Implikation, deren Umkehrung auch gilt

Sie sagt mir ihren Namen und ich habe ihn eine Sekunde später wieder vergessen. Dafür klappt das mit der Vene sofort, ich finde es ja im Gegensatz zu vielen anderen nicht beängstigend, wenn das Blut läuft und man mir einfach so zwei dieser Kanülen voll abzapfen kann, es hat auch eine ganz gute Farbe, und während sie vom Plasma redet, gucke ich in die Fenster gegenüber, wo sich gerade jemand streckt in einem hellblauen Pullover, der ihm über das Gesicht rutscht. Später wird man in der Herzkurve die Stellen sehen, an denen ich gegähnt habe.

Als wir da an der Straßenecke in Mitte sitzen, S. und V. und ich, und essen, schiebt ein Mann ein Fahrrad mit zwei Satteln und vier Pedalen und zwei Rädern vorbei und ich frage mich bis heute, ob es wirklich Menschen gibt, die es schaffen, damit nicht umzufallen, man serviert uns kurz danach Kopfsalat als Püree. Später rollern die beiden schlenkernd vor mir durchs Laternenkugellicht, und auch da weiß ich, daran werde ich mich später erinnern, das haben wir lange nicht gemacht, uns auf den Gepäckträgern von anderen gesetzt, und niemand, wirklich niemand kennt die Regeln für Fahrradstraßen, auch nachts nicht, schon gar nicht dann, wie ich es mag, wenn man den Abend miteinander verbringt in einem dieser Amüsierbezirke und jeder danach allein in sein Eckchen fährt, weil man meistens dabei ja noch immer aneinander denkt, also vor allem dann, weil das Reden dann aufhört, und einem die Dinge durch den Kopf fallen wie durch eine Schneekugel, die Sätze und Geschmäcker und Liedzeilen, die Pointen und Running Gags, die am nächsten Morgen schon keine mehr sein werden, die erfahrenen Dinge und die dann doch gesagten, wie man dann auseinander strebt mit quietschenden Kugellagern und wäre das ein Film, würde man sich nebeneinander schneiden, beim Hochgehen, beim Aufschließen, beim Tasche-in-die-Ecke-Werfen, Jacke aufhängen, Schuhe ausziehen, Fenster öffnen, sich rauslehnen, nicht nur lehnen, auch rausgucken, den Mond kurz suchen, Mond finden, im Stehen die Socken ausziehen, die Socken genau da liegen lassen, wo sie hinfallen, Licht aus.

Es wird jetzt wieder früher dunkel, das Licht hat diese Herbstwärme, in der es nicht mehr so blendet, sondern sich wie Arminnenflächen an einen heran legt. Sonntagmorgen noch hat es so geregnet wie sonst Ende September. A. sagt: Man sieht ihn nicht, man spürt ihn nur. Am Abend komme ich noch einmal in den Regen, er ist jetzt gewachsen, man kann ihn sehen und spüren und schmecken und alles ist sofort nass. Als ich an der Ampel auf dem Rad warte, hält der Mann auf dem Bürgersteig seinen Schirm unauffällig so, dass ich zumindest für die Rotphase nicht nass werde. Das sind diese Schlenker, die der Sommer macht, damit man sich ausruhen kann, liegen und lesen ohne schlechtes Gewissen, drinnen, wo man sich auskennt.

J. kommt gerade telefonierend über die Straße, als ich mit dem Rad über den Bürgersteig rolle. Wir haben beide nicht miteinander gerechnet, denke ich, und möchte diesen Zufall loben, als sie sagt, sie hätte gerade zweimal versucht mich anzurufen, um zu fragen, ob ich mit ihr ein Radler trinken wolle. Wir nutzen die Gelegenheit, und jedes Mal, wenn es mir passiert, dass ich unverhofft jemanden treffe in einer Gegend, wo ich nicht damit rechne, jemanden zu treffen, den ich mag, gluckst in mir diese Wärme hoch, die sich früher in mir breit machte, wenn ich vom Rücksitz aus auf der Heimfahrt von der Ostsee zum ersten Mal den Fernsehturm sah. Nur dass ich heute nicht mehr vorgebe, sehr plötzlich eingeschlafen zu sein, damit man mich nach oben trägt.

Wenn J. raucht, möchte ich sie immer sofort fotografieren, sie sieht oft aus, als wäre sie gerade erst aufgewacht, ohne Schlaf in den Augen, aber mit diesem sanften Blick die Straße hinunter, als wäre das hier kein Baumscheibenumgrenzungszäunchen, sondern eine Balustrade mit Ausblick, auf der wir angstfrei balancierten. Und als wir übers Schweigen sprechen, bekommt meine Anerkennung für all das nicht Gesagte eine Form.