Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Epikard.

Fjell

Das ist etwas, das wir Menschen perfektionieren, solange wir in Strukturen leben und arbeiten, die uns in Bewegung halten, bei Laune, in einem Zustand der ständigen Aufmerksamkeit. Wir starren auf Flächen und bemerken nicht einmal, wie unsere Pupillen zittern. In den seltensten Fällen bekommen wir es hin, den Fokus zu verlieren und die Fläche als Fläche wahrzunehmen und nicht zu scannen nach Unebenheiten, Makeln oder eben irgendetwas, das heraussticht. Ich suche so oft und immer und die ganze Zeit und wenn es nur Erinnerungen sind, irgendetwas, das ich mir merken kann. Es ist ja auch schwierig, los- und sich fallen zu lassen, es ist verdammt noch einmal schwierig, den Knoten zu lösen und nicht sofort aufzuschreiben, wie es ging, damit man es noch einmal tun kann, um sicher zu sein, oder nicht gleich einen neuen zu machen, um ihn wieder lösen zu können. Es ist so scheiße schwer, die Hände still zu halten und nur zu atmen und zu schauen und zu schlucken und zu spüren, was einen streift. Wie Luft und Nieselregen und feiner Staub und ein Geruch und ein Wort. Ich bin immer dabei, ständig zu verarbeiten, mir einen Reim auf etwas zu machen, zu hinterfragen, zu bewerten, einzuordnen, zu sortieren, rot blau grün gelb, dahin dorthin, achso, ach ja.

In Island wurde ich ruhig. So ruhig, dass ich zum ersten Mal seit langer Zeit mein Herz fühlte. Fühlte, wo es sitzt und wo es immer sitzen wird, das Klopfen, das Pochen, das Hämmern, das Schlagen und wo das hinführt, das Pumpen, die Irritationen, das Rein und das Raus, hin und her und immer immer immer wieder. Und ich dachte dann, dass es manchmal schade ist, dass wir nicht in uns selbst hineingreifen können, um mal nachzufühlen, und im nächsten Moment weiß ich, dass genau dieser Gedanke wieder ein Trick ist, gelernt in meinem System, eine blöde Verarsche. Auszuhalten, dass das nicht geht, ist die Kunst. Ich kann mich meiner selbst nie so versichern, ich muss darauf vertrauen, was ich von außen spüre, was ich von innen spüre, aber ich werde nie nachsehen können, ob es wirklich noch klopft, ob ich mir das nicht einbilde, ich werde nie meine Hand ausstrecken und die Finger um mein eigenes Herz schließen können, das wird immer und immer die Aufgabe von jemand anderem bleiben. Das Epikard, die äußere Schicht der Herzwand, sondert an einer bestimmten Stelle eine geringe Menge klarer Flüssigkeit ab, die die Reibung zwischen den Blättern des Herzbeutels reduziert, wenn das Herz seiner Aufgabe nachgeht. Das ist das, was ich weiß.

Xenolith.

Strand

Wir standen am Ufer, noch völlig zerzaust von einem Flug und einem Temperaturunterschied und all den Tagen, die man ja immer mit sich herum schleppt. Wir standen dort und das Abendlicht, das indirekte, das man nicht sehen kann und das trotzdem hindurch kriecht durch Wolken und Haut, färbte die vom Wind zerdrückten, trockenen Wintergräser hellbraun. So hellbraun, als habe jemand gerade etwas drüber gekippt, semipermeabel, nicht ganz deckend, etwas, das noch nicht weiß, ob es bleiben wird, das sich in der nächsten Sekunde auch verflüchtigen könnte, wenn es sich dafür entscheidet. Und vor uns der Ozean, S. zeigte in die Ferne, dort hinten liege der Gletscher, den man nur erkennt, wenn die Sicht wirklich gut ist, und weiter links noch drehte das Licht des Leuchtturms seine Runde. Zwischen Meer und Sand und Dünensträuchern lagen die großen, schwarzen Steine. Basalt vielleicht. Wenn ich aus isländischem Boden stehe und gehe, taucht immer wieder die Frage auf, wann dieser Boden, das, was sich fest anfühlt unter mir, was mich hält, wohl das letzte Mal flüssig war und wann es das wieder sein wird, es kehrt ja das meiste irgendwann dorthin zurück, von wo es gekommen ist. Und in Island sind alle Aggregatzustände immer so nah beieinander, das Flüssige und das Feste, heiß und kalt; und die Grenzen von allem Grundsätzlichen werden hier einem mit beinahe jedem Schritt vor Augen geführt. Die Endlichkeit von Land und Wasser und dem eigenen Standpunkt, die Endlichkeit vom eigenen Können und dem Aushalten, das Verrinnen von Zeit. Und mit alldem auch immer das Begreifen der Unendlichkeit von allem, was man nicht begreift, was man nicht weiß, nicht fühlt, nicht sieht, nicht hört, nicht kann, nicht will, nicht wird. Island malt einen Kreis um mich. Im ersten Moment fühlt es sich unheimlich an, das kleine Stück Land, der Rahmen, und später wird der Kreidekreis zu einem Platz, auf den man sich verlassen kann, das bin ich. Mehr hab ich nicht.

