Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: En Känsla

Fast 500

Bis jetzt sind es in Deutschland über 19.000 Menschen, die an Corona gestorben sind. Die meisten von ihnen vermutlich allein. An vielen hängt eine Familie, vielleicht Freunde, manchen hinterlassen niemanden, aber dennoch ein Leben. Es macht mich in diesen Tagen abwechselnd sprachlos und in dem Sinne wütend, dass mir die Wut in die Glieder fährt. Eventuell kotze ich dem nächsten, der mir sagt, wir hätten doch noch genügend freie Intensivbetten, einfach vor die Füße. Vielleicht auf die Schuhe. Vielleicht auf den Pullover. Ich will immer sagen, die sollen auch frei bleiben, du willst da nicht hin, Kollege, du willst da wirklich nicht hin, denn wenn du da bist, dann ist es scheiße, nicht nur für dich, sondern für alle Beteiligten, wenn du da bist, ist die Kacke richtig am Dampfen, wenn du da liegst, siehst du das vermutlich anders, aber dann ist es zu spät, denn dann ist dein Bett nicht mehr frei. Mir geht es um den einen Millimeter den man die Seele weiter bewegen muss, aus sich selbst heraus an den Punkt, wo sie das Drumherum berühren kann, dort fühlt man, dass es nicht immer nur um einen selbst geht.

Die Geschichten der Kranken und Sterbenden und Toten werden selten erzählt. Denn die, die sie erzählen könnten, die haben keine Lobby, sondern etwas zu tun. Die versorgen, pflegen, operieren, die sind müde, die können nicht geradeaus gucken, die müssen irgendwie durchhalten, oder sie trauern. Und können dann eben in den meisten Fällen nicht einfach einen erfolgreichen Aufmacher schreiben, der auch noch hübsch bebildert und gut bezahlt ist. Die haben keine Kraft und keinen Nerv für sorgsam aufbereitete Tweets, Anträge, Gespräche, Hotlines, Pitches, die haben kein Publikum, und man stelle sich allein die Ruhe vor, die es braucht, um sich hinzusetzen und die Überwindung zu finden, das Innerste nach Außen zu kehren. Und die, die das gerade können, diejenigen, die Kapazitäten haben, die haben da mitunter eine Extraportion Energie und Lautstärke gefunden, die nicht alle geschickt bekommen. Es schreiben ja nur die, die gerade wirklich können. Und das sind nicht viele.

Is richtig, liest ja auch keiner gern, solche Geschichten. Ist unangenehm. Von Trauernden wendet man sich ab, weil sie einem zeigen, was sein könnte. Weil es weh tut zu sehen, dass jemand aushalten muss, was kaum auszuhalten ist, während man selbst dann auch noch aushalten muss, dass man nichts daran ändern kann. Das ist die schwerste aller Begleitungen. Aber die, die sich viele wünschen. Die, die anerkennt, wie schlimm und scheiße das ist. Die, die neben einem sitzen bleibt ohne auf die Uhr zu sehen. Die, die nicht versucht, das, was ist, zu ändern. Die, die nicht fragt: „Ist’s jetzt vorbei? Können wir weitermachen?“

Diese Geschichten sind oft die, bei denen man sich sagt „Ja, das müsste ich mal lesen, mach ich am Wochenende“ und sie auf den Stapel legt und irgendwann wegwirft. Weil es einem zwischen die Rippen zischen würde, sich zu jeder Ziffer ein Gesicht vorzustellen und einen Namen und ein Bett und ein Umfeld und Wunschlisten und Sockenpaare und Unverträglichkeiten und Sofakissen und eine Cornflakesschüssel und Zimmerpflanzen und Haargummis und Streitereien und Lieblingsbücher und Kühlschränke und Profilbilder und Wollmützen und große und kleine Lieben und Schluckauf.

Was schwer zu erzählen ist

Ich schwanke hin und her zwischen „Ich behalte es bei mir und mache es mit meiner Familie aus“ und „Ich erzähle es, denn dieses Virus ist nicht unsichtbar, es betrifft Menschen“. Mein Großvater hat Corona. Ich hatte es geahnt, als wir letzte Woche telefonierten, er klang schwächer als sonst, viel schwächer, man hörte es in seiner Stimme, welche Probleme er beim Atmen hat, er war verwirrter. Ich dachte erst, es könne auch die Depression sein, die sich jeden Winter immer breit macht, die seinen Körper dann meistens auch mitnimmt, ich hatte es gehofft (aber auch das zu schreiben fühlt sich bescheuert an, als gäbe es ein besser oder schlechter, das tut es nicht), ich hatte es gehofft, denn wir kennen sie schon und wir haben sie akzeptiert, zumindest wir haben gelernt, damit zu leben, mal besser, mal schlechter. Wir waren darauf eingestellt. Auf das, was nun ist, sind wir nicht vorbereitet.

Seit März denke ich den Gedanken immer mal wieder: Was ist, wenn er krank wird? Die Situation in den Pflegeheimen ist schwierig, das Personal knapp. Ich vertraue dem Personal in dem Heim, in dem Opa lebt. Die Menschen dort arbeiten hart. Sie setzen sich dem Risiko aus. Sie halten durch. Sie machen ihren Job, so gut sie können. Das System und die Gesellschaft unterstützen sie nicht dabei und sie machen es trotzdem. Jede_r von ihnen hat ein Leben zuhause, zu dem sie zurückkehren nach jedem Arbeitstag. Ein Leben, das trotzdem funktionieren muss. Ein Leben, das darunter leidet.

