Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: Berlin

Something in that tenderness

Auf dem Land früh aufwachen und nur in Latschen runter zum See gehen, bis zu den Knien nass werden vom Tau, die Frösche hören und die Vögel und nichts verstehen, nur die Ruhe, nur die Ruhe, einatmen ausatmen, mich an diesen Tag vor einem Jahr erinnern und wie anders alles war. Man kann sich häuten, man muss sogar vielleicht.

Der Herr hinter mir fragt zum dritten Mal in sein Telefon: „Can you save some dinner?“, die Frau neben ihm schaut ihn still und wütend an, sie erinnert mich an Cate Blanchett. Neben mir komponiert ein Mann ein LinkedIn-Posting wie einen Marsch auf dem Klavier, er löscht jedes zweite Wort, tippt es erneut, leicht verändert, seine Finger hüpfen auf und ab und hin und her, sein Handgelenk spielt eine wesentliche Rolle dabei. Nach einer Weile setzt er ans Ende des Textes ein Herz-Emoji und veröffentlicht ihn. Er schnäuzt sich, ich möchte glauben, zufrieden.

Als ich in der Badewanne lag, ist das große Handtuch dazu gerutscht, untergetaucht, hat sich verteilt zwischen Wasser und Haut, es wurde so schwer wie manche Tage, ich wäre beinahe liegengeblieben, aber das Wasser wurde kalt.

Irgendjemand sagte neulich im Bus zum Bahnhof etwas von einem verstauchten Knöchel, zwei jugendliche Jungs in einem Gespräch und ich dachte mir, das ist auch eine Art von Privileg. Also artikulieren zu können, wo der Schmerzt sitzt, wo er herkommt, zu wissen, wen man fragen kann, damit sich was daran ändert, zu wissen, dass sich höchstwahrscheinlich etwas daran ändern wird, nicht hysterisch zu werden. Und als ich dann am Zürisee herumlief mit J. und wir über den Zweifel sprachen, der sich eingeschlichen hat mit den Jahren und unserem Alter, der Zweifel darüber, ob unsere Geschichten aus weißen, privilegierten Haushalten überhaupt noch erzählenswert sind (denn erzählbar sind sie ja immer, das ist ein Unterschied), als wir von dem Zweifel sprechen und der Scham, die auch mitschwingt und noch etwas anderes ist als das Impostersyndrom, da fiel mir wieder ein, was ich vor fünf, sechs Jahren schon mal dachte, nämlich, dass man sich rantrauen muss an den Schmerz, um ihn aufschreiben zu können, unabhängig davon, was dann mit dem Geschriebenem passiert, die Herausforderung bestand für mich immer darin, hinauszugehen und all dem ins Gesicht zu sehen, was man sich ausdenken kann, man muss sich diesen Kampf ja liefern, auch mit dem, was man sich nicht ausdenken muss, bei dem auch permanent die Frage im Raum steht, wer zuerst wegschaut. Und man muss diesen Kampf gewinnen (so sehr ich kriegerische Metaphern auch hasse, das Wort Kampf ist mir noch immer zuwider). Und Juli Zeh sagte neulich in einem Interview, der Text sei ihr egal, es gehe ihr um das Schreiben, und der J. sagte auch, es gehe ihm um den Prozess, während ich auf die Masten der kleinen Segelboote schaute und verneinte. Das Schreiben sei furchtbar, geschrieben haben sei besser. Dann bestellte J. Mohnkuchen und jetzt weiß ich, ich hatte Unrecht. Ich hatte das gesagt, weil es die Antwort ist, die ich früher gegeben hätte. Ergebnisbezogen. Das hat sich verändert. So wie ich streiten gehasst habe früher und jetzt weiß, ohne geht es nicht (also gar nicht, meine ich, und so viel mehr als das). Ich weiß jetzt: Wenn ich streite, dann ist das eine Art Kompliment. Wenn ich schreibe, diskutiere ich permanent mit mir selbst ohne sprechen zu müssen. (Ein zärtlicher Kampf, ich hätte nie gedacht, das so sagen zu können.)

Am Morgen nieselt es, ich ziehe die Vorhänge beiseite, öffne die große Glastür und es klingt, als würden sehr viele kleine Käfer Trampolin springen. Ich stehe da eine Weile, bis die Katze sich beschwert und die Kirchturmglocken läuten.

