Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Januar, 2020

And your hair to the left

Mit dem Fahrrad durch den Nieselregen fahren am Ufer entlang, den Pfützen ausweichend und dann noch über das glatte Kopfsteinpflaster balancieren, ein paar stehen vor den Restaurants und rauchen, die Mäntel nur über die Schultern gelegt, die Schals darüber, von einem Bein aufs andere tretend, ich fahre langsam und denke an ein Lied von J., „als wir in großen Buchstaben auf die Wagen schrieben“, das ist nun vielleicht fünfzehn Jahre her, dass wir das Lied zusammen gesungen haben, klingt kürzer, als es sich anfühlt. An der Kreuzung kurz einen Blick die Straße hinunter werfen, dort hinten wurde vor zwei Tagen wieder eine Frau überfahren, am nächsten Tag fand die Mahnwache statt. C. schrieb mir, weil sie an der Unfallstelle vorbeikam, es ruckelt in uns jedes Mal wieder.

A. spielt die Melodie von Darth Vader auf der Gitarre und mit dem Blick auf sein Größerwerden fühlt es sich an, als wäre ich schon eine Ewigkeit da, ich kenne ihn, seit er geboren wurde und jetzt sagt er plötzlich Worte wie Gierschlund.

Am Morgen trete ich auf die Brücke, der Himmel kann sich noch nicht entscheiden, was er sein will, also ist er alles auf einmal, fährt vor mir eine Frau auf dem Fahrrad unter den U-Bahnbrücke hindurch und genau in diesem Moment kackt ihr eine Taube mitten auf den Fahrradhelm., Es klatscht, ein paar Menschen drehen sich um, die wenigsten wissen, woher das Geräusch kam.

Zeilen im Briefkasten aus Sevilla und eine Erinnerung der Krankenkasse daran, dass ich jetzt 35 bin, ein Alter der Vorsorge. Auch ein gutes Wort. Die Zeit vor der Sorge. Oder eine kleine Form der Beunruhigung. Auf Opas Balkon, von dem aus man über die Dächer sehen kann, weil der siebte Stock dafür hoch genug ist, könnte man Kürbisse ziehen. „Das ist eigentlich vorbei“, sagt er und wendet sich ab, „das sehen wir dann.“ Auf dem Flur im Erdgeschoss begegnen wir einem schwarzen Pudel im Regenpullover. Aus dem Zimmer der Ergotherapie riecht es nach Kuchen. Am Tisch sitzen neun alte Damen in pastellfarbenen Pullovern aller Nuancen. Gebacken wird nach den Rezepten ihrer Vergangenheit, sie geben den Ton an und die Mengenangaben. Manche schauen nur zu, andere schneiden die Äpfel in Stücke, feiner als der Nagel des kleinen Fingers. Die große Nährwerttabelle will Opa bei sich behalten, die sollen wir nicht mitnehmen, er schaue dort oft hinein. Wir falten Stützstrümpfe. Sie sind zu klein, aber auch sie sollen bleiben.

Als wir nach drei Stunden aus dem Theater kommen, riecht es nach Schnee. Am Morgen danach spüre ich den Wein, wache quer im Bett auf und suche den Monolog aus Crave von Sarah Kane, den ich vor zwölf Jahren mal auswendig konnte. „(…)And watch great films and watch terrible films and complain about the radio and take pictures of you when you’re sleeping and get up to fetch you coffee and bagels and Danish and go to Florent and drink coffee at midnight and have you steal my cigarettes and never be able to find a match and tell you about the the programme I saw the night before and take you to the eye hospital and not laugh at your jokes and want you in the morning but let you sleep for a while (…)“ Das Ende des Januars liegt herum wie der Teppich im Treppenhaus zum Rang, eine festgetackerte Decke, über die man nur ein bisschen langsamer als sonst hinweg gehen kann mit einem kurzen Blick in die langen Spiegel, in denen man nicht sich selbst, sondern die anderen sieht.

Axiomensystem

Über ein halbes Jahr ist die Reise nun her, mir kommt es länger vor, und damals passierte soviel gleichzeitig, dass ich vor allem damit beschäftigt war, den Überblick zu behalten. Nun setzt sich der Rest. Mein Atem im zweiten Flugzeug, nachdem das erste am Morgen gecancelt wurde, und das direkt darauf folgende Gähnen, das immer erst dann kommt, wenn man es sich leisten kann. Das Gefühl, die Drei am Flughafen stehen zu sehen in Zürich, und wie sich dieses Gefühl Platz gemacht hat in mir nach dem Horrortag, weil ich mit vielem, aber nicht damit gerechnet hatte. Erschöpfung war das, draußen die Dämmerung, kurz vor zehn am Abend, das debile Grinsen und Heulen und Schweigen, weil ich für gerade Worte dann doch zu müde war, und die Freude darüber, dort zu sein, wo ich mich ein bisschen auskenne, aber mich nicht einmal auskennen muss, weil das andere für mich übernehmen. Als wir ins Wohnzimmer kommen, stehen dort noch ihre Teller, halbvoll, weil sie so überstürzt aufgebrochen waren, um mich abzuholen.