Wir leben in einer Pandemie. Es gibt keine 100%ige Sicherheit und es gibt keine 100%ige Kontrolle. Es gibt Möglichkeiten und Maßnahmen, die auch in dem Pflegeheim vom Opa ergriffen wurden, nun ist es trotzdem passiert. Er schläft viel, Fieber hat er keines, er kann schlecht atmen, er vergisst das meiste, hat starke Probleme sich zu artikulieren, sein Geschmack hat sich verändert, er erkennt viele Dinge in seinem Zimmer nicht mehr. Das hatte ich schon letzte Woche wahrgenommen, aber versucht, mich zu beruhigen, Möglichkeiten durchzuspielen und etwaige Handlungsstrategien auszuloten. Was nun ist, ist, dass man nichts tun kann. Außer anrufen. Jeden Tag anrufen. Wenn ein Mensch jedoch Demenz hat, vergisst er, dass er gerade telefoniert hat. Für ihn fühlt es sich an, als hätte ewig niemand angerufen. Nach ihm gefragt.

Was mir das Herz bricht, ist der Gedanke daran, dass die Menschen dort seit März niemanden umarmt haben. Sie haben ihre Familien nur auf Abstand gesehen, auf den Zimmern wenn überhaupt nur in voller Montur. Sie haben im März mal drei Wochen nur auf ihren Zimmern verbracht, als es im Heim die ersten Fälle gab. Nichts ist undurchlässig, es ist wieder passiert. Und das Pflegepersonal arbeitet sich den Arsch ab, im Frühling wurde applaudiert, jetzt ist dieser Applaus verstummt. Denn für die einen ist das Virus abstrakter geworden, weil es nicht mehr neu ist, eine Gewöhnung ist eingetreten, manche sind abgestumpft, manche haben noch nie daran geglaubt, manche haben es vergessen.

Viele Menschen in den Alten- und Pflegeheimen hatten im Sommer Angst, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen, mal wieder rauszugehen, und sei es nur für einen Spaziergang, weil diese diffuse Gefahr größer war als der Wunsch eine Runde um den Block zu gehen. Das beklemmende Gefühl davon, dass es da etwas gibt, das sie bedroht. Dass sie nicht wissen, wer von den anderen Leuten auf der Straße, im Laden, um die Ecke, im Park eventuell gefährlich sein könnte für sie. Diese unterschwellige, ständig klopfende Angst, das habe ich in mehreren Gesprächen mitbekommen, addierte sich zu der sowieso bestehenden Angst vor dem Sterben. Nicht vor dem Tod, aber vor dem Sterben. Vor Schmerzen. Vor noch größerer Einsamkeit.

Berührung und Nähe sind seit März zu großen Teilen aus den Alten- und Pflegeheimen gewichen (wenn es sie vorher gab, das ist die Voraussetzung). Man steht vor dem unlösbaren Dilemma der Frage: Lässt man Nähe zu für den Moment, für Körpergefühl, Wohlbefinden, Dopamin, Oxytocin, für das Gefühl von Zugehörigkeit und das vegetative Nervensystem? Oder bleibt man in der Distanz, um das Leben zu verlängern, um jemanden nicht einem gefährlichen Virus auszusetzen und eine Kette an Dingen auszulösen, die schlimme Folgen haben für die Person und das System? Es gibt kein besser oder schlechter in diesem Fall. Die Vorstellung, dass viele Menschen seit einem halben Jahr noch mehr als sowieso schon auf sich selbst zurückgeworfen sind, dass ihnen jegliche Berührung abhanden gekommen ist, dass sie einsam leben und vielleicht sterben, bringt mein Herz zum Platzen. Und meinem Großvater geht es gerade genauso. Er versteht nicht richtig, was da gerade los ist mit ihm. Aber durchs Telefon klingt es furchtbar.

Und ich glaube, dass man diese Geschichten erzählen muss, obwohl es weh tut, obwohl man sich von innen nach außen gekrempelt vorkommt, andersrum voyeristisch, wenn man das so öffentlich macht. Aber es geht hier nicht um Mitleid (die Menschen in meiner Familie und Wahlfamilie sind füreinander da, keine Sorge). Es geht mir darum, dass Menschen ihre Masken tragen (ich bin so wütend, die ganze Zeit schon, aber jetzt noch mehr, mein Großvater schafft es, eine Maske richtig aufzusetzen, warum schaffen es so viele nicht?), sich die Hände desinfizieren, dass sie es leichter machen für die, die es eh schon schwer haben, dass sie aufpassen aufeinander, dass sie Abstand halten, wo es geht, und nah sind, wo es nötig ist, dass sie hören, dass dieses Virus Menschen trifft, die von irgendjemand anderem geliebt werden, die jemanden lieben, Menschen, die leben wollen und sich das nicht ausgesucht haben, was hier gerade passiert.