Mit S. erst die Wahlergebnisse und dann „Wish I was here“ geschaut und festgestellt, ich habe mich selbst noch nie mit einer Perücke gesehen. Jedenfalls nicht im Alter von größer fünf. Vielleicht hat das etwas mit der Unlust am Verkleiden zu tun. Auch 24 Stunden später wechseln sich Frustration, Ratlosigkeit und Hoffnung in zufälliger Weise in mir ab, C. fragt, ob wir nicht ein Crowdfunding für Buslinien in Brandenburg aufsetzen sollen als Spenden für die Kommunen, man muss doch irgendwas tun, und ich versuche mich zu erinnern an die Zeit vor dem Mauerfall, ich versuche mich zu erinnern an das dumpfe Gefühl und die Sprachlosigkeit und es ist nur noch eine Ahnung, und auch an dieser Stelle flattern Erleichterung und Entsetzen. (Wie lang wird das anhalten?)

Ich glaube, ich werde „Hold Your Own“ von Kate Tempest mit auf die Reise nehmen.

(…) Give her a face that is kind, that belongs
To a woman you know
Who is strong
And believes in the rightness of doing things wrong.

Give her a body that breathes deep at night
That is warm and unending; as total as light.

Let her live.

(Tiresias – Kate Tempest)

Weird fishes

„Die Dunkelheit im August ist die schönste aller Dunkelheiten. Sie ist nicht hell und offen wie die Dunkelheit im Juni, nicht so voller Möglichkeiten, aber auch nicht so verschlossen und abgeschottet wie die Dunkelheit im Herbst oder Winter. Das Vergangene, das Frühjahr und der Sommer, steht in der August-Dunkelheit noch immer offen, während man in das Künftige, den Herbst und den Winter, schon hineinsehen kann, und doch ist man noch kein Teil davon.“ (Karl Ove Knausgård)

Über zwanzig Jahre habe sie für ihn gearbeitet, sagt sie, während sie die Blumen einzeln aus dem Strauß im Eimer zupft und die Stiele in ihrer Hand neu arrangiert, er sei krank gewesen, die letzten zwei Jahre habe sie bei ihm gewohnt. Im Gästezimmer, gleich hier ein paar Straßen weiter. Nun sei er einfach gestorben. Eigentlich habe sie ja ihre kleine Wohnung in Marienfelde, die hat sie nicht aufgegeben, immer mal sei sie zurück zum Blumengießen. Aber sogar übernachtet habe sie hier, man habe ihn ja nicht mehr allein lassen können. Mittags habe sie den Blumenladen abgeschlossen, um ihm etwas zu kochen und abends natürlich. Bei ihr zu Hause sei es so still jetzt, sie müsse sich erst einmal wieder einleben. Wenigstens habe sie das Auto noch. Und der Kioskbesitzer, von dem habe sie sich eben Fotos vom Handy abfotografiert. Von ihr und ihrem Chef. Erst vor ein paar Tagen habe er die von den beiden gemacht, da hat er noch gelebt. Sie könne ja nicht einfach in seinen Schubladen wühlen da oben in der Wohnung, sowas mache sie nicht. Aber die Bilder seien schön, was zu haben, was man angucken kann, das sei ja wichtig. Andenken. Dass immer alle krank werden, sagt sie und seufzt. Auf das Papier für die Blumen sind Rosen gedruckt. Dann setzt sie sich wieder nach draußen, der Spätiverkäufer wartet auf einem der beiden Plastikstühle. Dort setzt sie sich wieder hin, winkt mir noch einmal. Den Verlust sieht man den wenigsten an.

Morgens kurz nach dem Aufstehen direkt ins Becken. Das sei der beste Moment, sagt R., mit dem Kopf unter Wasser, das mache alles leer, alles frei, alles verschwunden. Ein paar Bahnen später riecht man den frisch gebrühten Kaffee über der Stadt, in der Auslage Eibrötchen mit Petersilie.

