Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: September, 2014

Looking for Alaska

Ich betrete den Blumenladen im anderen Bezirk, den, der von innen so anders ist als alle anderen, weil die Blumen durcheinander liegen und der, in dem sie im hinteren Raum auf einem Sofa liegt und fernsieht, vorne direkt hinter der Glastür warten die beiden Huskeys. Ich öffne die Tür langsam, sie treten aufmerksam beiseite, aber weichen nicht von mir, schauen und legen sich direkt vor meine Füße, als hätten sie nie etwas anderes getan, als wäre es der Plan, sich jetzt gemeinsam hier auf diesen Boden zu legen und für eine ganze Weile nicht aufzustehen. Ich schaue mich erst kurz um, sie sieht weiter fern, ich schaue und warte gar nicht richtig sondern bin sogar froh, dass sie nicht sofort aus dem Kabuff gesprungen kommt und mich fragt, was ich will, ich darf erst einmal gucken und mich orientieren, das passiert ja so selten, man wird immer gleich gefragt, was man will, und wenn jemand nicht fragt, verstehen das die meisten als Unhöflichkeit, ich empfinde es als ganz und gar richtig, wenn man jemanden erst einmal ankommen lässt, überall eigentlich. Es ist ja auch eine Kunst zu spüren, wann ein guter Moment für ein Wort ist und auf Kunst haben viele keinen Bock, das wissen wir bereits.

Irgendwann kommt sie dann doch, ich kann kaum ausmachen, welche Blumen schon durch sind und welche genau so aussehen sollen, also sage ich, ich hätte gern ein kleines Sträußchen, etwas mit Wiese, den Rest würde ich ihr überlassen, das findet sie gut. Das finden eh viele Menschen gut, wenn man versucht zu sagen, was man möchte und sich danach zurücklehnt und vertraut, das funktioniert beim Friseur und manchen Menschen gelingt das auch in der Liebe. Während sie bindet und schneidet und sucht, hocke ich mich auf den Boden neben die Hunde, wir könnten die Augen schließen und in Alaska sein, denn der Boden ist kühl, die Luft oben ist wärmer, aber wir bleiben liegen, denn unten ist mehr Sauerstoff, wenn Hunde schnurren könnten, sie würden das jetzt tun, aber sie können nicht schnurren, deswegen lassen sie einfach die Lider locker soweit rutschen, wie es angenehm ist und schauen auffordernd, sobald ich aufhöre zu kraulen. Vielleicht sollte ich zehn Sträuße bestellen, aber wohin damit, Vasen hätte ich genug, aber man kann ja auch nicht bei allen Sträußen, an so vielen Orten gleichzeitig sein, um ihnen beim Blühen zuzusehen. Eins nach dem anderen.

September, zweite Woche, noch so ein Tag.

Nach dem Büro auf der Bank in der Abendsonne noch mit Opa telefonieren und über Pfirsiche sprechen, über Bohnen, die er per Post geschickt hat, 4 Kilo, alle wohlbehalten, und dann während dem Gespräch sehen, wie das Licht sich verändert von Abendsonne in Gelbgrau, mich dann umdrehen und für einen Moment das Reden vergessen, weil die Wolken hinter den Hochhäusern still näherrücken. Zu weit noch, um von Wind begleitet zu werden. Zu nah, um sie zu übersehen. Dann aufs Fahrrad und an jeder Ampel eine Wette mit mir selbst abschließen, ob ich es noch schaffe, und mit jeder nächsten Ampel langsamer werden, weil ich es gar nicht schaffen will. Und dann einfach alles langsam machen, während alle rennen, manche sogar rufen, während die Autos plötzlich ihre Fahrweise ändern, weil ihre Fahrer nichts mehr sehen und obwohl sie im Trockenen sitzen noch schneller nach Hause wollen. Mich nicht unterstellen sondern weiterfahren, die eingezogenen Schultern zählen, einfach geradeaus, so muss man ja immer, einfach geradeaus und zuhause auswringen, was man hat, und Bohnen ins heiße Wasser werfen, Salz und Pfeffer und ein bisschen Knoblauch, beim Essen immer noch dem Regen zusehen, später noch einmal raus, im Herbst dampft der Boden nicht, alle machen noch schnell, was sie vorhin nicht machen konnten, als es so regnete, alle beeilen sich und stolpern über die wenigen, die sich nicht beeilen, ich spaziere noch einmal um den Block, nicht um etwas zu sehen sondern um heute gelaufen zu sein, es könnte ja sein, dass sich bei einem dieser Schritte etwas zurechtrückt, sich einpasst, an den richtigen Ort fällt.

Essen allein unter Frauen.