Mähen

Ich bin euphorisch, als ich mich aus dem Auto pelle, beinahe hinfalle, weil ich zwei Stunden zwischen Kisten und Pflanzen und Zeug saß. Ich steige aus, die Seeluft schlägt mir entgegen (gibt es eine Verniedlichungsform von schlagen? Sie schlägt mich nicht brutal, es sind eher viele sehr kleine Fäuste, vielleicht Pfoten, mit denen sie an mein Gesicht klopft). Ich bin fünf Monate nicht hier gewesen. Der Ginster sieht aus, als wäre er in einer Flugrolle aufgehalten worden und jetzt hängt er da, einzelne Äste bereits verblüht, abgestorben, aber das Restgelb sticht dann doch alles. Die Hecke franst sich an den äußeren Rändern in die Wildblumen, die Rose macht ihr Ding in alle Richtungen, doch der Pfirsichbaum ist relativ kahl und auch der große Apfelbaum, den wir im Herbst eigentlich immer abernten und der sonst all seine Blüten und Früchte dem kleinen Parkplatz entgegen streckt, hält sich zurück. Ich schlage den Riegel am Gartentor zurück, Erinnerungsgewitter und Gerüche. Ein paar Meter weiter weht mir das Gras um die Knie.

Angekommen ist man, wenn man die erste Bachstelze gesichtet hat. Das geht schnell. Dann ausräumen, einräumen, sich Platz verschaffen, ich wundere mich immer noch über die Schichten und Lagen, die Opa in diesem eigentlich winzigen Häuschen hinterlassen hat, wie viel Zeug man eigentlich anhäufen kann. Er ist diese Generation, die kaputte Geräte nicht verschrottet, sondern aufgehoben hat, vielleicht als Beweis, vielleicht mit der Hoffnung einzelne Teile wiederverwerten zu können. Er hat nie irgendeines von den komplexeren Geräten aufgeschraubt, vermutlich ging es nicht darum. Am Ende konnte er immer sagen, er hat vier kleine Backöfen gehabt, fünf Wasserkocher, Teppiche, sehr viele Kabel, Glühbirnen, Behältnisse. Es ist immer noch so viel und man weiß nicht, wohin mit sich und dem Kram, ich muss immer sofort niesen, wenn ich eintrete, der Staub versteckt sich überall, aber wenigstens riecht es nicht mehr danach, nach den Jahren. Wir montieren ein Fliegengitter, um auch abends noch lüften zu können. Man kann hier so viel abwischen immer und immer wieder. Das Dach macht uns Sorgen.

Der See ist so kalt, dass es einem alles blitzdingst. Ich schaffe es beim ersten Mal nur ein paar Sekunden bis zum Knie, aber selbst das ist gut. Sobald ich hier bin, vergesse ich die Stadt und das geregelte Leben, ich lege mich in die Vorstellung davon, dass es wirklich nicht so viel anderes gibt als Heckenscheren und Saatgut und Dinge, die von A nach B gelegt werden müssen. Auch hier habe ich Listen im Kopf, aber die kommen und gehen und basteln sich alle zehn Minuten neu. Bei den meisten von den Dingen ist es nicht schlimm, wenn man sie nicht tut, alles nur Optionen. Die kleine Heckenschere hängt mir permanent in der Gürtelschlaufe. Am Ende werde ich vier Stunden im Beet gekniet und gesessen und Drübergewachsenes ausgerupft haben, das Telefon ist eingestaubt, aber es ist egal, man denkt eben an nichts, also wirklich an nichts und vermutlich ist das die Meditation, die bei mir in Berlin nie funktioniert. Hier machen meine Hände Kleinkram, meine Augen verfolgen das Geschehen und der Rest existiert einfach so vor sich hin, bis es Zeit ist, einen Kaffee aufzusetzen. Ich bin verschwitzt und verstaubt und springe am Ende doch in den See. Am Abend starrt man weiter so vor sich hin, erst in das Feuer und dann in die Glut, auf dem Kompost wächst ein Salat.

Die stillen Morgen hier sind mir die liebsten. Wenn die Vögel plärren, aber sonst noch nichts, wenn ich in der Sonne sitzen, Kaffee trinken lesen kann. Der Mohn wankt, man wirft hier und da einen Blick in den Himmel, auch so eine überflüssige Sache, weil das Wetter hier unberechenbar ist und ich das Buch über die Wolkenformationen eh noch nicht gelesen habe, es steht seit Jahren im Schrank. Letztes Jahr landete an so einem Morgen eine Meise auf meinem Knie, soweit sind wir dieses Jahr noch nicht. Die Luft über dem See aber flirrt, die Schnecken suchen sich einen Platz für den Tag, die Kirschen werden langsam rot.

They walk quickly along the street, side by side. They don’t touch. They rarely kiss. Their bodies have nothing to say to each other. They have never felt any attraction or even tenderness for each other, and in a way this absence of carnal complicity is reassuring. As if it proves that their union is above all bodily contingencies. As if they have already mourned the loss of something that other couples part with reluctantly, amid tears and rows.” (Leïla Slimani, Adèle)

Implikation, deren Umkehrung auch gilt

Sie sagt mir ihren Namen und ich habe ihn eine Sekunde später wieder vergessen. Dafür klappt das mit der Vene sofort, ich finde es ja im Gegensatz zu vielen anderen nicht beängstigend, wenn das Blut läuft und man mir einfach so zwei dieser Kanülen voll abzapfen kann, es hat auch eine ganz gute Farbe, und während sie vom Plasma redet, gucke ich in die Fenster gegenüber, wo sich gerade jemand streckt in einem hellblauen Pullover, der ihm über das Gesicht rutscht. Später wird man in der Herzkurve die Stellen sehen, an denen ich gegähnt habe.