Als wir mit dem Negroni draußen sitzen, kommt die kleine Frau mit dem roten Kopftuch und der Plastikmappe vorbei. Darin Folien mit ihren Zeichnungen und Bildern. Manche mit Buntstift, eins mit Tinte, manche mit Bleistift. Bei einem Laden in der Nähe würde sie die Drucke machen lassen, ob man ihr nicht eins abkaufen wolle. Nach dem Film sitzen wir ein paar Meter weiter, wieder draußen und eine jüngere Frau kommt vorbei, sie fragt nach Geld, neben uns auch die kleine Gruppe Menschen auf der nächsten Bank. Der eine mit den weißen Turnschuhen, die aussehen, als sei die Socke schon eingenäht, steht als einziger der Gruppe, die anderen sitzen. Als die junge Frau kommt und um eine Spende bittet, schaut er sie und fragt: „Na, kannste denn was?“ Sie lächelt verlegen, schaut auf den Boden, er fragt sie, woher sie kommt, sie murmelt. Am Ende gibt er ihr etwas, aber das Unbehagen ist ihr anzusehen.

Das Meckern sei nur seine Art des sich Wunderns, sagt Opi.

Auf dem Heimweg über den Mauerstreifen und die Friedrichstraße mit Absicht langsamer fahren, weil die Wolken sich türmen, so klar und gleichzeitig ungestüm, als wäre das Meer direkt um die Ecke, diese Tage sind die schönsten in der Stadt. Diejenigen, die auf der Brücke kurz anhalten und übers Wasser schauen, aufs Bodemuseum und den Fernsehturm, die wissen’s auch. Weiter hinten drehen sich Touristen um und schauen verwundert, denn die ganze Friedrichstraße riecht nach Pferdemist.

Everybody leaves if they get the chance.

Golgata

Ob sie auch mal etwas sagen dürfe, fragt sie, als wir da um den Tisch in dem kahlen Raum sitzen. Nur das Kreuz an der Wand und zwei, drei Bilder, ihnen genügt das, manchmal treffen sich hier die Anonymen Alkoholiker. Sie hat eine lederne Tasche über der Schulter, die nimmt sie die ganze Zeit nicht ab, als klebe sie an ihr, auch die Jacke zieht sie nicht aus, darunter trägt sei ein Blumenshirt aus Samt, das ihr die ganze Zeit über den Bauch rutscht, sie scheint das nicht zu bemerken, vielleicht aber doch, ich bin mir nicht sicher. Den Kaffee, der ihr angeboten wurde, den hat sie dankbar angenommen, eigentlich sei sie nur gekommen, um sich die Kirche anzuschauen, sie sei hier schon ein paar Mal vorbeigelaufen, im Wedding wohne sie, manchmal spaziere sie hier rüber nach Mitte. Wenn sie spricht, sieht man die Neuropathie und die Schmerzen, die sie macht, es ist, als sei eine Seite ihres Gesichtes einfach etwas schwächer als die andere. Es sei wirklich leicht rauszufallen, sagt sie leise und schaut dabei auf ihre Hände, die Finger ineinander verschränkt, die dunklen Haare fallen ihr ins Gesicht, eine Dauerwelle, die schon eine Weile her ist. Wenn sie die Kaffeetasse nimmt, zittert sie ganz leicht, verschüttet nichts, aber braucht einen Moment, um im richtigen Winkel anzusetzen. Wenn sie spricht, hört man den Alkohol, aber auch, dass es besser ist, wenn sie sich konzentriert und nicht unterbrochen wird, vor allem von sich selbst nicht. Immer wieder rutscht sie aus ihren Sätzen, schaut auf einen Gegenstand im Raum und kämpft sich irgendwann zurück, manchmal an eine andere Stelle in der Geschichte, an der wir anderen noch nicht angelangt sind. Sie habe in der Pflege gearbeitet, dann kam der erste Unfall, danach erst einmal arbeitsunfähig. „Jetzt kommen die Roboter“, sagt sie, „die werden unsere Arbeit machen und dann braucht man uns noch weniger.“ Die ehemalige Krankenschwester der Runde lacht, das sei doch unmöglich, Roboter, so ein Unsinn, jeder Hintern sei schließlich anders, das könnten Roboter gar nicht machen. Doch sie ist nicht abzubringen, und wer kurz hinhört und den Satz auf dem Tisch liegen lässt, der versteht, dass die Roboter in ihrem Kopf nur Angstvertreter sind, dass sie sich an ihnen abarbeitet, weil die Roboter nicht widersprechen. Das sei im Fernsehen gelaufen, das könnten wir ruhig glauben, sagt sie und schaut einem dann doch mal in die Augen, „ich glaube dir“, sage ich und meine vor allem das, was sie sich nicht traut zu sagen. „Die Computer verstehe ich nicht, dann ist man auch raus, heute läuft ja alles darüber, auch Anträge, wissen Sie, und wenn man dann nicht den richtigen Knopf findet oder was falsches drückt, das hat dann Auswirkungen darauf, was man am Ende rausbekommt“, sagt sie, es ist ihr unangenehm. Dass sie nicht mithalten kann mit dem Tempo, dass alles weitergeht, man hört ihre Scham und ihre Wut, auf wen genau, hört man nicht, aber es helfe nichts, sagt sie, wenn man denen, die vom Alkohol nicht loskommen, noch Restriktionen auferlege, und dann sagt sie noch: „Eine Hand bringt viel mehr, die einen einfach nicht loslässt, wissen Sie? Das ist was anderes als Briefe vom Amt.“ Dann verheddert sie sich wieder, erzählt von den zwei Ladenbesitzern, die sich hätten umbringen wollen, weil ihnen die Miete um 2500 Euro angehoben worden sie, sie hätte unten gestanden und nichts aufmunterndes sagen können, weil sie sie ja verstehen könne. Sie verabschiedet sich über zehnmal, und setzt immer wieder neu an, es klingt, als habe sie all diese Sachen so oft von links nach rechts getragen, dass sie nicht mehr weiß, was eigentlich wohin gehört. „Wir sind nicht alle gleich“, sagt sie, bevor sie dann doch aus der Tür geht.

