Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Tag: Berlin

I am putting my face on you again in order to perceive a very small thing inside your chest

Ich habe das Gefühl, wir führen jetzt ein Episodenleben. Season 1, Episode 1,2,3,4,5,6,7,8,9,10. Pause. Press play. Season 2. Trailer. Exhaustion. Trailer 2. Episode 1,2,3. Season Break. Episode 4,5,6,7,8- Am liebsten würde ich von jedem Tag ein Foto machen. Nicht von einem Moment, sondern von allem. Um zu sehen, was genau geschieht. Um mehr Zeit zu haben, die Unterschiede zu erkennen, aber eben auch das, was bleibt.

Die Planbarkeit kommt abhanden und mir manchmal der Atem. Wir haben selbstverständlich Pläne für in zwei Wochen gemacht, für in drei Monaten, für in einem halten Jahr. Ich höre nun von Menschen, von denen ich seit einem Jahr nicht ein Wort gehört habe, es bleibt bei ein paar Worten, Nebensätzen, Versicherungen, bist du okay, wir sind okay, dann ist’s gut, aber eben ohne Satzzeichen am Ende, ist es das denn? Gut? Und wenn’s doch nur die Pläne wären, aber über die große Panik schreibe ich noch nicht. Wir sind ja noch eine Weile hier.

Die frühen Morgen am Kanal sind mein Atem. Eine Verkörperlichung dessen, was sonst vor allem im Kopf stattfindet. Die Beine werden wach und heiß und schwer, man fühlt alles auf einmal, den Schweiß, die kalte Luft, die erste warme Sonne, das Keuchen und den Wunsch, dass es niemals aufhört, die Müdigkeit und das Drängen nach vorn, eine Kurve noch, eine Ecke noch, eine Brücke noch. Wir laufen Bogen umeinander, die Frauen lächeln einander zu, freundlich, die Männer atmen vor allem immer sehr laut aus.

Ich weiß nicht, was morgen ist, ich habe keine Ahnung. Aber im Wald steht der junge Bärlauch, der schon schmeckt. Wenn man den Kopf in den Nacken legt, sieht man überall kleine hellgrüne Punkte. Das Wasser flimmert. Im Frühling liegt immer dieses Diashowgefühl, die letzten drei bis vier Jahre laufen vor einem ab, jeder Geruch ist belegt, alle sind sehr euphorisch miteinander verwoben wie Patchwork, und Krokusse.

Mir fehlen die Berührungen schon in Woche 2. Im Kopf flackern Hände und Haut herum, wen umarmt man eigentlich wie, wessen Wangenkonsistenz kennt man, welchen Kussgeschmack, welche Handoberfläche, Rauheit, Weichheit, Druckstärken, Oberflächen, Wärmeverteilung. Manchmal erschrecke ich, wenn mein Fuß aus Versehen an ein Stuhlbein stößt, wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, der Stuhl und ich. Wenn ich den Stuhl neben die kleine Kommode schiebe, scheint die Sonne für eine halbe Stunde auf uns beide drauf. Ich glaube, wir mögen das. Plötzlich ist jeder Tag wie der Moment nach dem Kino, in dem man in die Luft tritt und alles wahrnimmt, Farben und Gerüche und Geräusche. Die Straße richtet sich ein im Sonntagsgeräuschpegel.

N. schreibt, drei Sekunden nach dem Aufwachen fühlt sich immer alles an wie Liebeskummer.

(Die Titelzeile ist aus dem Gedicht „at 5:30 in the morning von Mira Gonzalez. Kevin und ich haben außerdem ein Lied geschrieben, gesungen und aufgenommen – gemeinsam mit vielen anderen in und um das Künstler*innen-Kollektiv Barner 16 herum. Hier könnt ihr es hören und sehen. Dieses Lied zu schreiben hat mir zwei Abende lang die Nerven beruhigt.)

