Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: Blicke

Isochor.

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Es gibt diese Tage, an denen sich einem der Nacken pellt, die Fingernägel zu weit weg sind vom Nagelbett, man kennt das, die Luft zischt dann hinein wie Zahnseide zu tief. Diese Tage, an denen du zwischen all den Menschen auf der Brücke stehst und als einziger stehst, weil jeder andere läuft und rennt und schwirrt, diese Tage, an denen von jeder Seite Musik kommt und sich in dir zu einem Brei vermischt, der dir aus den Ohren und den Augen und den Poren kommt, diese Tage, an denen dir jeder ansieht, dass etwas verrutscht ist, diese Tage, an denen nach dem nullten Hauptsatz der Thermodynamik solange Energie vom wärmeren zum kälteren Körper übertragen wird, bis beide im thermischen Gleichgewicht stehen und alle sind wärmer dann als du, an den Tagen strömt auf den eigenen Kopf herab, so sehr und so viel, dass ein Einteilen in Strähnen nicht mehr möglich ist. Das Beste ist dann, einfach zu warten, sich ruhig zu verhalten, nicht versuchen, das Klopfen zu zählen, nicht damit anfangen die Faust zu ballen. Das hat nichts mit diesem Sprichwort zu tun, in der die Wange vorkommt und wem man sie hinhalten soll, es hat zu tun mit dem Körper an sich, und dass man versuchen muss, sich zu konzentrieren auf jeden Millimeter Epidermis, der standhält. Denn Temperatur ist eine intensive Größe, die auch durch Teilung gleich bleibt, sich zusammenhalten, sich auf die Risse konzentrieren und anspannen, das ist keine Energie, das ist keine Menge, nur ein stoffliche Eigenschaft. Sich bügeln, aber nicht krempeln, warten, bis es Abend wird, um zu wissen, das ist nur gefühlt, nichts physikalisches. Die Hand an der Stirn ist nur eine Zustandsbeschreibung, keine Charakterisierung, morgen früh hast du Tau auf dem Puls.

Lerchenkopf

Pugs

Die Verhedderung an sich ist unumgänglich. Ich kenne niemanden, der es schafft, sein Leben so zu führen, dass alles unwiederbringlich Sinn macht, dass es keinen Zweifel gibt und keine Verbrennung. Einige kenne ich jedoch, die zögern so sehr, dass sie natürlich auf der einen Seite alles in Ordnung bringen können, die bügeln und legen und ordnen und schmeißen weg und recherchieren, bevor sie etwas Neues in ihr Leben lassen, die wissen auch immer genau, wo was liegt und was in welcher Schublade vorhanden ist, manchmal vermute ich, diese Menschen kennen auch die genaue Anzahl der Haare auf ihrem Kopf an jedem Morgen und legen jene, die sie über Nacht verloren haben, in Reih und Glied auf den Nachttisch, um sie später abzuheften. Keine Sorge, ich habe nichts gegen gesunde Skepsis, ich gebe gerne auch etwas von meiner ab hier und da, ich habe reichlich davon, aber solche, die nur tasten und jedes Mal zucken, wenn es knallt, machen mir Angst, weil ich insgeheim glaube, dass sie schon viel älter sind, als sie zugeben, bei dem Weg, den sie in dieser geringen Geschwindigkeit zurückgelegt haben müssen.

Die Verhedderung machte ich mir früher zum Spiel, wenn ich mit meinem Großvater in den Garten fuhr, in einem dieser Abteile sitzend, deren Polster mit rotem Kunstleder bezogen waren. Nur durch Armlehnen waren die einzelnen Plätze von einander getrennt. Klappte man die Lehnen aber nach oben, konnte ich mich ohne Probleme längs legen und den Bäumen und Masten und Wolken beim Vorüberzischen zusehen. Mein Großvater trug manchmal Schnur in seinem Rucksack mit, er hatte eh immer Allerlei dabei, denn niemand wusste, ob wir nicht unterwegs eventuell verloren gehen würden, da bräuchte man auf jeden Fall Schnur und drei Sorten Unterlegscheibchen, ein Taschenmesser, einen Schraubenzieher, Briefmarken und auch etwas zu Essen. Manchmal schnappte ich mir das Knäuel Schnur und machte wahllos Knoten hinein, ich verwirrte den Faden bis zum letzten Zentimeter, nur um mich dann daran zu machen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Mein Opa schüttelte den Kopf, ich jedoch konnte mir teilweise keine schönere Beschäftigung vorstellen, als alles wieder fein säuberlich aufzuwickeln, auch wenn ich in den anderen Teilen meines Lebens nicht zu solcher Ordnung neigte. Fragen Sie meinen Großvater, wenn Sie ihn mal treffen, er wird Ihnen von den Fotos meines Kinderzimmers erzählen, auf denen kein Weg zum Bett zu erkennen war. In Handschrift hatte ich jedoch immer eine Eins.

