweifels, das kommt meistens dann, wenn wir eh nicht mehr viel Zeit haben, wenn es schon egal ist, wenn es nur noch darauf ankommt, sich für jede Sekunde zu öffnen, dann sagt das Herz „na gut“ und der Bauch sagt „was soll’s“ und gemeinsam waten sie ohne zu zögern, bis sie bis zum Hals und darüber hinaus im See stehen (bist du eigentlich schon mal einfach weitergegangen, ist dir aufgefallen, dass man gar nicht einfach so in den See laufen kann, wie man will, weil es immer Auftrieb gibt, nur U-Boote können das und Tintenfische). Wie ein Fenster, das irgendwann den ganzen Tag angekippt bleibt, nehmen wir ihn an, und meistens, wenn das geschieht, kommt dann gar kein Gewitter, gar keine Offenbarung, alles bleibt noch einen Moment, wie es ist, nur das Fenster steht offen, nur die Luft ist neu. And you, you’ve been really good to me. From just being kind. To just being you.

Commotio cerebri.

Felden

Ein Jahr wie ein Leben, die Hälfte ist jetzt rum, von nun an ist einem alles egaler, sagen sie. Das ist die beste Zeit, sagen sie. Und ich halte meinen schwitzenden Kopf unter eine Pumpe, deren Schwengel mir auf den Kopf knallt. Eine Situation wie aus einem Comic mit Plonk und Sternchen und weil es so absurd ist, auch mit einem verirrten Lachen hinterher, einmal kurz nicht achtsam gewesen und schon hallt das Geräusch von Metall auf Knochen noch nächtelang nach, als hätte der Sommer mir eine gescheuert, aber keine Schlägerei, kein mit Bedacht gesetzter Schlag, sondern ein Schwächeln, ein Nachgeben des Wetters, zuviel Gravitation und dann auch noch mein Schwung, „das kann nicht gut enden“, sagen sie später in meinen Halbträumen, „das war ja klar“. „Akute, vorübergehende Funktionsstörung“, könnte man auch gut finden, wäre man in der Lage seinen Körper unfallfrei zu verlassen und die Dinge geordnet und klar von oben zu betrachten, kann man aber nicht, deswegen die Befindlichkeit nur mittelgut, als der Sommer sich danach in sich selbst übergibt, „etwas übertreibt“, ich beschwere mich nicht, ich liege in der Nacht, schwitze Laken durch, kann den Weg zum Kühlschrank im Halbschlaf (vermutlich schon immer), versuche, den Kopf ins Tiefkühlfach zu stecken, aber der Kühlschrank ist klein und der Kopf im Verhältnis (aber nur im Verhältnis) etwas zu groß, (kennst du das, wenn man meint zu spüren, wie das Gehirn an den Schädel klatscht?), und dann liegt man und merkt das Gepumpe von Blut und dem sonstigen Gelumpe, das durch einen hindurch muss, die Maschine läuft weiter, das kann sie ganz gut, das Jahr läuft auch weiter, das fragt man ja eh nicht, von nun an ist uns alles egal, „anterogade Amnesie wäre auch was für die Zeit nach Trennungen“, meinte L. neulich, „da könnte mal jemand ein Konzept für schreiben“, meinte sie noch hinterher und spuckte den Eiswürfel ins Gebüsch, „das hält man ja im Gaumen nicht aus“.

