Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Tag: Kreuzberg

I am putting my face on you again in order to perceive a very small thing inside your chest

Ich habe das Gefühl, wir führen jetzt ein Episodenleben. Season 1, Episode 1,2,3,4,5,6,7,8,9,10. Pause. Press play. Season 2. Trailer. Exhaustion. Trailer 2. Episode 1,2,3. Season Break. Episode 4,5,6,7,8- Am liebsten würde ich von jedem Tag ein Foto machen. Nicht von einem Moment, sondern von allem. Um zu sehen, was genau geschieht. Um mehr Zeit zu haben, die Unterschiede zu erkennen, aber eben auch das, was bleibt.

Die Planbarkeit kommt abhanden und mir manchmal der Atem. Wir haben selbstverständlich Pläne für in zwei Wochen gemacht, für in drei Monaten, für in einem halten Jahr. Ich höre nun von Menschen, von denen ich seit einem Jahr nicht ein Wort gehört habe, es bleibt bei ein paar Worten, Nebensätzen, Versicherungen, bist du okay, wir sind okay, dann ist’s gut, aber eben ohne Satzzeichen am Ende, ist es das denn? Gut? Und wenn’s doch nur die Pläne wären, aber über die große Panik schreibe ich noch nicht. Wir sind ja noch eine Weile hier.

Die frühen Morgen am Kanal sind mein Atem. Eine Verkörperlichung dessen, was sonst vor allem im Kopf stattfindet. Die Beine werden wach und heiß und schwer, man fühlt alles auf einmal, den Schweiß, die kalte Luft, die erste warme Sonne, das Keuchen und den Wunsch, dass es niemals aufhört, die Müdigkeit und das Drängen nach vorn, eine Kurve noch, eine Ecke noch, eine Brücke noch. Wir laufen Bogen umeinander, die Frauen lächeln einander zu, freundlich, die Männer atmen vor allem immer sehr laut aus.

Ich weiß nicht, was morgen ist, ich habe keine Ahnung. Aber im Wald steht der junge Bärlauch, der schon schmeckt. Wenn man den Kopf in den Nacken legt, sieht man überall kleine hellgrüne Punkte. Das Wasser flimmert. Im Frühling liegt immer dieses Diashowgefühl, die letzten drei bis vier Jahre laufen vor einem ab, jeder Geruch ist belegt, alle sind sehr euphorisch miteinander verwoben wie Patchwork, und Krokusse.

Mir fehlen die Berührungen schon in Woche 2. Im Kopf flackern Hände und Haut herum, wen umarmt man eigentlich wie, wessen Wangenkonsistenz kennt man, welchen Kussgeschmack, welche Handoberfläche, Rauheit, Weichheit, Druckstärken, Oberflächen, Wärmeverteilung. Manchmal erschrecke ich, wenn mein Fuß aus Versehen an ein Stuhlbein stößt, wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, der Stuhl und ich. Wenn ich den Stuhl neben die kleine Kommode schiebe, scheint die Sonne für eine halbe Stunde auf uns beide drauf. Ich glaube, wir mögen das. Plötzlich ist jeder Tag wie der Moment nach dem Kino, in dem man in die Luft tritt und alles wahrnimmt, Farben und Gerüche und Geräusche. Die Straße richtet sich ein im Sonntagsgeräuschpegel.

N. schreibt, drei Sekunden nach dem Aufwachen fühlt sich immer alles an wie Liebeskummer.

(Die Titelzeile ist aus dem Gedicht „at 5:30 in the morning von Mira Gonzalez. Kevin und ich haben außerdem ein Lied geschrieben, gesungen und aufgenommen – gemeinsam mit vielen anderen in und um das Künstler*innen-Kollektiv Barner 16 herum. Hier könnt ihr es hören und sehen. Dieses Lied zu schreiben hat mir zwei Abende lang die Nerven beruhigt.)

And your hair to the left

Mit dem Fahrrad durch den Nieselregen fahren am Ufer entlang, den Pfützen ausweichend und dann noch über das glatte Kopfsteinpflaster balancieren, ein paar stehen vor den Restaurants und rauchen, die Mäntel nur über die Schultern gelegt, die Schals darüber, von einem Bein aufs andere tretend, ich fahre langsam und denke an ein Lied von J., „als wir in großen Buchstaben auf die Wagen schrieben“, das ist nun vielleicht fünfzehn Jahre her, dass wir das Lied zusammen gesungen haben, klingt kürzer, als es sich anfühlt. An der Kreuzung kurz einen Blick die Straße hinunter werfen, dort hinten wurde vor zwei Tagen wieder eine Frau überfahren, am nächsten Tag fand die Mahnwache statt. C. schrieb mir, weil sie an der Unfallstelle vorbeikam, es ruckelt in uns jedes Mal wieder.

A. spielt die Melodie von Darth Vader auf der Gitarre und mit dem Blick auf sein Größerwerden fühlt es sich an, als wäre ich schon eine Ewigkeit da, ich kenne ihn, seit er geboren wurde und jetzt sagt er plötzlich Worte wie Gierschlund.

Am Morgen trete ich auf die Brücke, der Himmel kann sich noch nicht entscheiden, was er sein will, also ist er alles auf einmal, fährt vor mir eine Frau auf dem Fahrrad unter den U-Bahnbrücke hindurch und genau in diesem Moment kackt ihr eine Taube mitten auf den Fahrradhelm., Es klatscht, ein paar Menschen drehen sich um, die wenigsten wissen, woher das Geräusch kam.