Ich sitze zum ersten Mal in einem Women Only Café, weil das Menü auf dem Straßenaufsteller so nett klang, und ich hätte nicht übel Lust jetzt zum Mittag schon ein Glas Wein zu trinken, allein unter Frauen, mein Leben ist ja sonst eher ein Gemischtwarenladen, aber gut, einfach machen. Mir wird ein bisschen schwindelig beim Blick auf die Wand vor mir, ein psychedelisches Geäst rankt sich über die gesamte Tapete, ich muss wieder auf die weißen Tischdecken schauen, sonst werde ich nichts essen können, die Bedienung begrüßt mich sehr nett und trägt eine Schürze. Aus irgendeinem Grund sind mir Menschen mit Schürzen immer erst einmal sympathisch, vielleicht bilde ich mir das aber auch ein, ich selbst habe noch nie eine Schürze besessen, weil ich glaube, ich würde sie immer vergessen zu benutzen.

Ich bekomme eine kleine Karte und setze mich auf die mit Leder überzogene Bank, die über die gesamte Raumlänge reicht, neben mir trinken zwei ältere Damen Cocktails mit bunten Strohhalmen aus bauchigen Gläsern, es ist halb zwei. Vor mir sitzt eine grauhaarig schöne Dame, isst einen Auflauf und liest Zeitung dabei, die Fahrstuhlmusik dudelt so vor sich hin und nervt dabei ein wenig, aber in auszuhaltendem Maße und auch nur für kurze Zeit, man dudelt sich ja selbst so hinein, wenn man erst einmal drinsteckt und nicht weg kann. Draußen laufen geschäftig Touristen und Menschen herum, die sicherlich etwas mit Mode oder Kunst oder Darstellungsthemen zu tun haben, hier drinnen sitzen ganz andere Menschen und ich lehne mich zurück. Vor mir auf dem Tisch steht ein kleiner Kaktus unter einer großen Glasvase, daneben ein Teelicht zwischen Kaffeebohnen.

Ich bestelle Zucchini-Nudeln und mein Hirn denkt sofort, das seien Nudeln aus Zucchini, aber selbst das ist hier unprätentiös gelöst, denn am Ende bekomme ich Nudeln mit Zucchini oben drauf auf einem Teller, der auf einem Unterteller steht. Ich kleckere das grüne Pesto sofort auf die Tischdecke, nichts absichtlich, aber alle in diesem Raum scheinen mit kurzen Vollkornspaghetti besser zurechtzukommen als ich. Das Schöne ist: Es interessiert hier niemanden. Die Bedienungen schauen diskret auf ihre Limonadenflaschen, die anderen Damen haben einfach mit sich selbst zu tun. Das Mutter-Tochter-Gespann trinkt Latte-Macchiato, das Freundinnen-Cocktail-Duo erzählt sich aus der letzten Woche, ich schweige, schaue und horche.

„Ernst ist jetzt zum zweiten Mal eine junge Frau ins Auto gefahren und der Trottel hat wieder nicht die Polizei gerufen, jedes Mal sag ich’s ihm wieder und er kriegt es dann nicht hin, ich weiß nicht, wie die das machen, das die ihn dann so überreden, aber die zweite, die natürlich auch Schuld war, die verklagt ihn jetzt und deswegen jammert er jeden Abend und ich sage, biste selbst schuld, jetzt haste den Salat, muss er halt lernen, nich? Findet er ja auch nich gut, dass wir hier sind, aber weißte, ich koch doch jetzt nicht jeden Tag für ihn, dann müsste ich ja völlig umplanen, der ist jetzt im Ruhestand, da hat er doch genug Zeit für sich zu kochen, ich hab auch meine Dinge zu tun, ich bitte dich.“

Ich möchte beinahe gar nicht mehr weg, der Tisch wackelt und ich sollte mir vielleicht Notizen machen, stelle aber zum Wohle des Moments fest, dass ich keinen Stift, dafür aber drei Röllchen Klebeband mit mir herumtrage, also keine Notizen sondern Nudeln auf die Gabel schaufeln, die Hälfte auf dem Weg zum Mund verlieren und noch einmal von vorn. Das Essen schmeckt, wie ich in letzter Zeit manchmal versuche zu kochen. Wenig Gewürz, denn wenn man es mal aushält, dass es nicht sofort knallt im Mund, folgt nach der kurzen Verwunderung das Hinschmecken und ich will wissen, was Lebensmittel so für sich allein können, ohne ständig noch daran herum zu optimieren und allerlei Zeug drauf oder dazu zu schütten. Pure Sahne, puren Joghurt, pure Nudeln, sanftes Pesto, manchmal etwas Pfeffer, kaum Salz. Nur um es zu wissen und mich dann noch einmal zu entscheiden.