I can’t remember, were you into Canada geese? Is it significant, these hundreds on the beach? Or were they just hungry for mid-migration seaweed?

Mood for a melody

Wir könnten so ein Serientrailer sein. Nicht der für Girls. Nicht der für Love. Nicht die Sopranos. Der für Please Like Me vielleicht. Auf einem anderen Kontinent. In einer anderen Zeit. Wir fünf pulen uns die Woche aus den Milchzahnlücken, irgendwo zwischen dem Pesto und der Dissertation ziehen wir noch eine der letzten Zigaretten aus der knisternden Schachtel und ignorieren das Horrorbild, schnippen die Schachtel vom Tisch, wischen aber dem Rotweinfleck hinterher, jetzt die Chips, ja nein vielleicht ach komm schon ist doch egal. Und dann hören wir die Lieder, die wir schrecklich finden müssten, weil in ihnen so viele alte Reste kleben, die aber trotzdem diese Heimeligkeit machen, weil man sie kennt ohne nachdenken zu müssen, weil wir wippen, wann auch immer sie laufen, ohne zu bemerken, dass wir wissen, welcher Reim folgt. Was in der nächsten Zeile kommt. Diese Heimeligkeit, nach der sich jede ironische Kleidungsauswahl zu sehnen scheint, wenn man die Haltung mal weglässt und alle siebzehn Ebenen, die darüber schimmern sollen, es geht ja doch immer um etwas, das längst nicht mehr ist, aber das mal war und vor einem existiert hat und genau deswegen hat es einem immer etwas voraus. Draußen schwirrt die Stadt, das Fenster ist gekippt, wir ziehen uns einander an wie Pullover, die man zwei Jahreszeiten später wieder rausholt, und die noch so riechen, wie wir es kennen, die nicht zerfressen, nicht zu klein, nicht zu groß, nicht ausgewaschen, sondern genau richtig sind. Wie etwas, das man trägt ohne zu merken, das man es schultert, weil es kostbar ist und nicht selbstverständlich und schon gar nicht unverwundbar. Erst ansehen, dann wissen, dann lächeln, sich dann zur Musik bewegen, aber in Slow Motion. Immer noch wissen.

„Genau jetzt darfst du dich freuen“, sagt J. an der Straßenecke vor dem Rossmann, „das ist jetzt der Zeitpunkt, da sollst du fahren und summen und an nichts anderes denken als das, was jetzt ist.“ Nicht am Faden ziehen, ihn auch nicht abschneiden, einfach achtgeben auf uns, damit sich nichts aufribbelt, „nicht zu oft waschen“ schrieb man früher auf Waschanweisungszettel.