Ich denke an die Seestraße in Como, die Promenadenmenschen, an das sehr freundliche ältere Paar aus Oregon, die mir ein Bier ausgaben und dass oben in der Ecke der Trattoria eine Tuba hing. Ich erinnere die kleinen Zettel im Apartment, die vorherige Gäste in der ganzen Wohnung verteilt hatten, mit Grüßen und Liebesschwüren und Dankesreden in verschiedenen Sprachen. Ich weiß, wie müde ich dort war, wie das Licht morgens durch die Ritzen der Fensterläden fiel und ich nicht wusste, ob das nicht schon reicht. Das Licht zu betrachten, aber woanders.

Neulich träumte ich von Modena, auch jetzt erst, nicht von der Stadt, aber dem Hinterland. Vom Lesen und Liegen und dem kabellosen, herumflitzendenden Rasenmäher. Im Sommer letztes Jahr roch die Luft ständig nach Feuer. Von der Wiese hinter den Hecken kann man die umliegenden Ortschaften sehen. Die ersten Mücken kamen mittags und man muss Glück haben, ein bisschen Wind zu erwischen. Das Telefon wurde sehr schnell heiß in der Hand, alles wurde sehr schnell heiß in der Hand. Immer, wenn es wieder soweit war, ging ich schwimmen. Der Gedanke, jeden Moment ins Haus gehen zu können, um zu schreiben und Melone zu essen, hilft eigentlich bei allem, ich habe mir dort vorgenommen, das mindestens einmal im Jahr zu tun, irgendwo zu sein, wo ich schreiben kann und kaltes Obst essen, auf die Melone bestehe ich nicht, aber auf die Möglichkeit.

Der Brandgeruch in Verbindung mit Hitze erinnert mich noch immer an unseren Urlaub zu der Zeit, als Jugoslawien noch existierte und ich gerade lernte zu schwimmen mit den zerfallenden Stoffschuhen an den Füßen, weil meine Eltern der Meinung waren, die würden vor Seeigeln schützen, es waren keine Schwimmschuhe, im Wasser löste sich der Kleber, der Stoff umwirbelte meine Füße in Fransen und Fäden. Wir fuhren mit dem Auto durch die Flammen, wir Kinder saßen im Fußraum, ich weiß nicht, ob ich mich an meine Angst erinnere oder es nur das Gefühl ist, das sei eine Situation, in der man Angst gehabt haben müsste, als Kind erscheint Natur bedrohlich und unausweichlich zugleich. Du liebst die Wellen, aber du weißt auch, dass du sie nicht begreifst.

In Mailand las ich zwischen dicken Hummeln davon, dass die Kapitänin der SeaWatch verhaftet wurde. Neulich fand ich in meinem Portmonee ein Stück Papier aus dieser Zeit, auf dem steht: „Man soll sich sagen: Ich lasse mich nicht im Stich.“ In Bologna wurde ich langsam weicher, mein Nacken auch. Die Botanischen Gärten jeder Stadt wurden meine Zufluchtsorte in der Hitze. Schatten und viel pflanzliche Geometrie. An der einen Kreuzung begegnete ich einem, ich vermute, betrunkenen Mann, der mich, als ich an ihm vorüberging, in die Schulter boxte, mir hinterher brüllte auf Italienisch, so wie es einer Frau überall passieren kann. Niemand sagte etwas, auch ich nicht. Ich ging weiter, an der Ampel hatte sich das Herzklopfen wieder beruhigt, wir machen das so seit Jahren, und ich frage mich jedes Mal wieder, was wäre denn angemessen, was machbar?

Ich erinnere mich an die Trostlosigkeit von Formia, den Dreck, beides hat mich im ersten Moment erschreckt und im zweiten gerührt, weil die Menschen dort anderes zu tun hatten, als den Schein aufrecht zu erhalten. Die Mädchen lagen mit ihren Handys zu zweit auf einer Liege. Der Sonnenbrillenverkäufer machte eine Raucherpause im Schatten eines unbesetzten Sonnenschirms, die Brillen pinselte er mit einem Staubwedel ab. Kleine Fische schwammen im Meer neben Mikroplastikstückchen. Es roch nach Gras. Der Verlauf von Meerblau ist der schönste, den ich kenne.