Indikativ.

Island

Als Kind habe ich mich mal gefragt, ob alle Menschen die Farben gleich sehen. Ob mein Rot auch dein Rot ist. Mein Grün dein Grün. Oder ob wir völlig verschiedene Welten nur einfach gleich nennen, weil wir es nicht überprüfen und lediglich in Hell/Dunkel und Schraffuren unterscheiden können. Dazu gehörte die Vorstellung der Welt durch die Brille der anderen. Was wäre, wenn meine grünen Bäume bei dir eigentlich lila sind? Wenn ich für dich blaue Haare habe und der Himmel jeden Morgen eigentlich braun leuchtet statt orange?

Später kam Zeit dazu. Ein Gespür dafür, wie sich Oberflächen abnutzen. Dass Tage, Wochen, Jahre, mitunter auch nur ein paar Minuten sehr viel mit Haut machen können, sie verledern, abschmirgeln, anrauen. Dein Schwarz wäre nicht einfach mein Dunkelblau. Dass wir das unterschiedlich sehen, könnte auch an dem Alter unserer Netzhaut liegen, der Tageszeit und dessen, was das von uns Betrachtete schon erlebt hat, weißt du? Weißt du, ich weiß.

Island

Und dann auch merken, dass Licht wichtig ist. Nicht nur da sondern relevant vorhanden. Und dass es auch mal unter die Bettdecke kommen muss. Dass nicht egal ist, von wo es wohin fällt. Mein Schwarz ist vor allem nicht dein Schwarz, weil wir niemals am selben Ort stehen können, weißt du, aus derselben Höhe schauen mit derselben Sicherheit, das wird nicht funktionieren, deswegen changiert unser Farbfeld, es ist immer deins und meins und wenn wir Glück haben, laufen die Farben an ein paar Stellen ineinander.

Es sieht immer nur so aus, wie es aussieht, weil man fühlt, was man fühlt, und ist, wer man ist. Es sieht immer nur alles ein einziges Mal genau so aus.

Zurückkehren.

Kex Hostel

Meine Reisen brauchen immer eine Weile, bis sie einen Platz in mir gefunden haben. Ich fahre los und komme kaum zum Denken, ich fahre weiter und alles fliegt mir von innen um die Ohren, um den Gehörgang, knapp an den Pupillen vorbei, in ständiger Berührung mit der Schädeldecke, es quietscht nicht, es gleitet. Irgendwann dann wird es langsamer, rollt nur noch, kommt zum Stehen, setzt sich. Aber das dauert. Ich erinnere dann keine Reihenfolgen, ich erinnere Bilder, die auf den Boden gelegt und in deren Nähe Fenster geöffnet werden. Die Episoden setzen sich neu zusammen, manchmal sieht man, wie etwas passt, das man nicht erkannt hat.

Ich habe die Insel beim Ankommen sofort gerochen, als wir draußen vor dem Flughafen standen und Nina eine Zigarette rauchte. Ich wußte, dieses Mal habe ich etwas mehr Zeit und dass es nicht genug, aber schon gut sein wird. Vielleicht braucht man immer einen Grund, um wiederzukommen. Und da stand ich und sah in die Nichtlandschaft, die um den Flughafen herum ist, das Wasser war dunkelgrau, als wir darüber flogen, daneben immer noch diese hellbraunen Weiten, über die nur Stromleitungen führen, irgendwo weiter hinten der Dampf der Blauen Lagune wie ein Rauchzeichen. Du bist jetzt da. Der Landeanflug müsste länger dauern, vielleicht werde ich irgendwann um die Insel fliegen müssen, um sie zu begreifen. Ich wusste, wir fahren durch den Süden und der ganze Rest, das ganze Große liegt dahinter und wartet noch, es rennt nicht weg, alles ist in Ordnung, wir sehen uns irgendwann.