Als wir da an der Straßenecke in Mitte sitzen, S. und V. und ich, und essen, schiebt ein Mann ein Fahrrad mit zwei Satteln und vier Pedalen und zwei Rädern vorbei und ich frage mich bis heute, ob es wirklich Menschen gibt, die es schaffen, damit nicht umzufallen, man serviert uns kurz danach Kopfsalat als Püree. Später rollern die beiden schlenkernd vor mir durchs Laternenkugellicht, und auch da weiß ich, daran werde ich mich später erinnern, das haben wir lange nicht gemacht, uns auf den Gepäckträgern von anderen gesetzt, und niemand, wirklich niemand kennt die Regeln für Fahrradstraßen, auch nachts nicht, schon gar nicht dann, wie ich es mag, wenn man den Abend miteinander verbringt in einem dieser Amüsierbezirke und jeder danach allein in sein Eckchen fährt, weil man meistens dabei ja noch immer aneinander denkt, also vor allem dann, weil das Reden dann aufhört, und einem die Dinge durch den Kopf fallen wie durch eine Schneekugel, die Sätze und Geschmäcker und Liedzeilen, die Pointen und Running Gags, die am nächsten Morgen schon keine mehr sein werden, die erfahrenen Dinge und die dann doch gesagten, wie man dann auseinander strebt mit quietschenden Kugellagern und wäre das ein Film, würde man sich nebeneinander schneiden, beim Hochgehen, beim Aufschließen, beim Tasche-in-die-Ecke-Werfen, Jacke aufhängen, Schuhe ausziehen, Fenster öffnen, sich rauslehnen, nicht nur lehnen, auch rausgucken, den Mond kurz suchen, Mond finden, im Stehen die Socken ausziehen, die Socken genau da liegen lassen, wo sie hinfallen, Licht aus.

Es wird jetzt wieder früher dunkel, das Licht hat diese Herbstwärme, in der es nicht mehr so blendet, sondern sich wie Arminnenflächen an einen heran legt. Sonntagmorgen noch hat es so geregnet wie sonst Ende September. A. sagt: Man sieht ihn nicht, man spürt ihn nur. Am Abend komme ich noch einmal in den Regen, er ist jetzt gewachsen, man kann ihn sehen und spüren und schmecken und alles ist sofort nass. Als ich an der Ampel auf dem Rad warte, hält der Mann auf dem Bürgersteig seinen Schirm unauffällig so, dass ich zumindest für die Rotphase nicht nass werde. Das sind diese Schlenker, die der Sommer macht, damit man sich ausruhen kann, liegen und lesen ohne schlechtes Gewissen, drinnen, wo man sich auskennt.

J. kommt gerade telefonierend über die Straße, als ich mit dem Rad über den Bürgersteig rolle. Wir haben beide nicht miteinander gerechnet, denke ich, und möchte diesen Zufall loben, als sie sagt, sie hätte gerade zweimal versucht mich anzurufen, um zu fragen, ob ich mit ihr ein Radler trinken wolle. Wir nutzen die Gelegenheit, und jedes Mal, wenn es mir passiert, dass ich unverhofft jemanden treffe in einer Gegend, wo ich nicht damit rechne, jemanden zu treffen, den ich mag, gluckst in mir diese Wärme hoch, die sich früher in mir breit machte, wenn ich vom Rücksitz aus auf der Heimfahrt von der Ostsee zum ersten Mal den Fernsehturm sah. Nur dass ich heute nicht mehr vorgebe, sehr plötzlich eingeschlafen zu sein, damit man mich nach oben trägt.

Wenn J. raucht, möchte ich sie immer sofort fotografieren, sie sieht oft aus, als wäre sie gerade erst aufgewacht, ohne Schlaf in den Augen, aber mit diesem sanften Blick die Straße hinunter, als wäre das hier kein Baumscheibenumgrenzungszäunchen, sondern eine Balustrade mit Ausblick, auf der wir angstfrei balancierten. Und als wir übers Schweigen sprechen, bekommt meine Anerkennung für all das nicht Gesagte eine Form.

Too much pretense here

Abends als ich nach Mitternacht über die leere Wilhelmstraße unter dem vollen Grießbreimond nach Hause fahre, der Sommer ist da, er legt sich mit schwitzenden Armen auf unsere Schultern, als ich da fahre, wünsche ich mir wieder, ich wäre besser, disziplinierter im Auswendiglernen, denn dieses Lied von Kate Tempest ist eines der wenigen Lieder seit langen, das mich jedes Mal beim Hören, also dem richtigen Hören, in dem man nicht viel anderes tut, in dem die Worte und das Klavier der Motor sind und man sich fahren lässt, es ist also eines der wenigen Lieder, das mich zu Tränen rührt. Das Klavier ist gleichzeitig schwer und tragend, fordernd ohne zu drängelnd, selbstbewusst mit genug Raum für die Worte und es legt sich nicht wie der Sommer auf mich drauf, sondern unter mich, unter die Füße, unter die langsamen Schritte, unter das Vorderrad, unter meine Hände, die alles tun, was sie können derzeit, unter meine Augenlider ohne mir Licht zu klauen, ohne die Nacht zu stören, dieses Lied ist alles, was dieser Sommer ist, nicht das, was er sein könnte. Wann hast du das letzte Mal gedacht und in den Handgelenken gespürt, dass das hier unangenehm ist, aber nötig, dass hier anstrengend ist, aber ein dich dehnender Schritt, eine so dringliche Veränderung, die du wahrscheinlich irgendwann, aber erst einmal nicht vergessen wirst, weil sie sich in deine Fasern setzt und nur langsam abgebaut wird? Dieser Sommer will viel und er wird es bekommen, dieser Sommer knarzt, aber so, dass man sich ihm erneut und immer wieder zuwendet, er macht einen Punkt und ich interessiere mich für die Person, die ich sein werde, wenn er vorüber ist. „The days are not days but strange symptoms“.