Too much pretense here

Abends als ich nach Mitternacht über die leere Wilhelmstraße unter dem vollen Grießbreimond nach Hause fahre, der Sommer ist da, er legt sich mit schwitzenden Armen auf unsere Schultern, als ich da fahre, wünsche ich mir wieder, ich wäre besser, disziplinierter im Auswendiglernen, denn dieses Lied von Kate Tempest ist eines der wenigen Lieder seit langen, das mich jedes Mal beim Hören, also dem richtigen Hören, in dem man nicht viel anderes tut, in dem die Worte und das Klavier der Motor sind und man sich fahren lässt, es ist also eines der wenigen Lieder, das mich zu Tränen rührt. Das Klavier ist gleichzeitig schwer und tragend, fordernd ohne zu drängelnd, selbstbewusst mit genug Raum für die Worte und es legt sich nicht wie der Sommer auf mich drauf, sondern unter mich, unter die Füße, unter die langsamen Schritte, unter das Vorderrad, unter meine Hände, die alles tun, was sie können derzeit, unter meine Augenlider ohne mir Licht zu klauen, ohne die Nacht zu stören, dieses Lied ist alles, was dieser Sommer ist, nicht das, was er sein könnte. Wann hast du das letzte Mal gedacht und in den Handgelenken gespürt, dass das hier unangenehm ist, aber nötig, dass hier anstrengend ist, aber ein dich dehnender Schritt, eine so dringliche Veränderung, die du wahrscheinlich irgendwann, aber erst einmal nicht vergessen wirst, weil sie sich in deine Fasern setzt und nur langsam abgebaut wird? Dieser Sommer will viel und er wird es bekommen, dieser Sommer knarzt, aber so, dass man sich ihm erneut und immer wieder zuwendet, er macht einen Punkt und ich interessiere mich für die Person, die ich sein werde, wenn er vorüber ist. „The days are not days but strange symptoms“.

Light Years

Am Abend einen Einfall spüren, der innerhalb von kürzester Zeit immer größer wird, nicht mehr weg zu ignorieren. Und am Bauchgefühl merken, dass das ein guter Einfall ist. Am Morgen beantrage ich den Urlaub, am Abend buche ich den Zug. „Irgendwann hab ich angefangen, damit aufzuhören“, vielleicht höre ich jetzt auf damit Sachen eher aufzuschieben oder zu denken, das sei etwas für später. Und dann fallen mir die Flaming Lips wieder ein, die M. damals in mein Leben brachte neben dem Fotoautomaten am anderen Ende der Stadt. Komisch, nicht wahr, wenn man gerade mit der einen Körperhälfte lernt abzuwarten, und im gleichen Moment mit der anderen lernt, loszugehen. Vielleicht hat das auch nichts mit Körperhälften, sondern eher Körperteilen zu tun. Head over heart. Heart over pelvis.

Der Nachbar gegenüber mit den langen Haaren spielt jetzt wieder bei offenem Fenster Klavier, und das auch sehr ausladend. Er beugt sich und kämpft, man könnt meinen mit den Tasten. Aber man hört ihn nicht. Man hört wirklich gar nichts, ich habe es eine Weile versucht, dann wurde es kalt und ich musste mein Fenster schließen. Was, denke ich, wenn ihm ein totes Wiesel auf den Saiten liegt oder ein verbummelter Schlafsack und er weiß das gar nicht, vielleicht ist das schon immer so.

Am Abend nach dem Essen, es ist dunkel, aber mild, komme ich an diesem Magnolienbusch (oder ist es ein Baum?) vorbei und die Blüten leuchten, auch um diese Uhrzeit noch, als hätte jemand Glühbirnchen in ihnen versteckt. Dass ich stehengeblieben bin, um zu gucken, merke ich erst, als sich die zwei Frauen an mir vorbei drücken und mich verwundert ansehen.

Da vor dem Weinladen ist der einzige Platz, an den am Abend noch Sonne fällt. Auf der kleinen Bank vor dem Baum sitzen zwei ältere Herren mit Hut und betrachten den Wein in ihren Gläsern mit ausgestreckten Armen im Gegenlicht. Sie grinsen und murmeln, man versteht sie nicht. Der Verkäufer erkennt mich wieder, ich sehe das an seinen Augenbrauen, es ist eine ganze Weile her, aber mittlerweile kann ich behaupten, ich komme seit Jahren. Drumherum holen die Menschen ihre Kinder von irgendetwas ab, bringen sie irgendwohin, einer in der Konstellation zieht immer den anderen, zu meinen Füßen liegen Beutel, die Blumen werden diese zwanzig Minuten aushalten. Eigentlich fand ich es immer gut, Gesprächen von Fremden zu lauschen, mich nur kurz in Gedanken einzumischen, aber meinem Gesicht nichts anmerken zu lassen. Dieser Tage ist es besser zu schweigen, Musik zu hören, alles sieht dabei aus wie ein deutsche Fernsehfilm, der Boden ist vielleicht ein bisschen zu dreckig für einen deutschen Fernsehfilm und der Soundtrack zu gut. Ein Film ohne Gespräche, aber mit Abläufen, Gesten, einem Lächeln hier und da. Man wird auch beäugt, wenn man nur so sitzt und auf niemanden wartet.