Le Chateau des Dix Gouttes

Das Hemmi og Valdi auf der Laugavegur gibt es nicht mehr. Ich habe dort zwei Becher gekauft, weil sie so gut in die Hand passten, weil die heiße Schokolade aus ihnen besser schmeckte. Es gab Toast und man konnte immer irgendjemandem beim Schachspiel zusehen, ohne dass er es bemerkte. Manchmal spielte jemand mit sich selbst, manchmal zu zweit. Jetzt ist ein Coffee Shop eingezogen, der aber ebenfalls gerade umgebaut wird, Stuart erzählt etwas von einem Hotel. Ich hatte mich auf den Geruch gefreut, auf die eine Ecke mit der grün bezogenen Bank, jetzt gibt es diesen Ort nicht mehr und wir suchen einen neuen. Wir bestellen den Wein nach dem Etikett und essen belgische Waffeln, es läuft ein irgendein Weihnachtslied in einer anderen Sprache, ich habe vergessen, in welcher genau, aber ich weiß noch, wie wir darüber sprachen, dass sich die Herkünfte der Dinge vermischen und wie absurd es ist, am anderen Ende der Welt zu sitzen und etwas zu hören, das man kennt.

View from Kex

Wir schlafen allein in einem Sechsbettzimmer und versuchen, nicht zu sehr zu überlegen, wer welches Bett nimmt. Ich schlafe am Fenster. Von dort sieht man in den Hof und abends in die Fenster des Wohnhauses gegenüber, jemand hat dort ein Atelier eingerichtet und läuft viel auf und ab. Es wird früh dunkel, unsere Wangen glühen. Irgendetwas im Haus klappert die ganze Nacht, irgendwann hören wir es nicht mehr, nur noch den Wind. An diesem ersten Abend bleibt Island noch eine Ahnung, ein Bauchgefühl, lediglich als wahr angenommen, noch nicht bestätigt.

Café Tucholsky.

Zucker

„Bademäntel sind etwas Schönes. Ich habe auch einen, aber den benutze ich nie. Das ist noch der, den sich mein Vater 1954 in Graal-Müritz gekauft hat. Das weiß ich noch, denn das war unser erster Ost-Urlaub. Da hat er gedacht, nimmt er sich was mit. Und jetzt habe ich ihn und benutze ihn nie. Obwohl Bademäntel wirklich etwas Schönes sind, aber ich vergesse immer, dass ich einen habe und dann bin ich schon abgetrocknet, wenn es mir wieder einfällt. Früher sind die Herren ja bis mittags in ihren Morgenmänteln rumgelaufen, aber für mich wäre das nichts, obwohl ich mir das sehr bequem vorstelle, aber da friert man ja an den Füßen und niemand nimmt einen ernst.“

„Die wichtigsten Geschichten behielt man besser für sich.“

Zweig
Stamm
Halm
Halb
Up

„Denn jede Geschichte, die man erzählte, gehörte einem nicht mehr ganz. Man musste darauf achten, was man teilte.“ (S.256, Das grössere Wunder, Thomas Glavinic)

Alle haben immer schon so viel erlebt, bevor sie einen treffen.

Feathers

Man vergisst das so schnell.

Anterograd.

Hedgehogs

„So wie einem das Bein einschläft, weißt du, manchmal wenn man komisch sitzt, so könnte einem doch auch mal das Herz einschlafen, vielleicht passiert das ständig und wir merken es nur nicht mehr, jedenfalls nicht so richtig, weil wir so viel damit beschäftigt sind, Termine zu planen, vielleicht ist das gar kein Kribbeln im Bauch, jedenfalls nicht so eins, wie wir immer glauben, wenn wir uns verlieben. Das kann doch sein, dass das ein eingepenntes Herz ist, das kann doch müde werden, das ist so ausgeschlossen ja nicht, ich meine, das ackert da den ganzen Tag herum für uns. Damit wir geradeaus laufen können oder Stufen hoch und Stufen runter, damit wir auf Knöpfe drücken und Guten Tag und Auf Wiedersehen sagen können und Spannbettlaken kaufen und all sowas. Vielleicht schläft es ein manchmal, weil es so im Eimer ist von dem ganzen Kram und wir denken, yippieh yeah, wir sind verliebt, und es fühlt sich nicht etwa so an, weil wir uns verschluckt haben, sondern weil das Herz froh ist, ganz kurz mal abgeben zu können, ganz kurz mal die Klappe halten zu dürfen, weil da jemand ist, der macht, dass wir uns sicher fühlen, dass das Herz geborgen wird, wo es sonst zu tun hat. Und dass es dann einschläft, nur kurz, mein ich, und dann gleich wieder aufwacht und sich erschreckt (man erschreckt sich ja hier und da mal, wenn etwas passiert, mit dem man nicht gerechnet hat), und dann muss es aufwachen und dann kribbelt’s eben im Bauch statt im Bein. Das ist ja wie Abklemmen, also wenn das Herz für einen Moment nicht weiter pumpt. Glaubst du nicht? Das kann sein, glaube ich, also dass das nix mit Schmetterlingen und so zu tun hat, nichts mit Fremdkörpern sondern nur mit einer kurzen Pause vom ganzen Rest, mit Erleichterung vielleicht auch. Das kann sein.“

Wahlsonntag

Wahl

Wie es sich anfühlt, das Wählen, habe ich für Zeit Online aufgeschrieben.