Die Verhedderung erzieht mich. Sie zwingt mich, auszuatmen, langsam zu machen, mich zu erinnern, was ich eigentlich wollte und ob das hier immer noch der richtige Weg ist. Manchmal ist sie dabei nicht besonders sanft, die Verhedderung, was hin und wieder auch mit meinem Übermut oder zu großen Schritten zu tun haben kann, es hilft jedoch, sich dann Eis auf die Knie zu legen und irgendwo einfach anzufangen. Es ist nicht so, dass ich mir jede Woche ein neues System überlegen muss, aber vielleicht alle zwei Jahre. Als würde sich der Pullover nach und nach aufribbeln und irgendwann merkt man, dass es zieht an den Seiten. Meistens kommt es ganz langsam, der Druck nimmt nach und nach zu und fällt dann irgendwann in einem Faden aus meiner Hosentasche, weil der Platz nicht mehr ausreicht. Ich merke das, wenn mir im Bus Menschen auf die Hände sehen, weil meine Finger plötzlich von mir unbemerkt die leisen Bewegungen nachahmen, die früher im Zug immer geholfen haben. Etwas wird sich ändern, oder hat sich vielleicht schon, der Blick, die Sprache, der Grund.

Cold hands / hold hands

Tulips

Die Angst ist weg und das Unbehagen, und was gekommen ist, fühlt sich trotzdem seltsam an, weil mit dem offenen Raum auch die Möglichkeit auf Richtungen kommt, mit dem sicheren Boden kommt die Frage, was man damit an- und am Ende auch draufstellt, mit den schalldichten Fenstern kommt das Besondere der kühlen Nächte zurück. Die Angst ist weg und das Unbehagen, und was gekommen ist, schwirrt wie Nebel über den Büchern, wie Staub auf den Platten, es knistert wie hauchdünnes Eis auf dem Fluss, weil du weißt, jetzt ist die Zeit, von der du nicht wusstest, ob du sie jemals erreichen würdest, jetzt ist das Alter, in dem immer früher nur die anderen waren, das sind die Menschen, die auf die Sätze aus den Reportagen passen, jetzt hast du all das und jetzt mach was damit, zum Teufel, fahr es nicht gegen die Wand. Die Angst ist weg und das Unbehagen, und was gekommen ist, könnte man vielleicht Respekt nennen und ein neues Bedenken, Angst ist etwas anderes als Sorge, in Sorge steckt kein selbst, in Angst hängst du immer mit drin, aber die Angst ist weg, weil du in der Mitte sitzt und keine Wand im Rücken hast, aber einen Boden, der hält. Es wird nichts passieren, weil schon soviel passiert ist, das Schlimmste war schon, die See ist so ruhig, man kann bis auf den Grund gucken. Die Angst ist weg und das Unbehagen, du schüttelst ab, was sich über Jahre in dich hinein gefressen hat, es ist so viel Platz, und die Kunst ist dabei immer, nicht sofort loszugehen. Unterscheiden lernen und dabei keine Angst vor der Antwort zu haben, keine Angst, die ist fort. Dir kann nichts mehr passieren, weil dir schon soviel passiert ist.

Who does and who doesn’t.

Eins

Zwei

After all.

Captain Oats

Die gute Sache ist, dass mit zunehmendem Alter die Erkenntnis wächst, dass manche Geschichten dazu gehören. Nicht die, die man mit Begeisterung erzählt, sondern die, bei denen man ein bisschen einknickt, bei denen man kurz stockt, weil man nicht weiß, wo man anfangen soll, denen man ausweicht, wenn man merkt, dass sie kommen, auf einen zu und das auch noch in ansteigender Geschwindigkeit. Mittlerweile weißt du: Das ist okay. Es ist okay, sowas zu haben, diese Narben und die Stellen, wo es noch empfindlich ist, es ist in Ordnung, dass man dort nicht angefasst werden will und bei diesem einen Namen wegschauen muss, es ist wirklich in Ordnung, weil das jeder hat. Du schiebst diese Dinge nicht mehr weg mittlerweile, sondern lässt sie mitlaufen, du erinnerst dich bewusst, du erkennst ihre Farben und weißt, wozu sie passen und wozu eben nicht. Im Umgang übst du nicht mehr, den kannst du jetzt, auch wenn es noch immer keinen Spaß macht. Nicht jedes Jahr verdient ein Hallelujah, so what?