„I think, I should travel and figure out who I am away from this place. And how to be attracted to people who are not insane. Last time I felt like I was running away. This time I feel like I am running towards something. I am just not sure what it is, yet.“ (Shawna in Tales of the City)

Silver Lining

Als ich kurz nach 12 auf dem Balkon stehe, denke ich kurz an das letzte Mal vor einem Jahr, dann daran, dass es so klingt, als würde dieses Mal weniger geknallt (was sich als Irrtum herausstellen wird, die Müllmenge ist wieder gestiegen, schreiben sie). Es gibt für mich nur noch wenige Abende, die von vornherein so aufgeladen sind wie Weihnachten und Silvester und selbst bei denen geht nach und nach die Luft raus. Ich meine das nicht negativ, sondern als würde die Erwartung leise pfeifen und kleiner werden und das ist etwas Schönes. Nicht, weil der Anspruch sinkt an einen Moment, sondern weil er sich aufteilt und sich nicht mehr nur an diesen einen Abend kettet, sondern eher an ein Grundgefühl, das einfacher aufrecht zu erhalten ist, weil es sich durch alles zieht, man kann es nicht so leicht erschüttern vielleicht. Als ich kurz nach 12 also zwischen meinen und anderen Menschen auf dem Balkon stehe, denke ich erst wie gesagt kurz an das letzte Mal vor einem Jahr, als ich zwischen fremden Menschen stand und mich fühlte, als hätte ich aus Versehen die Jacke von jemand anderem angezogen, und dann in diesem Jahr zur gleichen Zeit denke ich nicht mehr an viel, die Erinnerung verpufft und das ist ein bisschen wie in den Filmen, wenn jemand die Musik laut dreht und man nicht mehr versteht, worüber die Menschen sprechen, man sieht nur noch, wie die Münder sich bewegen, Hände Gläser schwenken, Gesichter lachen und weinen und starren und küssen und aufeinander reagieren. Und man zoomt raus und gleichzeitig in sich hinein und nichts soll anders sein.

Sie sitzen zu sechst im Aufenthaltsraum an einem großen runden Tisch, der aus eckigen Versatzstücken zusammengebaut wurde. Auf jedem Einzelstück stehen drei Wasserflaschen aus Glas, zwei Medium, eine Natur. Daneben jeweils drei Wassergläser. Darunter ein Untersetzdeckchen aus Papier. Viele Dinge sind beschriftet. Im Bücherregal stehen Biografien und Geographie-Bildbände, ein paar CDs, ein Abspielgerät für die CDs. Man hat den Raum weihnachtlich geschmückt. Während wir dort sitzen, kommt eine Pflegerin und schneidet leise Paprika, Tomaten und Gurke für das Abendbrot. Das Gemüse deckt sie mit Plastikfolie ab, ist für später. Der Müll wird sorgsam getrennt. Die eine Frau links von mir sagt: „Da beim Zionskirchplatz haben Sie damals den Ersten aufgehängt. Direkt am Platz. Der hatte sich ergeben, indem er eine weiße Fahne aus dem Fenster gehängt hat. Die Nazis haben ihn hängenlassen, tagelang. Wenn wir da vorbeigekommen sind, wir waren ja noch klein, konnten wir nicht wegschauen. Sie haben ihn erst nach einer ganzen Weile runtergeholt.“ Die anderen nicken und schauen auf die Wasserflaschen, alle Blicke im Raum wenden sich nach innen, nicht einander zu. Sie waren alle dabei.

Der Mann, der neben mir an der Ampel steht, wartet erst, bis es Grün wird, dann geht er schnurstracks und in einer sehr geraden Linie, aber mit bedachten Schritten über die Ampel. Sobald er den gegenüberliegenden Bordstein erreicht hat, fängt er an zu rennen, den ganzen Bürgersteig hinunter. Erst an der nächsten Ecke hält er an, stützt sich mit den Händen auf den Knien ab und atmet.

Man kann sich nur häuten, wenn die Haut sich wirklich gelöst hat. Erst dann kann man aus ihr herauskriechen mit allem, was man hat, vorher fällt sie nicht ab, vorher fällt gar nichts, und wie lange das dauert, bis es soweit ist, das kann keiner sagen, das wüssten wir auch gern.

Vor seinem Fenster in der Kurzzeitpflege ist ein langer Balkon. Die Balkontüren sind jedoch aus Sicherheitsgründen den ganzen Tag verschlossen. Wenn man raustreten möchte, muss man fragen. Von hier kann man den Hühnerstall sehen, in dem fünf, sechs Hühner herumstaksen und picken. Davor sitzt auch jemand auf der Bank mit einer roten Mütze und guckt ihnen zu. Opa sagt: „Was soll ich denn mit Hühnern?“

An der Notizfunktion im Telefon erkennen, wann ich gut funktioniert habe, wann nicht, wann ich mir Dinge merken konnte, wann ich Platz hatte für mehr als Notwendigkeiten, wann etwas gefehlt hat, wann ich Besorgungen machen musste, was auch ein lustiges Wort ist, Besorgungen, als würde man sich etwas aufbürden, das einem Kopfzerbrechen bereitet, Besorgung, ich besorge mich, hör auf mich zu besorgen, besorg dich nicht. Jemanden versorgen klingt auch, als würde man sich selbst dafür in kleine Zettel reißen und diese verstreuen, nicht zielgerichtet, aber sichtbar.

„It’s all good“ steht auf der Karte, die ich aus Cs Hand ziehe an dem Abend, ich sitze schon, denn ich habe genug gestanden, die Beine von mir gestreckt an der Wand auf dem Boden. A. hätte heute Geburtstag gefeiert. „Find that silver lining“ ist der vorletzte Satz.