It’s nine o’clock on a saturday. Regular crowd shuffles in. There’s an old man sittin‘ next to me. Makin‘ love to his tonic and gin. He says son can you play me a memory? I’m not really sure how it goes. But it’s sad and it’s sweet and I knew it complete when I wore a younger man’s clothes. (Billy Joel)

Temporäres

Boulangerie

Wir betraten den Laden in Mitte, vor dessen Tür Teppich verlegt und knödelige Absperrseile aufgehängt wurden, um Eindruck zu schinden dort, wo eigentlich jeder einen eigenen Teppich vor sich herträgt und an jeder Ampel ausrollt, um ihn bei Gelb wieder umständlich zusammenzufalten. Wir betraten den Laden, der einen eigenen Sicherheitsmann auf dem Teppich vor der Tür stehen hatte, denn wir leben in Tagen, da braucht ein Laden mit französischem Namen einen Sicherheitsmann oder zumindest das Gefühl, es gäbe einen. Vielleicht war auch der Sicherheitsmann ähnlich wie der ältere Herr in Schürze nur ein gecasteter Schauspieler. Der ältere Herr mit gräulichem Haar kam sofort hinter der Theke hervor gehuscht, glättete sich mit den braun gebrannten Händen erst die Schürze und dann erklärte er das Konzept des Ladens, der eigentlich kein Laden war, sondern eine Kampagne. Ein Modell, in der Agentur hatte man diesen Laden wohl eine Idee genannt und dann wortwörtlich umgesetzt. Es ist jedoch nicht so einfach einen Gedanken umzutopfen und manchmal braucht man mehr dafür als einen Kachelboden aus PVC, mehr als holzvertäfelte Wände und Menschen mit Schürzen und Trockenblumen in Flaschenvasen und mehr als grob geschnittenes Brot, das die Biokette hergestellt hat, und mehr als Marmelade mit Schnaps darin, um den es in der sogenannten Idee eigentlich gehen sollte.

Wir standen also verloren in dem Laden, der eigentlich kein Laden war, wir hatten doch eine Bäckerei erwartet und irgendetwas anderes, draußen wehten dem Sicherheitsmann die Haare ins Gesicht, (der Sturm heißt „Heini“, habe ich gelesen) und man reichte uns kleine, bedruckte Tüten mit zwei Baguettestücken und einem Gläschen Marmelade darin, Kaffee gab es nicht, aber die Marmelade hätte man in Gläsern einer Größe kaufen können, dass sie für drei Jahre genügt. Wasser gab es in wohlgeformten Gläsern neben den Trockenblumen, neben der in der Agentur sicherlich als Vintagekasse bezeichneten Bezahlapparatur, die aber keinen Job hatte und vermutlich auch nicht mehr funktioniert. Und wir standen also darin und betrachteten die Stühle und Tische, an die sich niemand setzen wollte, weil man sich ja nicht in eine Idee setzt, in einen Laden vielleicht, aber nicht in den Plastikblumentopf einer Idee, und wir lächelten verlegen und wollten das Baguette natürlich dennoch probieren und flüsterten gerade, als ein Mann den Laden betrat, ebenfalls älter, mit schnellem Schritt und etwas außer Atem: „Oh“, sagt er, „oh!“

Und der gecastete Herr setzte wieder zu seinem Vortrag an, der keine Varianten, sondern nur einen einzigen vorgegebenen Ablauf hatte, aber er kam gar nicht dazu, ihn vorzutragen (zu sagen, er würde ihn abspulen, wäre gemein), denn der eingetretene Mann, ich vermute, er wohnte in der Gegend, fing sofort an zu fragen: „Das bleibt doch hier, oder? Was kann ich kaufen? Das ist gutes Brot, das Getreide kenne ich! Wie lange haben Sie geöffnet? Oh wie schön, oh wie schön, sowas brauchen wir“ und er betrachtete die Wände mit großen Augen und die Wandmalerei mit dem Markennamen des Schnapses auch und er wusste gar nichts damit anzufangen, er war einfach davon ausgegangen, das hier sei ein neuer, ganz normaler Laden, er wusste nichts von der Idee irgendeiner Agentur, nichts von Viralität oder Pop-Up-Store-Konzepten, er hatte einfach keine Ahnung, ihm gefiel die neue Farbe des Erdgeschosses, ihm gefiel der zumindest gekachelt wirkende Boden, er wollte sprechen, also sprach er: „Ich komme nächste Woche wieder!“, und als der gecastete Herr mit seiner Schürze und seinen Artikulationshänden antwortete „Das geht aber nicht, wir sind nur bis Freitag hier, das ist ein-“, da verstand er ihn nicht, da wusste er einfach nicht, was das soll und sagte noch einmal: „Ich komme nächste Woche wieder, das ist doch prima, dass sie da sind!“, er wollte nichts wissen von nur vier Tagen Öffnungszeit, wie soll man auch eine Idee von einem Wunsch unterscheiden, wie soll man all die Risse auch sehen?