Dass wir vergessen und uns wieder wie selbstverständlich verlieren. In all den freundlichen Kleinigkeiten, die am Ende zählen werden. Essen und TV-Serien und Freunde, ein Kaffee auf dem Balkon, und der Hund, der nett schaut. Wir haben für Sekunden in die Hölle geblickt und sind gerade noch einmal davon gekommen.Es ist jetzt Juli, ein Jahr wie ein Leben, zur Hälfte vorbei, wir hecheln uns durch die Hundstage, wir beschweren uns nicht im gesprochenen Sinne, vom wortwörtlichen jedoch haben wir noch nicht genug Abstand, manchmal müssen wir uns vor Schaufenstern schütteln und wieder gerade hinstellen, man merkt das ja kaum noch, wenn man nur so geht. Ich habe dann wieder die Stimme der Ärztin im Ohr: „Vermeiden Sie ruckartige Bewegungen“. Okay, denke ich und lege mich sanft in die Kurve, so sanft und langsam, wie ich nur kann, das ist beinahe wie Einschlafen, aber auch das weiß man als Kind ja nie zu schätzen (wir sind jetzt erwachsen, auch wenn es nicht so aussieht), deswegen immer den Schildern nach, sanft in der Kurve, keine Eile, „das ist die beste Zeit“, sagen sie, „von hier aus kann man alles sehen“. Was war und was kommt und die seltsamen Menschen auf der Überholspur und das Getier am Wegesrand und man müsste doch ein Unmensch sein, würde einem nicht zumindest kurz schwindelig davon. Glaub mir, das Gewitter kommt bald und dann Fenster auf, Licht aus und warten.

Aneignung

Gans

Die Angst des älteren Kindes vor den Narben, das ungläubige Fingern um die Stellen herum, wo es schon schmerzt, aber noch aushaltbar, das Berühren der neuen Haut, das Ansehen, immer wieder Ansehen, das Pulen am Prozess der Wunde, so wie man kaum glauben kann, dass sich Schorf darauf legt, wenn das Loch nicht zu groß, nicht zu tief ist, die Akribie des älteren Kindes in der Beobachtung jeden Tag, die Begutachtung des eigenen Körpers in seiner Arbeit, in seinem Ausgleich eines Vorfalls, Biologie am wachsenden Subjekt betrachten. Im späteren Leben verlernen wir häufig das Befühlen der Wunde, geben das Urteil über den Zustand an Experten ab, und ich habe vergessen aus den Gründen auszuwählen, vermutlich macht es manchen Angst in das eigene Fleisch hineinzusehen, dem Verfall guten Tag zu sagen, wir lehnen uns zurück und lassen die Experten den Verband wechseln, anstatt mit großen Augen dazusitzen und zu sehen, was man da selbst über Nacht für einen Fortschritt gemacht hat, das ist ja auch mit den anderen Wunden so, wenn wir älter werden, wir warten ab und auf das Rezept und später starren wir ungläubig auf die neue Haut, die heller ist als das Drumherum, die faseriger ist als ihre Umgebung, die sich nicht schert um das, was war, sondern halt einfach ist, da erschrecken wir uns und niemand käme je auf die Idee zu sagen: Schau mal, Blödkopf, hab ich gemacht. Einfach nur durch essen und liegen und abwarten und Geduld. Die wenigsten berühren im ersten Reflex ihre neue Haut, sondern beäugen nur, ziehen die Augenbrauen hoch und begutachten, was nun daraus geworden ist von selbst. Die Identifikation mit der Wunde findet nicht statt, wir machen uns die eigene Veränderung nicht mehr zu eigen, sondern stehen außerhalb und sehen uns dabei zu. Und viele Jahre später wundern wir uns über das, was aus uns geworden ist. Die Rückeroberung des eigenen Körpers und der Entwicklung ist, was man uns dann neu beibringen muss (auch wieder für Geld), das Niederschmettern der verrückten Distanz zwischen uns und den Körpern und allem, was darin passiert, A, B oder C. Kreuz alles an, ist alles deins, hast du alles gedacht, gemacht, erwachsen. Als sprieße man aus sich hinaus. Dabei fallen wir so oft doch einfach nur in uns hinein. Es gibt nun einmal rekursiv aufzählbare Mengen, die nicht entscheidbar sind, mein Kind.

(Vorschlag in Vorsorge: Vielleicht hätten zwei, drei Fingerbreit jeden Tag schon genügt.)