„Mit Zynismus konnte Jetti nicht umgehen. Nach Zynismus musste sie Musik hören, um wieder dorthin zurückzukehren, wo der Mensch anfängt.“ (Michael Köhlmeier, Bruder und Schwester Lenobel)

„Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer“

Der späte Februar und der beginnende März waren schon letztes Jahr eine Zeit, in der man abends kurz nach sieben noch tippend am geöffneten Fenster sitzen konnte ohne zu frieren, jedenfalls für ein paar Minuten, ein paar mehr. Eine Zeit, in der der Wind eine Atempause macht, die Tage so zukunftsgewandt, dass man bei der Vergangenheit wieder rauskommt. Der kleine Pathos, wenn es abends schon nach Sonne riecht und die Nacht nur langsam drüber klettert, wenn man Fahrradfahren kann, ohne dass einem die Wangen zerrupft werden von der Eisluft oder die Finger abfallen. Wenn die Haut sich schon windet, weil sie weiß, was kommen wird, aber noch nicht da ist, und auch diese Ahnung funktioniert ja nur im Abgleich, die funktioniert nur, weil wir das schon einmal erlebt haben (nicht nur einmal, die meisten von uns mehrfach), und weil wir die Bilder kennen. Wir können uns ja selten angemessen nach etwas sehnen, was wir noch nie gehabt haben, in diesen Fällen ist es relativ wahrscheinlich, dass die Vorstellung, an der die Sehnsucht hängt, schlenkert und an der Realität vorbei schrammt. Marion Brasch sagt im Interview, ihr Bruder Thomas sei einer von diesen liebens- und hassenswerten Menschen gewesen, „das macht eben solche Charaktere auch aus, dass sie nicht nur die Menschen auf ihre Seite ziehen, weil sie so toll sind, sondern auch weil sie sie absorbieren, er war so jemand, der auch Menschen getrunken hat“.

Mehr ein- als ausatmen. Der Frühling ist der erste Herbst des Jahres. Er riecht nach Pfannkuchen.

Rollwende

Wenn der Januar so ist, dass es danach nur noch besser werden kann, dann lohnt es sich vielleicht doch den Atem anzuhalten, um irgendwo anders wieder aufzutauchen und erst dort Luft zu holen für den weiteren Weg. Irgendwann später. Bis dahin kraulen. Sie sagen, Kraulen sei eine der einfachen Schwimmtechniken und eine der schnellsten, was beides praktisch ist, wenn man bedenkt, dass nicht sicher ist, ob im Falle des Januars nur eine Überbrückung von Zeit oder eben doch Strecke oder gar beidem von Nöten ist.

“Das Gesicht des Schwimmers weist zum Grund des Gewässers”, sagen sie. „Das ist machbar“, denke ich und senke den Kopf. Was sie einem nicht sagen, ist, ob man die Augen dabei geschlossen oder doch auf halten soll, und kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass das jeder für sich selbst entscheiden müsse, ich bin Anfängerin, ich brauche Geländer, könnten Sie mir bitte einfach sagen, was sich eignet? Irgendjemand erzählte auch etwas von ununterbrochenem Antrieb bei dieser Schwimmtechnik, „das ist vermutlich etwas Gutes“, denke ich und schaue mir selbst sehr viel auf die Füße. Wir stehen, es glitzert. Ich lüge. Es glitzert nicht, es wabert nur. Glitzern würde es, wenn hier Sonne hinein fiele, aber gerade lugt nur das Grau sehr neugierig aus der Dusche. Nein, es glitzert nicht. Und dieser Januar ist nicht glamourös.