Flugmodus

Unser Flugzeug fährt langsam an gefrorenem Gras vorbei. An hellgrauen Fasern vor Schwarz. Dazwischen ein wenig besprenkeltes Beige der Start- und Landebahn, oder dem Zubringer. Ich glaube, wir sind noch auf dem Zubringer, wie der korrekt heißt, weiß ich nicht, aber ich halte Ausschau nach kleinen Mäuseaugen. Ich höre immer dasselbe Lied, seitdem ich wieder fliegen kann. Zum Start und zur Landung. Manchmal, wenn das Lied zufällig gespielt wird und ich mich nicht in einem Flugzeug befinde, bilde ich mir ein die Vibration zu spüren, den Druck hinter der Stirn. Fake Empire von The National. Als die Panik noch da war, versuchte ich, mich mit dem Nachahmen des Klaviers abzulenken. Es ist ja so, dass 55% der Passagiere angeblich während eines Flugs stärkere Gefühle erleben als außerhalb eines Flugzeugs. So sagt es zumindest die Auswertung einer Studie von United Airlines. Die eine Begründung liegt im verminderten Sauerstoffgehalt in der Luft, damit schwinde das Urteilsvermögen. Die anderen sagen, es habe mit der Flughöhe, dem begrenzten Raum und den darin befindlichen fremden Menschen zu tun.

Bei Fake Empire spielt jede Hand einen anderen Takt, Dreiviertel gegen Vierviertel. Aber auch ohne Panik und mit wenig Übung wird man davon auf Dauer verrückt und wenn jemand im Flugzeug neben einem sitzt und sieht, wie man sich selbst auf den Oberschenkeln herum drückt, während man seltsam atmet, wird Panik mitunter ansteckend und Panik in Startsituationen bei mehr als einer anwesenden Person kann niemand gebrauchen. Ich fliege gern, seitdem die Panik weg ist. Am liebsten nachts. Auch wenn es immer ein bisschen zu warm ist. Wenn der Horizont sich schief legt, setzt das Schlagzeug ein, unter uns die Glühwürmchenstadt, ein paar Raketen fliegen schon, den Rest brennen sie in zwei Stunden ab, ich fliege so früh, wie ich muss und so spät, wie ich kann. We’re half awake in a fake empire.

Mittlerweile kann ich in der Luft sehr gut schreiben: Abhandlungen, Vorträge, Gebrauchsanleitungen für Dinge, die keine Gebrauchsanleitung haben, Packungsbeilagen, Liebesbriefe, Randnotizen. Es ist ganz gleich, was man mir aufträgt, hier oben, nachts, da geht’s, in diesem verdrehten Licht, in dem die Menschen sich halbwegs leise ihre Aufregung weg- und die roten Wangen antrinken. Es ist der 31. Dezember. Die meisten hier haben Pläne, da ist der Weg nur der Weg und kein Ziel. Die beste Zeit ist, wenn sie dann irgendwann schlafen, das flugbegleitende Personal schnauft durch, schaut sich mit entspannteren Blicken an, legt sich selbst und die Gesten kurz ab. Man kommt meistens nicht drumherum den Menschen hier oben beim Schlafen zuzusehen, dennoch versuche ich, den Blick zu senken, niemand wird gern im Schlaf beobachtet, das ist auch so eine unrealistische Sache aus Filmen, da schauen die einen den anderen beim Schlafen zu und beide finden das meistens super, die Zuschauenden lächeln debil, diejenigen, die beobachtet werden, wachen auf und finden es nicht seltsam angestarrt zu werden, selten erschrickt jemand, die im Film Schlafenden wachen meistens sanft auf, niemand schreckt hoch, sie schauen wenig verdrießlich in die Welt und das Gesicht ihres Bettnachbarn hinein.

Ich schlafe außerhalb des Flugzeugs gern auf dem Bauch, das macht es schwerer beobachtet zu werden, der Welt den Rücken kehren und dann mit Kopfkissenstreifen im Gesicht aufwachen, es dauert meist ein paar Stunden, bis die Haut sich in den ursprünglichen Zustand zurückgeplustert hat. Die Kopfkissenstreifen auf der Wange sind auch im Flugzeug sehr kleidsam, ich mag, wenn man Menschen ansieht, dass sie sich gerade erst entfaltet haben. Als würde der Tag sich langsam in den Wangen ausbreiten, sich den Platz verschaffen, den er in der Nacht nicht gebraucht hat.