Libelle

Zürich

Es gibt Menschen, die schalten an anderen Orten sofort Musik an, ich kenne nicht viele von ihnen, aber ich kenne ein paar. Sie setzen sich, sobald sie gelandet sind, Kopfhörer auf und folgen nur noch Buchstaben, die ihnen den Weg zeigen. Ich glaube häufig, mir würde das schwerfallen. Als würde ich die Fremde negieren, indem ich Vertrautes auflege, etwas drüber decke. Allein das Aufsetzen der Kopfhörer würde mir simulieren, ich hätte eine Ahnung, alles sei wie immer oder es bliebe zumindest ein Rest davon, als wüsste ich, wo ich bin oder wäre hier schon einmal gewesen. Und selbst wenn das stimmt, scheint mein Körper einige Minuten zu brauchen, um sich einzustellen auf den neuen Pegel, als hieße es, mich neu zu kalibrieren, neue Stimmfarben, andere Luft, verschobenes Grundrauschen. Ich brauche das sogar, wenn ich nur in Potsdam aussteige, manchmal genügt sogar ein anderer Bezirk. Als gehöre das zur Rüstung, die sich zurechtschiebt, sobald ich einen neuen U-Bahnhof verlasse. In Zügen, Bahnen, Bussen ist das anders, aber sobald der Raum weit ist und ohne Türen, sobald ich selbst gehen muss, sperrt mein Körper alle Poren auf, lässt das Neue hinein und richtet sich dann aus. Dieser Vorgang kann ein paar Minuten dauern, bitte brechen Sie ihn nicht ab.