Im nächsten Schritt geht es um die Atmung. Nur seitlich aus dem Wasser drehen, „der Kopf kommt nicht ganz raus“, sagen sie, das ist schon schwieriger, weil man ja dann hochguckt und den Beckenrand sieht, insofern die Schwimmbrille gut sitzt und man sich für die geöffneten Augen entschieden hat (was ich empfehle, wenn man nicht gerade angstfrei im offenen Ozean unterwegs ist). Alle zwei bis fünf Züge soll man also den Kopf hochdrehen und atmen, sonst macht man das ja automatisch mit dem Luftholen, jetzt soll ich zählen oder mich zumindest anders auf die innere Uhr verlassen, also Atmen nach Ansage, man könnte dabei durcheinander kommen, schließlich müsse man noch auf andere Dinge achten, sagen sie. Würde meine innere Uhr funktionieren, also so wie es in sehr klugen Romanen steht, von denen ich mir wünsche, dass sie etwas mit der Realität zu tun hätten, damit wir nicht hoffnungslos verloren sind, würde meine innere Uhr so funktionieren, wie es da geschrieben steht, dann wäre ich jetzt nicht hier und müsste diesen Unsinn nicht machen. Es ist nass, es ist kalt, man kann diesen Januar nicht einmal sarkastisch durch die Pfütze ziehen, denn die Pfütze ist zu flach und der Januar ein Arschloch. Und sowieso sagen alle etwas anderes, also was die Technik des Durchtauchens angeht, Nase zu, Augen auf, Augen zu, nicht atmen, später atmen, vorher atmen, springen, gleiten, koordinieren. Nur in einer Sache sind sie sich einig. In der Richtung. „Was sie nicht bedenken“, sage ich leise eher zu mir selbst als zum Publikum, „ist, dass auch vorn immer davon abhängt, wo man gerade steht.“

Die neunundvierzigste Woche Jahr #4

Sky Sky

Die Stadt atmet ein und aus, deswegen hängt der Dunst über ihr, als kumuliere sich in dieser Wolke auch der Atem aller, die am Sonntag herumgehen und denken “ Bald. Bald Weihnachten. Bald Silvester. Bald Bonus. Bald ein Abkommen. Bald Erlösung. Bald liegen. Bald neue Vorsätze. Bald Gehaltserhöhung. Bald wird’s schlimmer. Bald wieder Licht. Bald ein neuer Bundespräsident in Österreich. Bald Ravioli. Bald Urlaub. Bald ein Kilo weniger. Bald Schnauze halten. Bald eine Katastrophe in Italien. Bald nicht mehr denken. Bald dran glauben. Bald atmen. Bald drei Minuten für mich. Bald nicht mehr hier lang müssen. Bald duschen. Bald essen. Bald vielleicht Bescheid wissen. Bald was anderes“. Jemand hat das Geländer unter der erneut grau angestrichen, das in ein paar Tagen wieder weiß gesprenkelt sein wird wegen der Tauben. Man kann der Spree bis auf den Grund schauen gerade, weil sie steht und friert, die schwimmende rosa Plastiktüte kann da auch nichts machen. Ich weiß noch, als der Schwan eines Sommers mit über die Ampel ging. Bei Rot erst mit den Wartenden stand, und alle, die noch nicht gehen durften, sind völlig ausgeflippt, aber haben sich zusammengerissen, um den Schwan nicht zu erschrecken. Jedenfalls stand er da bei der Bibliothek an der Ampel, als wäre er einer von ihnen und dann ging er bei Grün mit ihnen hinüber und als er sich zur U-Bahn aufmachte, haben es die Menschen nicht mehr ausgehalten und sich ihm in den Weg gestellt, damit er die kleine Treppe zum Wasser hinunter watschelt oder fliegt oder was weiß ich, aber der U-Bahn-Tunnel war nun wirklich zu viel des Guten. Der Schwan schien erst ein bisschen irritiert und versuchte an den Menschen vorbei zu gehen, so sehr ein Schwan gehen kann, er watschelte so rum und sprang dann von der Brücke, flog ein Stück, etwas ungelenk und landete dann im Wasser und die Menschen oben haben applaudiert. Mehr sich selbst als dem Tier. So ist das ja meistens. Jetzt liegen vollgereifte Blätterhaufen im Rinnstein, die Menschen reiben sich in der U-Bahn die Hände warm. In der Nacht gab es überfrierende Nässe, die nun schimmert, als habe sich jemand auf der Kreuzung vertan. Dann läuten die Glocken, das Licht rutscht beiseite, die Kinder wollen nochmal aufs Trampolin, jemand seufzt und geht mit, muss ja einer mit immer. Die Bahn verschwindet zwischen den Häusern. Eine Straße weiter steht ein Mann in einem Gyros-Menü-Kostüm und verteilt Zettel. Als wir wieder aus dem Haus kommen, steht ein anderer dort. Auch im Kostüm. Sie frieren, man sieht ihnen das an, sogar den Zetteln sieht man das an. Er denkt auch: Bald. Und: Vielleicht.