Zeilen im Briefkasten aus Sevilla und eine Erinnerung der Krankenkasse daran, dass ich jetzt 35 bin, ein Alter der Vorsorge. Auch ein gutes Wort. Die Zeit vor der Sorge. Oder eine kleine Form der Beunruhigung. Auf Opas Balkon, von dem aus man über die Dächer sehen kann, weil der siebte Stock dafür hoch genug ist, könnte man Kürbisse ziehen. „Das ist eigentlich vorbei“, sagt er und wendet sich ab, „das sehen wir dann.“ Auf dem Flur im Erdgeschoss begegnen wir einem schwarzen Pudel im Regenpullover. Aus dem Zimmer der Ergotherapie riecht es nach Kuchen. Am Tisch sitzen neun alte Damen in pastellfarbenen Pullovern aller Nuancen. Gebacken wird nach den Rezepten ihrer Vergangenheit, sie geben den Ton an und die Mengenangaben. Manche schauen nur zu, andere schneiden die Äpfel in Stücke, feiner als der Nagel des kleinen Fingers. Die große Nährwerttabelle will Opa bei sich behalten, die sollen wir nicht mitnehmen, er schaue dort oft hinein. Wir falten Stützstrümpfe. Sie sind zu klein, aber auch sie sollen bleiben.

Als wir nach drei Stunden aus dem Theater kommen, riecht es nach Schnee. Am Morgen danach spüre ich den Wein, wache quer im Bett auf und suche den Monolog aus Crave von Sarah Kane, den ich vor zwölf Jahren mal auswendig konnte. „(…)And watch great films and watch terrible films and complain about the radio and take pictures of you when you’re sleeping and get up to fetch you coffee and bagels and Danish and go to Florent and drink coffee at midnight and have you steal my cigarettes and never be able to find a match and tell you about the the programme I saw the night before and take you to the eye hospital and not laugh at your jokes and want you in the morning but let you sleep for a while (…)“ Das Ende des Januars liegt herum wie der Teppich im Treppenhaus zum Rang, eine festgetackerte Decke, über die man nur ein bisschen langsamer als sonst hinweg gehen kann mit einem kurzen Blick in die langen Spiegel, in denen man nicht sich selbst, sondern die anderen sieht.

April in Schöneberg.

Blüten

Du bist zu früh dran, will ich dem Jahr sagen, ich bin noch nicht so weit, will ich der Ampel sagen, ich mag deine Stimme nicht, will ich der Karten-App sagen, als mein Blick auf die Manufactum-Lampe fällt, die auch in jeder zweiten Altbauwohnung hier hängt, auch in Mitte, alle haben dieselbe Manufactum-Lampe und abends noch das große Licht an. Frag ich mich auch immer, wer so macht, abends das große Licht an, „aus aus aus“, sagt A. auch immer, wenn es zu hell ist (nur morgens nicht, da ruft er „Essen essen essen“), da sind wir uns einig (in beidem). Neulich stand er vor einer Galerie, das war nicht in Schöneberg, aber die Fenster waren auf seiner Höhe, noch passiert das selten, und dann steht er und schaut und in dem Moment rief er: „Bilder! Laden! Bilderladen!“, und ich dachte, dass das in unserem Kapitalismus wahrscheinlich so funktioniert, dass die Kinder lernen, dass dort, wo die großen, offenen Fenster sind, gekauft wird. Alle anderen ziehen die Gardinen zu.

Überm Spielsalon hängt keine Manufactum-Lampe, da sprießt etwas unter der Decke entlang, das aussieht wie Efeu. Ich habe gelesen, Efeu stünde für das Ewige und ich frag mich, ob man das im Wohnzimmer haben will, also immer über einem drüber, wenn man Tee trinkt zum Beispiel oder die Füße hochlegt oder sich wieder einmal an irgendetwas verhebt. Als ich um die Ecke fahre, steht da plötzlich das Gasometer, irgendwo zwischen Gleisen, Zaun und Gebüsch kifft jemand, das Licht legt sich langsam hin, man kann zusehen, wie es immer tiefer rutscht und irgendwann weg döst. S. sagt, die Menschen hier hätten schon Bock auf Bürgerlichkeit, „aber die faken das nicht und ziehen ihren Kindern keine Band-T-Shirts an“.

Irgendwo zwischen Rosé und Kräutertee taucht dann auch noch ein Regenbogen auf, und man möchte eigentlich sofort aufs Gasometer klettern. Vorn an der Ecke sitzt eine Frau mit pinkem Haargummi und raucht die Ampel an. Sie wartet auf niemanden, ich glaube, sie denkt nicht einmal irgendwas, sie sitzt nur da und raucht und die blaue Stunde kriecht an ihren nackten Schienbeinen hinauf, ohne sich in ihren Schnürsenkeln zu verheddern, weiter vorne hat jemand verschiedenfarbige Flaschen auf dem Bürgersteig zerdeppert und es sieht aus, als wäre ein Stück aus dem Regenbogen gebrochen und runtergekracht, keine Verletzten. Langsam wanken die letzten aus dem Park am Gleisdreieck, vor dem die neuen roten Absperrungen stehen wie zu groß geratene Zähne, hier kommst du nicht durch, jedenfalls nicht mit derselben Geschwindigkeit, dahinter kommt durchs Halbdunkel ein Skateboarder gerollt, alle sehen aus, als würden sie jetzt wirklich nach Hause fahren (oder das zumindest für in Ordnung halten).

An Sonntagabenden muss man nicht viel sagen, alle summen lautlos, „du weißt, ich würde sterben für dich, um dir ein gutes Leben zu garantieren“. Die Schaufenster der Likörfabrik sind so beleuchtet, als gäbe es ein Morgen und als wäre es ratsam, sich deswegen zu betrinken. „Wir kennen die Stellen, an denen Sachen geschahen, und wir kennen die Gerüche und wir kennen die Gegenstände. Und wir können spüren, wie sie die Form verlieren. Fahr, fahr.“