Erwachsen bist du trotzdem erst, wenn du angenommen hast, dass es immer ein oder zwei Geschichten geben wird, ein oder zwei Tage, von denen du dir immer, auch in Jahren noch wünschen wirst, sie wären nie passiert, ein oder zwei tote Winkel. Nur ein oder zwei.

These times when you forget about time.

I don’t need a watch, I do have my pace. The only meeting I have to remember is the one with the waves. And I bet the seagulls remind me of someone but this is not the case. This is not the case in so many ways. I am here and I don’t need time. Because there’s water beside me and the sea is mine.

Geodäsie am lebenden Objekt.

(Video (c) „You and Me and Everyone we know“ by Miranda July)

Sich selbst ein Ort sein. Das lernt man nicht von gestern auf heute. Und auf morgen vielleicht auch noch nicht. Die Sache mit dem Aushalten und dem inneren Juchzen, das nicht gehört werden muss und dennoch genügt. Das große Fressen, das Menschen hin und wieder miteinander veranstalten, und hier und da einen Finger mitgehen lassen, eine Hand, einen Arm, und mit dem Arm vielleicht ein Stück Herz. Solche Geschichten enden immer mit Resten, es ist selten so, dass du dir den vollgefressenen Bauch streichelst, während du den Abwasch machst, und alles sofort in Ordnung bringst. Das Stehenlassen der Dinge über Nacht, das muss man lernen. Und dass man nachts aufwacht und jeder Zentimeter um einen herum kühler ist als man selbst. In mehreren Orten gleichzeitig zu sein, an einem gewissen Platz nicht mehr stattzufinden, dich manchmal unsichtbar zu machen, das begreifst du nicht am ersten Tag. Am zweiten auch nicht. Aber vielleicht am sechzehnten. Vielleicht hast du ein paar Jahre lang nicht richtig in den Spiegel geschaut und es fällt dir erst auf, wenn er einen Sprung hat genau dort, wo deine Narbe sonst ist.

Nach Tagen oder Wochen

Das Ortsschild passieren, etwas wiedererkennen, den Müll im Fußraum schon einmal zusammenschieben, sich im Rückspiegel kurz anschauen und nicht mehr an der Tanke halten. Die Fortschritte der Baustelle erkennen, manchmal einen Nachbar auf der Straße, der gerade vom Einkaufen kommt. Und dann dreht man den Schlüssel im Schloss um und es riecht seltsam und noch fremd, erst ins Bad, dann durch die Zimmer mit dem Blick in den Hof und einmal kurz lüften und auf den Balkon treten und dann schnell wieder reingehen und noch keine Musik anmachen sondern sich einfach kurz auf’s Bett legen und die Decke anschauen, um sich dann aufzusetzen und die Taschen noch nicht auszuräumen, um dann einen Kaffee zu machen und die kalten Füße zu bemerken und den Wäschehaufen und das Rattern der Listenpunkte und was man davon zuerst und was erst später machen sollte und könnte und müsste – und denken, dass eigentlich immer eine Stunde Pause sein sollte zwischen dem Moment, in dem man die Tür aufschließt und dem Moment, wo man wieder zuhause ist, eine Stunde Beatmungszeit, in der man sich wieder aklimatisieren, einspielen und langsam in den gewohnten Modus fahren kann, eine Stunde Stillstand, in dem die Wolken anhalten und man den Kopf auf die Tischplatte legt, um zu horchen, ob alles ist wie vorher. Um Veränderungen bemerken zu dürfen und sich an den veränderten Takt zu gewöhnen, die Füße flach auf den Boden zu stellen und wieder hier zu sein, weiterzumachen. Und sich nicht darüber zu ärgern, dass man das Tempo so schnell verlernt, denn das ist ja der Sinn des Meerblicks, das muss ja so sein. Das ist ja der Grund.