Nachts, wenn hier oben alle schlafen und einander nur anexistieren, bin ich neben einem Büro auch eine sehr gute Beraterin für alle Lebenslagen, ich beantworte im Stillen alle Fragen, die nicht gestellt werden, ich stehe mit Rat und Tat denen zur Seite, die mich nicht brauchen, ich habe keine Aufgabe, ich weiß hier oben wirklich alles, wissen Sie, was ich nicht wirklich wissen muss. Hier oben kann ich jede sein und niemand, es gibt keinen Abgleich, nur vorgegebene Prozedere, geübte Sätze und ein bisschen Überbrückungszeit. Das Flugzeug ist ein guter Ort, um von einem Jahr ins nächste zu kommen, es gibt keine Knaller oder Raketen, sondern nur ein paar nette Worte vom Menschen, der das Flugzeug fliegt, oder dem Menschen daneben. Einer von beiden sagt dann, dass sie alles im Griff haben, das ist ein schöner Satz vor einem neuen Jahr, ein schöner Satz, um sich zu verabschieden, es gibt einen Sekt aufs Haus und fünf Minuten später ist wieder Ruhe.

Niemand sucht ein Taxi, niemand ist enttäuscht, weil irgendjemand nicht pünktlich war oder keine SMS geschrieben hat, oder doch eine SMS geschrieben hat, aber mit den falschen Worten, niemand klaut heimlich die Weintrauben von den Käsespießen, niemand hat zu spät auf den Auslöser gedrückt, niemand kleckert auf den Teppich, niemand reißt sich zusammen aus Komplex, sondern vor allem weil alles andere nicht angemessen wäre. Hier oben fragt niemand, ob man noch was mitbringen soll, wo denn Tina und Martin bleiben, ob es noch ein +1 gibt, ob wir dann jetzt bald mal spielen, ob wir runtergehen oder das Feuerwerk vom Balkon aus anschauen, wo der Handfeger ist. Hier will niemand Drogen kaufen, nur selten sitzt jemand kotzend im Gang, und wenn doch, ist sehr schnell eine Tüte zur Stelle, niemand gießt Blei und erkennt nichts darin, niemand sagt, Wachs sei das neue Blei, niemand hört mit dem Rauchen auf, weil eh keiner rauchen darf, niemand ist um zwölf alleiner als die anderen, niemand kämpft mit den Wunderkerzen und niemand hat Angst, die Kuchenform zu vergessen. Niemand fragt, ob man nicht doch noch was trinken wolle, nur ein Gläschen, ach komm. Niemand tanzt. Niemand bleibt in der Ecke stehen, weil er sich nicht traut zu tanzen. Niemand probiert durchzukommen, niemand schreit ins Telefon, niemand legt auf, auch nicht zu früh.

Das Essen und die Getränke werden in winzigen Gefäßen gereicht, niemand fällt ins Buffet und wenn doch, dann bekommt es niemand mit. Alles hier oben wird auf seine elementare Winzigkeit herunter komprimiert, der Komfort, die Berührungen, die Kommunikation, die Ansprüche. Sitz, Tasche, Fenster, Ablage, alles ist kipp-, verschließ- und klappbar. Die Bibliothek besteht aus einer Anleitung zum Überleben. Es werden Chipstüten mit 15 Gramm Inhalt gereicht, vorne drauf ist das Foto eines Piloten zu sehen, der auch eine Pilotin sein könnte, das ist das Gute am Dämmerlicht, außerdem zu sehen sind ein Hund und ein Segelflugzeug. Irgendwann in ein paar Jahren werden sie die Kartoffelscheiben einzeln laminieren, weil sich irgendjemand nicht die Finger schmutzig machen will an frittiertem Gemüse irgendwo über dem Ozean.

J. erklärte mir neulich, dass wir einander oder die Dinge um uns herum nie berühren, das, was wir spüren, sei nur die Abstoßungskraft der Atome. Die Atome selbst kämen nie in direkten Kontakt. Das macht Sinn, denke ich, und erklärt einiges. Zwischen uns und allem in der Welt ist immer noch Platz, wir können uns nah sein, aber mehr wirklich nie. Ob das den Sekunden und Minuten genauso geht? Dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig. Null Uhr. Null Uhr eins. Unter uns leuchtender Plankton. Alles wie immer.


Dieser Text ist eine neue, längere Version dieses Textes hier. Und ich durfte ihn am 23.04.2019 in der Buchbox in Berlin bei der Buchpräsentation und Lesung von Sophia Hembeck vorlesen, für deren Einladung ich mich auch hier noch einmal sehr herzlich bedanke. Andere Autorinnen neben sich selbst auf eine Bühne zu holen, ist nicht selbstverständlich, aber wunderschön.

Geophyten

In der Bahn nach Hause riecht heute jemand nach gerösteter Reiswaffel, aber ich kann nicht ausmachen, wer genau (der innere Kritiker fragt sofort, warum ich schon wieder einen Text mit Gerüchen beginne, ich glaube, andere haben Hobbys, ich habe Schnupfen). Ich lese die ersten Seiten von Sašas „Herkunft“, schon bis Seite 9 kann ich nicht so viele Seiten umknicken, wie ich mir Sätze merken möchte. Berlin schwappt zwischen der hysterischen Sanftheit des Frühlings und dem ADHS des Winters herum, vieles verschwimmt, auch die Gesichtsausdrücke, Aliengefühle. Die Menschen wickeln sich so oft die Schals um den Hals und wieder ab, manchmal bekommen sie Muskelkater davon, nicht nur in den Armen, sondern auch im Gehirn. Wir tapern uns räuspernd langsam durch den Tiergarten, eben hat der Himmel noch in allen Farben krakelt und dann ist’s doch wieder einfach nur dunkel, die guten Dinge funktionieren saisonunabhängig, einander auf dem Heimweg nochmal kurz festzuhalten zum Beispiel, weil man sich den kleinen, ungeplanten Umweg wert ist. An den guten Tagen ist man zwar so müde, dass man kaum noch geradeaus schauen kann, aber merkt es nicht. An den schlechten schleppt man sich vorsichtig an den Rand, um nicht aufzufallen, dort gehen die Leute etwas langsamer.