It isn’t the same, don’t give it a name.

April in Schöneberg.

Blüten

Du bist zu früh dran, will ich dem Jahr sagen, ich bin noch nicht so weit, will ich der Ampel sagen, ich mag deine Stimme nicht, will ich der Karten-App sagen, als mein Blick auf die Manufactum-Lampe fällt, die auch in jeder zweiten Altbauwohnung hier hängt, auch in Mitte, alle haben dieselbe Manufactum-Lampe und abends noch das große Licht an. Frag ich mich auch immer, wer so macht, abends das große Licht an, „aus aus aus“, sagt A. auch immer, wenn es zu hell ist (nur morgens nicht, da ruft er „Essen essen essen“), da sind wir uns einig (in beidem). Neulich stand er vor einer Galerie, das war nicht in Schöneberg, aber die Fenster waren auf seiner Höhe, noch passiert das selten, und dann steht er und schaut und in dem Moment rief er: „Bilder! Laden! Bilderladen!“, und ich dachte, dass das in unserem Kapitalismus wahrscheinlich so funktioniert, dass die Kinder lernen, dass dort, wo die großen, offenen Fenster sind, gekauft wird. Alle anderen ziehen die Gardinen zu.

Überm Spielsalon hängt keine Manufactum-Lampe, da sprießt etwas unter der Decke entlang, das aussieht wie Efeu. Ich habe gelesen, Efeu stünde für das Ewige und ich frag mich, ob man das im Wohnzimmer haben will, also immer über einem drüber, wenn man Tee trinkt zum Beispiel oder die Füße hochlegt oder sich wieder einmal an irgendetwas verhebt. Als ich um die Ecke fahre, steht da plötzlich das Gasometer, irgendwo zwischen Gleisen, Zaun und Gebüsch kifft jemand, das Licht legt sich langsam hin, man kann zusehen, wie es immer tiefer rutscht und irgendwann weg döst. S. sagt, die Menschen hier hätten schon Bock auf Bürgerlichkeit, „aber die faken das nicht und ziehen ihren Kindern keine Band-T-Shirts an“.

Irgendwo zwischen Rosé und Kräutertee taucht dann auch noch ein Regenbogen auf, und man möchte eigentlich sofort aufs Gasometer klettern. Vorn an der Ecke sitzt eine Frau mit pinkem Haargummi und raucht die Ampel an. Sie wartet auf niemanden, ich glaube, sie denkt nicht einmal irgendwas, sie sitzt nur da und raucht und die blaue Stunde kriecht an ihren nackten Schienbeinen hinauf, ohne sich in ihren Schnürsenkeln zu verheddern, weiter vorne hat jemand verschiedenfarbige Flaschen auf dem Bürgersteig zerdeppert und es sieht aus, als wäre ein Stück aus dem Regenbogen gebrochen und runtergekracht, keine Verletzten. Langsam wanken die letzten aus dem Park am Gleisdreieck, vor dem die neuen roten Absperrungen stehen wie zu groß geratene Zähne, hier kommst du nicht durch, jedenfalls nicht mit derselben Geschwindigkeit, dahinter kommt durchs Halbdunkel ein Skateboarder gerollt, alle sehen aus, als würden sie jetzt wirklich nach Hause fahren (oder das zumindest für in Ordnung halten).

An Sonntagabenden muss man nicht viel sagen, alle summen lautlos, „du weißt, ich würde sterben für dich, um dir ein gutes Leben zu garantieren“. Die Schaufenster der Likörfabrik sind so beleuchtet, als gäbe es ein Morgen und als wäre es ratsam, sich deswegen zu betrinken. „Wir kennen die Stellen, an denen Sachen geschahen, und wir kennen die Gerüche und wir kennen die Gegenstände. Und wir können spüren, wie sie die Form verlieren. Fahr, fahr.“

Juli, U2.