Kiesbett

Strand

„Man kann sich nicht einfach umdrehen, weil es beim Menschen ja nicht einmal so ein richtiges Oben und Unten gibt, man kann sich nicht einfach andersherum legen, damit heraus läuft, was wie ein Steinchen in einem herumschwimmt, weil in einem vielleicht das Blut umzieht, aber das Blut nimmt auch nicht immer alles mit, nicht weit genug jedenfalls. Man kann sich nicht einfach umkrempeln, man wird auch nicht einfach so zu einem Grobstrickpullover, durch den alles fällt, Regen und Wind und Fluggeschwindigkeit und eben diese Steinchen, die nebeneinander so aussehen, als dürfe nie eine Welle kommen oder der Plastikeimer einer Urlaubsfamilie, ein Rentner mit einem besonderen Hobby oder einfach nur ein alter Hund. Wenn man sie einzeln findet später in Jackentaschen, nachdem sie durch das nicht mehr warme Jahr getragen wurden, wenn man sie dann findet, glänzen sie nicht mehr, die sind eher völlig stumpf dann, haben andere Farben und kleben einem unsouverän in der Handfalte, es ist nichts anders und eben doch alles, die wurden nicht einmal abgeschmirgelt, denn Taschentücher und Kaugummipapier und Schlüsselbänder sind relativ untalentiert, was das angeht, also die Schmirgelei von Strandgut, meine ich, und das Strandgut hat sich nicht verändert, aber wurde verkrümelt und diese Verkrümelung macht wirklich nur bei Teigwaren Sinn und dort ist sie zumindest meistens von wirklich kurzer Dauer. (…) Ich bin sogar noch einmal hingefahren, weißt du, ich habe versucht, alles zurückzubringen dorthin, wo alles richtig war, aber ich hab nichts mehr wiedergefunden, nur einen zerfledderten Zettel, eine Fahrkarte und eine Ahnung. Ich bin im Krebsgang über den scheiß Strand gerobbt und hab versucht, alles wiederzuerkennen, der Stein in der Tasche und der in der Faust sind nicht einmal beim Kopfstand an den richtigen Platz gefallen, obwohl ich reichlich dämlich mit den Beinen gestrampelt habe und mir Sand aus den Schuhen ins Nasenloch gerieselt ist, stundenlang hab ich da gestanden und mir lief das Meer in die unteren Wimpern hinein, oder halt das, was der Wind vom Meer rüberträgt, und später irgendwann klebten mir die getrockneten schwarzen Algen in den Hautrillen unter dem Knie. Es bringt halt auch nichts sich umzudrehen und zu schütteln, das habe ich ja kapiert jetzt, also auch, dass es ein Irrglaube ist, dorthin zurückzufinden, wo einen der Zufall ausgespuckt hat. Konnte der ja nicht wissen, dass das was bedeutet. Konnte der ja nicht wissen, dass ich doch noch einmal dorthin zurück will, haha, ich bin jedenfalls wirklich noch einmal hingefahren, aber ich hab die Stelle nicht gefunden, an der wir saßen, als alles richtig war, also habe ich mir den Kiesel in den Mund gesteckt, ich hab mich nicht getraut zu schlucken, aber ich wollte ihn aufbewahren, man soll sich ja auch aus Versehen oder mit Absicht abgeschnittene Finger in den Mund stecken, wenn man vorhat, sie wieder anzunähen oder annähen zu lassen, ich hab den Kiesel also unter der Zunge vergraben und dann war er irgendwann weg und ich hab gedacht, voll gut, einfach verschwunden, soll es ja geben, ist mir zwar noch nie passiert, aber soll es ja geben und selbst wenn man die Hoffnung an sowas schon aufgegeben hat, weiß man ja noch, wie sie aussah und schwups glaubt man wieder dran. Jedenfalls dachte ich erst: Soll es ja geben, der Stein ist weg! Aber er ist nur diffundiert, denn später als ich am Ufer saß, konnte ich ihn in meinem Ohrläppchen spüren, ich saß am Wasser, weißt du, und hab gedacht, das kann ja jetzt nicht sein, dass der einfach verschwunden ist, aber gut, manche Sachen will man ja auch gar nicht in Frage stellen und dann merkte ich, wie das warm wurde und fasste mit der Hand hin und da hab ich ihn gespürt und der ist nicht mehr weggegangen seitdem und jetzt steh ich da und bin die Frau mit dem Stein im Blut, der wandert in mir herum wie son Weißnichtwas und manchmal merke ich ihn besonders, wenn er in die Fingerkuppe rutscht, er reagiert nicht magnetisch, aber wenn ich ihn morgen zu nah an den Fön halte, den Finger, dann pulsiert die Kuppe mit dem Stein und das ist dann wie damals, ich weiß noch die Sonne und ich weiß, wie lächerlich es ist, wenn ich morgens zu spät komme wegen einem scheiß Fön, ich weiß, wie sehr mein Nachbar das hasst, ich weiß, er schläft lang, aber da muss er durch, der Nachbar, weißt du, manchmal spüre ich noch, wo der Stein ist, der schwimmt ja auch rum, und ich bin froh, wenn er im Finger sitzt, ich will den da am liebsten festketten, weil dann rutscht er mir nicht in die Lunge oder so, nicht unter die Fußsohle, ich will, dass der da bleibt, das sage ich ihm jedes Mal, wenn ich ihn erwische, aber er bleibt da nicht, er wandert rum, als würde er immer noch suchen ““ aber jetzt wo ich ihn verschluckt hab, immer mitnehme, ich werd den ja nicht mehr los, weißt du, jetzt muss wenigstens ich das nicht mehr.“

What you see is what you see.