April in Schöneberg.

Blüten

Du bist zu früh dran, will ich dem Jahr sagen, ich bin noch nicht so weit, will ich der Ampel sagen, ich mag deine Stimme nicht, will ich der Karten-App sagen, als mein Blick auf die Manufactum-Lampe fällt, die auch in jeder zweiten Altbauwohnung hier hängt, auch in Mitte, alle haben dieselbe Manufactum-Lampe und abends noch das große Licht an. Frag ich mich auch immer, wer so macht, abends das große Licht an, „aus aus aus“, sagt A. auch immer, wenn es zu hell ist (nur morgens nicht, da ruft er „Essen essen essen“), da sind wir uns einig (in beidem). Neulich stand er vor einer Galerie, das war nicht in Schöneberg, aber die Fenster waren auf seiner Höhe, noch passiert das selten, und dann steht er und schaut und in dem Moment rief er: „Bilder! Laden! Bilderladen!“, und ich dachte, dass das in unserem Kapitalismus wahrscheinlich so funktioniert, dass die Kinder lernen, dass dort, wo die großen, offenen Fenster sind, gekauft wird. Alle anderen ziehen die Gardinen zu.

Überm Spielsalon hängt keine Manufactum-Lampe, da sprießt etwas unter der Decke entlang, das aussieht wie Efeu. Ich habe gelesen, Efeu stünde für das Ewige und ich frag mich, ob man das im Wohnzimmer haben will, also immer über einem drüber, wenn man Tee trinkt zum Beispiel oder die Füße hochlegt oder sich wieder einmal an irgendetwas verhebt. Als ich um die Ecke fahre, steht da plötzlich das Gasometer, irgendwo zwischen Gleisen, Zaun und Gebüsch kifft jemand, das Licht legt sich langsam hin, man kann zusehen, wie es immer tiefer rutscht und irgendwann weg döst. S. sagt, die Menschen hier hätten schon Bock auf Bürgerlichkeit, „aber die faken das nicht und ziehen ihren Kindern keine Band-T-Shirts an“.

Irgendwo zwischen Rosé und Kräutertee taucht dann auch noch ein Regenbogen auf, und man möchte eigentlich sofort aufs Gasometer klettern. Vorn an der Ecke sitzt eine Frau mit pinkem Haargummi und raucht die Ampel an. Sie wartet auf niemanden, ich glaube, sie denkt nicht einmal irgendwas, sie sitzt nur da und raucht und die blaue Stunde kriecht an ihren nackten Schienbeinen hinauf, ohne sich in ihren Schnürsenkeln zu verheddern, weiter vorne hat jemand verschiedenfarbige Flaschen auf dem Bürgersteig zerdeppert und es sieht aus, als wäre ein Stück aus dem Regenbogen gebrochen und runtergekracht, keine Verletzten. Langsam wanken die letzten aus dem Park am Gleisdreieck, vor dem die neuen roten Absperrungen stehen wie zu groß geratene Zähne, hier kommst du nicht durch, jedenfalls nicht mit derselben Geschwindigkeit, dahinter kommt durchs Halbdunkel ein Skateboarder gerollt, alle sehen aus, als würden sie jetzt wirklich nach Hause fahren (oder das zumindest für in Ordnung halten).