Cemetery

Vinetastraße. Sie sind zu dritt, zwei setzen sich auf die Plätze gegenüber, eine neben mich. „Haha, jetzt wo ich weiß, dass du den nicht heiratest, finde ich den cool. Das war bei B. auch so, als sie den hatte, da fand ich den nicht gut, so – ich kann’s gar nicht erklären – vielleicht unzuverlässig? Er hat ständig alles verpeilt, nix hat der hinbekommen, obwohl der eigentlich ganz okay war, also so zum Labern, völlig okay eigentlich, aber für meine Freundin, da wollte ich was anderes, die hätte ja alles machen müssen, so’n ganzes Leben, also nee echt nicht. Aber als sie sich dann getrennt hat, hab ich mit dem geredet und so und der war echt lustig, ich mein, der ist eigentlich voll okay. Aber B. wirklich, neulich da hat sie einen Chickenburger bestellt und meinte noch: Keine Currysauce, wirklich, also echt nich, keine Currysauce. Und dann sitzen wir im Auto, packen das aus und dann is da natürlich Currysauce drauf. Ruft die wirklich im Laden an und sagt: Ich will mich beschweren, ich hab gesagt, ohne Currysauce. Die hat da echt angerufen und denen das gesagt ausm Auto, als wir das gegessen haben.“

An der Schönhauser Allee eine Klassenfahrtsgruppe. Es sind so viele, es ist so eng, es ist laut und riecht nach Pubertät. Um schmale Hälse hängen riesige Digitalkameras mit Extra-Akku. „Hier kann man ja gar kein Selfie machen, geh mal kurz weg, is mir egal, wohin, aber ey, kann ich hier ein Selfie machen? Geht, oder? Warte.. Ja, geht. Willste sehen? Warte, ich mach noch eins. Moment. So. Geht. Ey, hier kann man Selfies machen!“

Alexanderplatz, die Klasse steigt aus, Studenten ein, sie sind zu fünft. Am Arm trägt sie drei Festivalbändchen und etwas mit Perlen: „Ich verstehe das nicht. M. hat immer gesagt, pass auf. Aber echt. ich hasse Geld. Ich hasse Geld wirklich. Scheiß Kapital! Nächsten Monat möchte ich mich endlich wieder vollkommen fühlen, das macht mir so ein Loch im Gehirn. Scheiß Geld. Wer hat die Fahrkarten? D.? Okay.“

Zuhause das Os zygomaticum am Waschbeckenrand, irgendetwas zwischen Empathie und Resonanz. An J. denken und wie mein Bauch heute nachgespürt hat, ob er im Schlaf noch atmet auf mir. Augenblickliche Fühler, J. ist vier Wochen alt. Sein Zeh ist so groß wie der Nagel meines kleinen Fingers.

Á eftir vetrinum kemur vorið.

Frühling in Berlin

Man schimpft jetzt über das Wetter, das macht man ja immer so, das gehört dazu wie das Schimpfen über den öffentlichen Nahverkehr, das Schimpfen über Menschen, die zu langsam laufen, und Autos, die zu schnell fahren. Man schimpft eben über das Wetter, weil das Wetter es einem nicht recht machen kann. Dabei ist er nun einmal so, der Frühling. Er war ja nie anders. Er war immer unstet und kalt und warm und regnerisch und sonnig. Und wenn er nicht so war, dann war es nicht der Frühling. Sondern was anderes. Ein euphorischer Sommer, ein geduldiger Winter. Aber Frühling ist so, da kannst du dich auf den Kopf stellen, du wirst trotzdem nass. Frühling ist Übergang und darüber schimpft man eben, weil Übergang Unklarheit bedeutet und Überraschung und Unvorhergesehenes und Abschied und auch mal Enttäuschung, aber eben auch Anfang und Sortieren und Loslassen und Sähen und Putzen und nicht mehr so viele Pullover, jedenfalls nicht jeden Tag. Übergang ist immer herumwurschteln und aus dem Bett fallen und sich gewöhnen. Darüber schimpfen Menschen, aber der Frühling versucht nicht mehr, ihrem Wunschbild zu entsprechen, das kann er nicht einlösen. Er kommt einfach jedes Jahr wieder, er wird nicht aufhören damit. Vielleicht bleibt er nicht so lang, aber er kommt wieder. Man wird das Wie nicht ändern können, auch mit Tiraden nicht, das bestimmt nur er selbst. (Menschen glauben so oft, sie wüssten, wie es sein muss. Und vergessen dabei zu sehen, wie es einfach ist.)

Scheitern als Magazin

Scheitern Magazin

Für das Scheitern Magazin habe ich einen Text über blaue Flecken geschrieben. Wir feiern das Erscheinen der Ausgabe am 16. April in der Bar Babette. Feel free to join.