Hearts

Morgens stand ich vor dem Spiegel, vorher kein besonderer Tag, und ich könnte nun nachschauen im Buch, weil ich ihn danach im Kalender markierte, aber das war ein Morgen wie immer, danach auch noch und trotz Markierung, und dann sah ich das weiße Haar. Ich bin jetzt 30 und dies ist mein erstes. Es war relativ kurz und richtete sich manchmal auf und um es mir genauer anzusehen, rupfte ich es aus. Vielleicht auch einfach aus Reflex, weil man das so beigebracht bekommt, jedenfalls bereute ich es ein paar Sekunden später schon wieder, als es auf meiner Handfläche lag und ich nicht wusste, wohin damit. Schmeißt man weg, so ein graues Haar, aber auch das erste? Die Babyhaare heben wir auf. Ich jedoch eigentlich nicht, weil sich in mir irgendetwas gegen das Sammeln und Verpacken in Boxen von Körperextensionen wehrt. Schon die Aufbewahrung der Milchzähne war nur so mittel meins, was ich merkte, als mir einer davon mal in der Hand zerfiel und damit auch jegliche Vorstellung seiner Beschaffenheit. (Für Konsistenz hat man immer wenig Gefühl, bis man sie am eigenen Leib spürt, die Vorstellung von Konsistenz ist meistens so vage, dass es möglich ist, sie an den Rand des Schlimmstmöglichen zu treiben.) Am Ende lag der Zahn zerfallen auf meiner Lebenslinie, viele Jahre später spürte ich noch einmal einen Milchzahn direkt in meinem Mund brechen. Auch so ein Konsistenzmoment, den man nicht mehr vergisst. Aber das hier war nur ein Haar, ein schneeweißes, ein paar Zentimeter langes Haar. Ich warf es weg. Notgedrungen. Fingernägel hebe ich auch nicht auf. Aber dieses Haar hätte ich dann doch lieber einfach dort gelassen, wo es gewachsen war. Auf der rechten Scheitelseite, vordere Mitte.

Ich dachte auf dem Weg in die Arbeit darüber nach, über meinen Reflex, das Haar auszureißen, das Gefühl, von dem ich immer eine Vorstellung hatte, über körperliche Veränderung und was man eigentlich erwartet. Ich bin aufgewachsen mit dem Grundgefühl einer Angst vor dem Älterwerden, ich begegnete in Gesprächen und in Magazinen Cellulite und Anti-Falten-Cremes lange bevor ich mich als Zielgruppe dafür eingestuft hätte. Und welche Chance haben wir denn? Über körperliche Veränderung zu reden, wie sie nicht passiert? Ich spüre jetzt, wie groß dieses mediengewordene Unbehagen war, bevor ich es am eigenen Leib erfuhr, wie man reingeredet wird in diese Komplexe, in das Hinterfragen des eigenen Fleisches und ob es die richtige Form und Temperatur hat, wie man nicht bestärkt, sondern vor allem verängstigt wird von Medien, Umfeld und Gesellschaft. Doch nun (ist mir neulich aufgefallen) und mittlerweile vor allem scheine ich von mir als Person ein anderes Bild zu haben als alle Spiegel dieser Welt. Dazu muss man sagen: ich besitze keinen Ganzkörperspiegel. Das war zum einen eine architektonische, zum anderen eine Körpergefühlsentscheidung. Ich wollte mich nicht mehr jeden Tag im Spiegel sehen. Nicht, weil ich den Anblick so schrecklich fand, sondern weil ich mich lieber wieder mehr spüren wollte. Was fühlt sich für mich gut an? Was möchte ich tragen? Und wie egal ist es eigentlich, wie das im Spiegel aussieht? Was daraus geworden ist: der Wunsch, keinen Ganzkörperspiegel mehr zu besitzen, also nie wieder. Und manchmal sehe ich mich in Schaufenstern und erkenne mich nicht. Da steht eine Frau, die, so glaube ich, so alt aussieht, wie sie ist. Eine Frau, die Falten um die Augen hat und Cellulite am Hintern (so sagen die selten besuchten Spiegel in Umkleidekabinen von Klamottenläden, nicht weil ich mich nicht sehen will, sondern weil ich mich von diesem Bild nicht mehr so abhängig machen möchte), eine Frau, die mittlerweile zwei Größen größer kauft als noch vor drei Jahren. Eine Frau, die nicht ganz so aussieht, wie die Frau in meinem Kopf. Sie sieht älter aus. Sie hat mehr Falten. Anscheinend hat sie auch demnächst ein paar graue Haare. Aber sie grinst.

(Und deswegen werde ich immer fragen „Wieso nicht?“, wenn jemand beschämt wegsieht und murmelt. dass er oder sie nicht über sein erstes graues Haar reden möchte. Ich werde es respektieren, aber vielleicht werde ich einfach von meinem erzählen und dann ist es nicht mehr ganz so schlimm. Vielleicht ist es sogar irgendwann einfach normal.)