Wir trinken die erste Weißweinschorle des Jahres ohne Jacke und in der Sonne und ich erinnere mich, ich habe das noch nicht so oft erlebt, dass Menschen Auseinandersetzung und Streit auch als Kompliment verstehen, als Hinwendung und sanften Wind, der ein bisschen was wegräumt. Ich verstehe die angezogenen Schultern, ich verstehe die Verteidigungshaltung, ich weiß, woher das kommt, aber wer Sprachlosigkeit erlebt hat, weiß die Wärme von Reibung zu schätzen, die Geste des direkten Blicks. Man braucht keine Einigung, um einander etwas wert zu sein. Und in Skepsis liegen auch Großzügigkeit und Tastsinn, insofern sie jemanden mitdenkt und nicht ausschließlich aus Reflex besteht. Wir sammeln einander also Flusen von den Pullovern und das Jahr ist schon wieder zu einem Viertel vorüber, wir pflücken auch Erkenntnisse und ernten nach lautem Lachen böse Blicke im Ruheabteil. In einem Einzelhotelbett kann man nicht so gut schlafen, stelle ich fest, weil es an allen Stellen viel zu schnell zu Ende ist. Wann hast du eigentlich das letzte Mal eine eigentlich unnötige, aber warme Geste geschenkt, die ohne Zweifel und genau so gemeint war? Schau, am Halleschen Tor blühen jetzt die ersten Büsche, manche bemerken das auch und ihr Blick wird ganz weich.

So when the ‚cause ain’t dead on arrival and you couldn’t shouldn’t wouldn’t for free, do not hang your cause on revival, cause now looking is bringing you grief. So when the cause is dead on arrival and you coulda shoulda woulda for free. I wouldn’t have forced it on the minute. It’s a very hard thing to have grief. Ah, give it a minute. We’re dancing in it.“ (Big Red Machine)

Rollwende

Wenn der Januar so ist, dass es danach nur noch besser werden kann, dann lohnt es sich vielleicht doch den Atem anzuhalten, um irgendwo anders wieder aufzutauchen und erst dort Luft zu holen für den weiteren Weg. Irgendwann später. Bis dahin kraulen. Sie sagen, Kraulen sei eine der einfachen Schwimmtechniken und eine der schnellsten, was beides praktisch ist, wenn man bedenkt, dass nicht sicher ist, ob im Falle des Januars nur eine Überbrückung von Zeit oder eben doch Strecke oder gar beidem von Nöten ist.

“Das Gesicht des Schwimmers weist zum Grund des Gewässers”, sagen sie. „Das ist machbar“, denke ich und senke den Kopf. Was sie einem nicht sagen, ist, ob man die Augen dabei geschlossen oder doch auf halten soll, und kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass das jeder für sich selbst entscheiden müsse, ich bin Anfängerin, ich brauche Geländer, könnten Sie mir bitte einfach sagen, was sich eignet? Irgendjemand erzählte auch etwas von ununterbrochenem Antrieb bei dieser Schwimmtechnik, „das ist vermutlich etwas Gutes“, denke ich und schaue mir selbst sehr viel auf die Füße. Wir stehen, es glitzert. Ich lüge. Es glitzert nicht, es wabert nur. Glitzern würde es, wenn hier Sonne hinein fiele, aber gerade lugt nur das Grau sehr neugierig aus der Dusche. Nein, es glitzert nicht. Und dieser Januar ist nicht glamourös.

Im nächsten Schritt geht es um die Atmung. Nur seitlich aus dem Wasser drehen, „der Kopf kommt nicht ganz raus“, sagen sie, das ist schon schwieriger, weil man ja dann hochguckt und den Beckenrand sieht, insofern die Schwimmbrille gut sitzt und man sich für die geöffneten Augen entschieden hat (was ich empfehle, wenn man nicht gerade angstfrei im offenen Ozean unterwegs ist). Alle zwei bis fünf Züge soll man also den Kopf hochdrehen und atmen, sonst macht man das ja automatisch mit dem Luftholen, jetzt soll ich zählen oder mich zumindest anders auf die innere Uhr verlassen, also Atmen nach Ansage, man könnte dabei durcheinander kommen, schließlich müsse man noch auf andere Dinge achten, sagen sie. Würde meine innere Uhr funktionieren, also so wie es in sehr klugen Romanen steht, von denen ich mir wünsche, dass sie etwas mit der Realität zu tun hätten, damit wir nicht hoffnungslos verloren sind, würde meine innere Uhr so funktionieren, wie es da geschrieben steht, dann wäre ich jetzt nicht hier und müsste diesen Unsinn nicht machen. Es ist nass, es ist kalt, man kann diesen Januar nicht einmal sarkastisch durch die Pfütze ziehen, denn die Pfütze ist zu flach und der Januar ein Arschloch. Und sowieso sagen alle etwas anderes, also was die Technik des Durchtauchens angeht, Nase zu, Augen auf, Augen zu, nicht atmen, später atmen, vorher atmen, springen, gleiten, koordinieren. Nur in einer Sache sind sie sich einig. In der Richtung. „Was sie nicht bedenken“, sage ich leise eher zu mir selbst als zum Publikum, „ist, dass auch vorn immer davon abhängt, wo man gerade steht.“