An Sonntagabenden muss man nicht viel sagen, alle summen lautlos, „du weißt, ich würde sterben für dich, um dir ein gutes Leben zu garantieren“. Die Schaufenster der Likörfabrik sind so beleuchtet, als gäbe es ein Morgen und als wäre es ratsam, sich deswegen zu betrinken. „Wir kennen die Stellen, an denen Sachen geschahen, und wir kennen die Gerüche und wir kennen die Gegenstände. Und wir können spüren, wie sie die Form verlieren. Fahr, fahr.“

And away with the minutes

The Room

Wir gehen spontan und ein bisschen zufällig dann doch hin und dann gibt es diesen großen Raum mit den Notenblättern an der Wand, meinen Lieblingsraum, ich könnte ewig dort stehen und gucken, wie die Leute gucken, und irgendwas zwischen diesen Notenblättern macht mich ruhig, das nichts mit dem Klavier im Raum zu tun hat, das Klavier ist mir schon beinahe wieder zuviel, aber neben den ganzen Schaukästen, in denen die anderen Exponate stehen, neben den Anordnungen und der Bemühung, allem Raum zu geben, gefällt mir hier, dass einfach alles voll ist mit Noten, aufgeschriebener Musik, kleinen Akzenten, alles sortiert, aufgehängt, fertig, da bleib ich. Im Keller bellen die Hunde, auch noch so ein Kontrast, den ich mag, das Bellen, angeblich 24 Stunden lang aufgenommen, und an der Wand auf den Leisten dann die Kontaktabzüge, winzig und mühsam anzusehen, auch das unruhige Braun der Leisten macht es nicht besser, aber genau so hat es auch was von Zwinger, von der Gegenwart der Hunde, man muss sich anstrengen, man spürt, was es braucht, dabei zu bleiben und nicht abzubrechen, auch weil es so abgetrennt ist vom Rest. Und dann The Room With My Soul Left Out, The Room That Does Not Care. Bekommt mich so sehr, dass ich gar nicht sprechen kann, es ist vermutlich auch mehr der Titel, der mich so rührt, als der Ort an sich. Aber der Titel, meine Güte, alles andere als Gerümpel und ich muss das Exponat, den Raum, die Turnhalle, den Zufall nach kurzer Zeit wieder verlassen, weil Rührung in einer fremden Menschenmasse mir noch nicht bekommt, (aber das wird schon). - „Wenn Ihnen etwas zu nahe kommt, konzentrieren Sie sich auf die Frisuren, Sie werden viel zu tun haben für mehrere Minuten, das macht es leichter, probieren Sie es mal aus, Scheitel, Koteletten und sorgsam geflochtene Zöpfe, aus denen jemand mit höchster Anstrengung Strähnen so gezupft hat, dass es aussieht wie ein Versehen. Reines Seelenheil, dem zuzusehen, wenn es dem Zwerchfell pressiert.“

20. März 2015 – Lesung & Konzert

Lesung

Am 20. März machen Lars und ich, was wir gern einmal im Jahr tun: Lars singt, ich lese. Da dieses Jahr kein neues Buch erscheint, weil man sich ja irgendwann auch mal um sein Leben und den ganzen Rest kümmern muss, lese ich aus den Büchern, die es schon gibt, und aus diesem Notizbuch hier. Lars wird ein paar neue und vielleicht auch alte Lieder spielen. Los geht es um 19:30 Uhr, der Eintritt ist frei.