An den Wänden hängen eingerahmte Urkunden, ich schaue nicht so genau hin, in einem Hinterraum stehen Sofas mit Decken und Kissen, wieder kommt eine ältere Dame herein, bestellt sofort eine große Apfelschorle und lässt sich in einen dieser Rundledersessel fallen, in die man gar nicht so richtig fallen kann, weil sie so steif sind, das spürt sie auch und guckt ganz verwundert und sitzt dann etwas gerade auf ihrem Sessel herum, während sie in der Karte blättert. Alle sprechen relativ leise, aber ungehemmt, sie sehen einander kaum an, die Bedienungen sind zurückhaltend, wirklich sehr freundlich, etwas unsicher vielleicht, aber sehr akkurat in der Körperhaltung, keine Bewegung zu viel, die Hände immer gefaltet und wenn man sie anlächelt, schauen sie verschmitzt zur Seite, aber lächeln auch, als wären sie das nicht gewöhnt.

Die Rechnung bekommt man auf einer kleinen Untertasse mit Serviette und Kaffeebonbon. Für eine ordentliche Portion Nudeln und eine große Apfelschorle bezahle ich 5,60 Euro, mir dudelt der Kopf, die Damen neben mir bestellen noch einmal Cocktails, ich kann durch eine Durchreiche in die Küche schauen, eine ältere Frau steht dort in weißer Arbeitskleidung und lacht, redet angeregt, aber lacht wieder, ich kann sie nicht hören, aber sehen, sowieso sehe ich sie hier alle gerne an, weil der Rest draußen so anders funktioniert, weil sich dort alle so abmühen und glatt gebügelt durch die Mittagspause staksen, hier drin stakst niemand, die drei, die einzeln das Café betreten, während ich esse, seufzen alle erst einmal nach dem Hinsetzen und schnaufen aus.

Zweite Woche, September.

Kreuzberg

Wir reden über Vulkane, weil es dieses eine Video gibt, in dem der Typ in einem Schutzanzug direkt vor dem Abgrund steht, aus dem es tieforange spuckt und spritzt, er wirft die Arme in die Luft und ich versuche mir vorzustellen, wie heiß ihm sein muss trotz seines Anzugs, ich meine, ihm das anzusehen, als er später wieder weiter weg steht, vielleicht kann man auch unter der Haut verbrennen, sich von innen verbrühen, wenn das Herz zu sehr erhitzt wird wie in der Mikrowelle, der sieht man ja von außen auch nichts an außer dass sie manchmal nervig piept, wenn man die Bedienungsanleitung nicht aufmerksam genug gelesen hat oder nicht schnell genug aufspringt, um die Tür zu öffnen, dann entweicht der Dampf und dem Essen sieht man trotzdem nichts an, wir haben ja auch nicht alle einen Löffel in der Brust, um Luft abzulassen, um schneller auszukühlen, wir suchen andere Wege und finden keine. Also reden wir danach über Halligen. Auf Halligen, so stelle ich es mir vor, kann man auf dem Sofa sitzen und, wenn man das Haus klug geplant hat, aus mehreren Fenstern gleichzeitig nur Meer sehen, wie auf einem Boot ohne Boot, wie auf einem Schiff ohne kotzen, man sitzt da und schaut und muss nicht einmal lesen und dann kommt die Nacht und bringt keine Laternen mit und vielleicht sitzt man erst und lässt dann den Oberkörper nach rechts kippen, vorher hat man die Fenster geöffnet und dann schläft man mitten im Meer einfach ein und am nächsten Morgen hat irgendjemand oder man selbst die Decke über die Füße gelegt, das ist das beste Gefühl, wenn du morgens merkst, da kam nochmal jemand und hat dich nicht geweckt, nur zugedeckt.

September.

Ufer

Dieser Herbst schlägt dem Fass keinen Boden aus, er ist der Regen, der hineinfällt und es füllt. Ich schreibe den vermutlich traurigsten Brief meines Lebens, ich halte den Hund an der Leine, ich wasche mir jeden Morgen und jeden Abend das Gesicht, ich zerknülle Papier und lege das Handy weg, manchmal stundenlang, ich lege es beiseite wie etwas, das man vergräbt und dann kommt der Wind und trägt den Sand ab und dann liegt es dort wieder, blank gerieben wie Schienbeinhaut nach dem Urlaub, als wäre nichts passiert. Dieser Herbst weiß, wann er kommen muss, um mich nicht zu erschrecken, ein bisschen zu früh, aber leise, Zentimeter für Zentimeter mit dem Arm voller bunter Äste und etwas, das er mir an die Brust drückt, ohne mich zu fragen, und das zittert wie das Laub auf den Straßen, wenn es nicht geregnet hat und alle nach Hause gehen.