Silver Lining

Als ich kurz nach 12 auf dem Balkon stehe, denke ich kurz an das letzte Mal vor einem Jahr, dann daran, dass es so klingt, als würde dieses Mal weniger geknallt (was sich als Irrtum herausstellen wird, die Müllmenge ist wieder gestiegen, schreiben sie). Es gibt für mich nur noch wenige Abende, die von vornherein so aufgeladen sind wie Weihnachten und Silvester und selbst bei denen geht nach und nach die Luft raus. Ich meine das nicht negativ, sondern als würde die Erwartung leise pfeifen und kleiner werden und das ist etwas Schönes. Nicht, weil der Anspruch sinkt an einen Moment, sondern weil er sich aufteilt und sich nicht mehr nur an diesen einen Abend kettet, sondern eher an ein Grundgefühl, das einfacher aufrecht zu erhalten ist, weil es sich durch alles zieht, man kann es nicht so leicht erschüttern vielleicht. Als ich kurz nach 12 also zwischen meinen und anderen Menschen auf dem Balkon stehe, denke ich erst wie gesagt kurz an das letzte Mal vor einem Jahr, als ich zwischen fremden Menschen stand und mich fühlte, als hätte ich aus Versehen die Jacke von jemand anderem angezogen, und dann in diesem Jahr zur gleichen Zeit denke ich nicht mehr an viel, die Erinnerung verpufft und das ist ein bisschen wie in den Filmen, wenn jemand die Musik laut dreht und man nicht mehr versteht, worüber die Menschen sprechen, man sieht nur noch, wie die Münder sich bewegen, Hände Gläser schwenken, Gesichter lachen und weinen und starren und küssen und aufeinander reagieren. Und man zoomt raus und gleichzeitig in sich hinein und nichts soll anders sein.

Sie sitzen zu sechst im Aufenthaltsraum an einem großen runden Tisch, der aus eckigen Versatzstücken zusammengebaut wurde. Auf jedem Einzelstück stehen drei Wasserflaschen aus Glas, zwei Medium, eine Natur. Daneben jeweils drei Wassergläser. Darunter ein Untersetzdeckchen aus Papier. Viele Dinge sind beschriftet. Im Bücherregal stehen Biografien und Geographie-Bildbände, ein paar CDs, ein Abspielgerät für die CDs. Man hat den Raum weihnachtlich geschmückt. Während wir dort sitzen, kommt eine Pflegerin und schneidet leise Paprika, Tomaten und Gurke für das Abendbrot. Das Gemüse deckt sie mit Plastikfolie ab, ist für später. Der Müll wird sorgsam getrennt. Die eine Frau links von mir sagt: „Da beim Zionskirchplatz haben Sie damals den Ersten aufgehängt. Direkt am Platz. Der hatte sich ergeben, indem er eine weiße Fahne aus dem Fenster gehängt hat. Die Nazis haben ihn hängenlassen, tagelang. Wenn wir da vorbeigekommen sind, wir waren ja noch klein, konnten wir nicht wegschauen. Sie haben ihn erst nach einer ganzen Weile runtergeholt.“ Die anderen nicken und schauen auf die Wasserflaschen, alle Blicke im Raum wenden sich nach innen, nicht einander zu. Sie waren alle dabei.

Der Mann, der neben mir an der Ampel steht, wartet erst, bis es Grün wird, dann geht er schnurstracks und in einer sehr geraden Linie, aber mit bedachten Schritten über die Ampel. Sobald er den gegenüberliegenden Bordstein erreicht hat, fängt er an zu rennen, den ganzen Bürgersteig hinunter. Erst an der nächsten Ecke hält er an, stützt sich mit den Händen auf den Knien ab und atmet.

Man kann sich nur häuten, wenn die Haut sich wirklich gelöst hat. Erst dann kann man aus ihr herauskriechen mit allem, was man hat, vorher fällt sie nicht ab, vorher fällt gar nichts, und wie lange das dauert, bis es soweit ist, das kann keiner sagen, das wüssten wir auch gern.

Vor seinem Fenster in der Kurzzeitpflege ist ein langer Balkon. Die Balkontüren sind jedoch aus Sicherheitsgründen den ganzen Tag verschlossen. Wenn man raustreten möchte, muss man fragen. Von hier kann man den Hühnerstall sehen, in dem fünf, sechs Hühner herumstaksen und picken. Davor sitzt auch jemand auf der Bank mit einer roten Mütze und guckt ihnen zu. Opa sagt: „Was soll ich denn mit Hühnern?“

An der Notizfunktion im Telefon erkennen, wann ich gut funktioniert habe, wann nicht, wann ich mir Dinge merken konnte, wann ich Platz hatte für mehr als Notwendigkeiten, wann etwas gefehlt hat, wann ich Besorgungen machen musste, was auch ein lustiges Wort ist, Besorgungen, als würde man sich etwas aufbürden, das einem Kopfzerbrechen bereitet, Besorgung, ich besorge mich, hör auf mich zu besorgen, besorg dich nicht. Jemanden versorgen klingt auch, als würde man sich selbst dafür in kleine Zettel reißen und diese verstreuen, nicht zielgerichtet, aber sichtbar.

„It’s all good“ steht auf der Karte, die ich aus Cs Hand ziehe an dem Abend, ich sitze schon, denn ich habe genug gestanden, die Beine von mir gestreckt an der Wand auf dem Boden. A. hätte heute Geburtstag gefeiert. „Find that silver lining“ ist der vorletzte Satz.