Anemogamie

Nun liegt eine dünne, hellgrüngelbe Schicht Staub auf der Tastatur. Das erste Drittel des Jahres ist rum. Sag das mal einer der blauen Stunde (aber wenn, dann nur leise). Sowas sagt man ja sonst eher im Fieber, also dieses ausschnaufende „Jetzt ist der April schon wieder vorbei, da steht der Mai“, wenn man hustet und schnupft und jedes Geräusch so laut an einem vorbeisaust, das man es nicht ignorieren kann, und erst wenn sie sich zusammentun, werden sie aushaltbar, Geräusche umarmen sich zu einem Rauschen, und Gefühle manchmal ja auch, obwohl es bei denen kein Wort dafür gibt.

Ich weiß noch, dass wir mit acht oder neun versuchten, unsere Ängste wie Hamster zu trainieren. Und Justus sagte: „Ich werfe nun diesen Blumentopf aus dem Fenster und hoffe, dass er niemanden trifft“ und dann nahm er Anlauf und dann knallte es laut und am Ende waren Scheibe und Topf entzwei, aber niemand gestorben. In diesem Viertel kam der Tod immer ohne Anlauf. Ohne Blumentöpfe. Ohne Fensterkrachen. Aber alle wurden getroffen. Und der Reststaub hat sich auf allem abgesetzt. Den Spülbeckenrändern. Den Sockenschubladen. Den Nasennebenhöhlen. Den Briefköpfen. Man erkennt einander daran. Die einen wischen das so weg, mit Staubtüchern, sehr gründlich. Die anderen halten die Hände rein. Fahren mit dem Finger darüber. Erinnern sich. Die wissen, das kommt immer wieder. Das geht nie ganz weg. Man braucht es gar nicht versuchen.

An Silhouetten gibt die Schwärze jedem Licht eine Chance.

Partielle Synonymie

Das Licht zwischen 19 und 20 Uhr an einem Apriltag ist das Licht, in dem ich mich verneige. Ich könnte das jetzt auf Englisch schreiben, dann wäre es direkt ein Lied oder zumindest ein Beginn, irgendwas, aus dem man noch was machen kann. Auf Deutsch klingt es wie eingequetscht zwischen Klopapier- und Schwammregal in der Drogerie am Platz. Aber es stimmt ja dann doch. Das Licht zwischen 19 und 20 Uhr an einem Tag in der Mitte vom April ist nun einmal das Licht, in dem ich mich verneige. An der Ampel zum Beispiel, so, dass es niemand anders sieht. Und vielleicht ist die Verbeugung auch nur ein ausladenderes Synonym für: „Ich habe dich wiedererkannt“. Ein Synonym für ein Zwinkern, die Bewegung der Mundwinkel, die da draußen keiner sehen kann, aber die bis in die Füße reicht. Das Licht an einem Apriltag so zwischen 19 und 20 Uhr ist ja auch das Licht, in dem sich alle ein bisschen verneigen. Vor dem Tag und dem, was davon noch übrig ist, und vor dem, was man geschafft hat, und was man nicht gesagt hat, obwohl man hätte können, vor dem eigenen Zusammenriss und der Nonchalance eines Atemzuges. Das ist genau das Licht, was man braucht nach diesem Winter, das Licht, in dem man sich pathetische Liebeserklärungen ausdenken kann, die man niemandem sagt, aber sich vornimmt, es zu tun, wann auch immer, das funktioniert auch zwischen Klopapier- und Wischlappenregal, man weiß das nicht, bis es einem passiert und dann kommt man raus, sehr beladen mit Dingen, die man auf Vorrat kauft, und stolpert ohne Grazie in das Licht hinein und oben am Himmel hinterlässt ein reguläres Flugzeug Düsenjägerspuren, die keine Düsenjägerspuren sind, aber so heißen, weil es kaum ein schöneres Wort dafür gibt und schöne Worte gehören auch in dieses Licht. Genau wie Überwindungen und aufplatzende Oberflächen und Knospen und dass man jedes Jahr wieder denkt, dass man sich früher aus Natur ja eigentlich nichts gemacht hat, aber plötzlich blinkert sich jedes kleine Fitzelchen Grün in den eigenen Weg. Das Licht jedenfalls an einem Apriltag zwischen 19 und 20 Uhr, das ist das Licht, in dem ich mich verneige, so wenig, dass es niemand sehen kann, mit acht Rollen Klopapier im Arm und drei Schwämmen im praktischen Kombipack und dann schaltet die Ampel auf Grün und allen, die über die Straße gehen, rutscht das Licht ins Gesicht für einen Moment, so lange nämlich wie eine Häuserlücke breit ist, und man kann dann ahnen, was alles sein kann. Man kann dann auch wissen, was alles schon ist.