„Wann ist das alles nur passiert?“

Unter den Linden

Nach dem Theater laufe ich mit dieser riesigen Brezel in der Tasche nach Hause, diesem wuchtigen Gebäckstück, dessen Kauf man unmittelbar nach Bezahlung bereut, mir fiel auch auf, dass der Verkäufer nicht die oberste, sondern die dritte Brezel von oben nahm und sie mir reichte, sofort fragte sich mein Käuferkopf, warum denn das, kalt sei es doch schließlich von allen Seiten hier draußen, denn der Verkäufer stand ja vor dem Theater und nicht darin, dann dachte ich mir, habe es vielleicht auf die obersten zwei Brezeln schon drauf geregnet oder drauf gespuckt, das sei ja sehr nett, dass er die untere nähme, erst dachte ich das und dann bedankte ich mich mit leichter Verzögerung, denn auch Denken kostet Zeit, was ihn wiederum so überraschte, also mein Dank und nicht das Denken, vermute ich, dass er mir beinahe freudig erregt, in jedem Falle ein bisschen laut, sodass sich die Umstehenden umdrehten, einen schönen Abend wünschte, ich ihm dann auch, und in Gedanken dachte ich noch einmal dazu, dass es ja wirklich kalt sei von allen Seiten hier draußen, ihm und den Brezeln sicherlich auch. Ich habe jedenfalls die Brezel nicht gegessen, sondern so ein kleines Baguette, denn das lag neben den anderen so nett in der Auslage der Theaterbewirtschaftung, auf einem silbernen Tablett, beim Essen war nach jedem Bissen so ein bisschen Lippenstift auf dem Baguette zu sehen. Kussecht, jaja. Das Baguette war jedenfalls gut, den Sekt musste ich stürzen, denn ich war so sehr mit Essen beschäftigt und dachte nebenbei kurz wirklich unangenehm berührt an die riesige, einmal angebissene Brezel, die schon jetzt in meiner Tasche vorwurfsvoll vor sich hin trocknete, jedenfalls stürzte ich den Sekt und schaute nebenbei noch die Gesellschaft an, die sich in Theatereingangsbereichen so aufhält, wenn eine Veranstaltung ansteht, das interessiert mich schon immer, wer da so hingeht, im Theater seltsamerweise viel mehr als im Kino, ich will dann immer herausbekommen, wer zum Establishment gehört, wem das Establishment egal ist, wer sich hierhin verirrt hat und wer so ist wie ich. Komisch, dass mich das nur im Theater interessiert. Ich habe also nur das Baguette gegessen, dass da so friedlich neben den Bouletten lag, für die extra Gabeln aufrecht stehend in einem Glas aufbewahrt wurden, über dem bei jeder Bestellung bedrohlich das Handgelenk der Bedienung schwankte, und beim Nachhauseweg durch die polierte Tristesse von Berlin Mitte denke ich an das Handgelenk und ob sie sich schon mal aus Versehen aufgespießt hat, die Bedienung, und frage mich bei jedem zweiten Haus, ob darin wirklich Menschen wohnen oder doch nur Ferienwohnungsschonbezüge. An der Unibibliothek vorbei, aus der auch kurz nach zehn immer noch Menschen kommen, wie so ein leuchtender Klops liegt sie da neben dem Harald-Glöckler-Geschäft. In der U-Bahn Richtung Kreuzberg läuft Flüssigkeit durch den Waggon, einmal von vorne bis nach ganz hinten durch und keiner weiß, wo sie herkommt, aber alle schauen interessiert, halb angeekelt, halb stolz, weil sie nicht reingetreten sind. Und derjenige, der die Idee hatte mit dieser verschiedenfarbigen Fernsehturmbeleuchtung, denke ich, der hätte lieber etwas anderes tun sollen, man muss ja nicht alles ernstnehmen, was einem so einfällt. Von der Decke im Theater fielen Federn auf Berg und Ulmen, aber keine einzige verfing sich in einer Frisur, das habe ich mir gemerkt. Nachts um halb elf ist der Februarwind in Kreuzberg genau so, wie man ihn sich vorstellt. Der Sichelmond auch. Brainy brainy brainy.

Measuring your worth in weekends

A27

Im ersten Moment verwechsle ich den Mond neben der Kirche mit einer Laterne, pathetic shit, movie quote, aber es ist wirklich so und ich muss lachen, weil es so albern ist, wirklich lachen, irgendwo da zwischen Bahnhof und Kirche, nur kurz, nicht laut, aber mehr als Lächeln, (reicht das?), auch movie quote, am Tag hat jemand geräumt, also den Weg meine ich. Mit jedem Schritt sinkt der Mond tiefer in den Baum, die Obeliskfenster leuchten abends orange und Trauer liegt grünblau an den Schläfen. „Alchemillas, or something that smells nice.“ Eine Lissabonkarte von 1898 in der Tasche, den Eingang zum Kino vergesse ich immer wieder, würde man mir nicht helfen, käme ich zu spät, würde ich drei Runden um den Block laufen, die Augen an jedes Neonschild geklebt, nur weil ich hier nicht so oft bin, die andere Ecke Neukölln, die Augen auch auf alle Schuhspitzen geklebt, Wackelaugen. Manchmal bekommt man die letzte Kinokarte, das letzte Bier, den letzten Platz. Licht aus, Birdman: „You’re doing this because you’re scared to death, like the rest of us, that you don’t matter. And you know what? You’re right.“ – (No movie quote, but still: „See, how light that feels.“)