Pankow

Bäume

Ich schätze sie auf Mitte 30, sie sieht aus, wie sich Miranda July immer in ihren Filmen inszeniert. Mit diesen kinnlangen Locken und einem Pony dazu, der sich auch lockt, aber nicht so sehr wie die anderen Haare. Sie trägt diese bunten, kurzärmeligen Blusen in Knallfarben mit Motiven drauf, sie kauft immer Milch, wenn ich sie sehe, im Kiezmarkt kauft sie die. So heißt das Ding an der Ecke, da steht es in Orange-Gelb drüber, also Kiezmarkt. Ich fahre immer daran vorbei, wenn er gerade zumacht oder schon zu hat und sie kommt auch immer kurz vor Ladenschluss herausgehetzt, sie läuft selten in Ruhe sondern immer etwas nervös. So viele Milchkartons würden mich auch nervös machen, meistens sucht sie parallel auch noch irgendwas in ihrer Tasche, sodass sie umständlich die Kartons neben ihren Füßen abstellen und in der Tasche wühlen muss, sie trägt Umhängetaschen, meistens A4-formatig. Man möchte ihr immer irgendetwas abnehmen, aber irgendwie vermute ich, dass das nichts helfen würde, mit den Milchkartons und der Tasche kommt sie schon zurecht und das andere kann ich nicht sehen.

Der Hörgeräteakustiker sitzt immer vor der Tür seines Ladens und raucht, genauer gesagt sitzt er auf der Treppe. Beim ersten Mal dachte ich, er sei nur ein Jogger, der sich ausruht, in seinen schwarzen Shorts und mit den bunten Socken in den Turnschuhen, aber so geht er zur Arbeit, er ist immer bereit loszurennen. Ich habe noch nie jemanden im Laden gesehen, aber er sitzt immer dort und raucht und schaut die an der Bushaltestelle sitzenden Rentner von hinten an.

Auf dem Spielplatz sitzen Kinder, die nicht spielen sondern meistens einfach nur sitzen. Sie sitzen auf den Baumstümpfen, auf dem Dach des Spielplatzhäuschens, im Spielplatzhäuschen, auf der Rutsche, unter der Rutsche, neben der Rutsche. Sie brüllen einander Sachen zu, aber bewegen sich selten. Wer in den Penny Markt geht oder gerade herauskommt, kann sie sehen. „Hast du mich lieb?“ fragt das eine Mädchen das andere, als ich mein Fahrrad gerade abstelle. Eine Stimme aus dem Busch sagt: „Ich hab dich nicht lieb.“ Das andere Mädchen: „Aber du hast doch gesagt, du hast mich lieb.“ – „Nee, ich hab gesagt, ich BIN lieb“ sagt der Busch.

Die Frau mit dem Gebrauchtwarenhandel lässt jeden Tag etwas fallen, häufig liegen Scherben vor dem Geschäft, wenn sie die Auslagen vom Bürgersteig schon wieder herein geräumt hat, vielleicht ist es auch gar nicht sie, die das Geschirr fallenlässt, sondern es stoßen Passanten dagegen. Es ist aber so, dass die Zuckerdosen immer an derselben Stelle stehen, die Teller auch, die alten Wasserkocher, alles kommt jeden Tag dorthin, wo es auch am anderen Tag stand, manchmal kommt etwas dazu, das wird dann dazwischen gelegt oder darauf. Ich habe noch nie jemanden etwas kaufen sehen, nur die Scherben, so macht man auch Platz.

Die Croissant hier sehen aus wie Brötchen, denen ernsthaft etwas zugestoßen ist, sie schmecken auch ähnlich, es gibt keine Teigschichten sondern eher eine Masse, von der man vermuten könnte, sie wäre einmal gallertartig gewesen. Die Croissants hier sind vermutlich verunglückte Brötchen, irgendetwas passiert mit ihnen, was sonst oder woanders nicht passiert, man kann es nicht genau sagen, aber sie provozieren spürbar Mitleid. Das fühle ich auch bei den Blumentöpfen, denen irgendjemand Gesichter aufgemalt hat, der das nicht kann, der auch keine Freude an dieser Tätigkeit hatte, sie schauen jedes Mal, als wollten sie einfach bitte und zum Teufel noch einmal überhaupt nicht existieren, als wären sie ernsthaft sauer auf denjenigen, der da einen Kaktus und vertrocknete Orchideen in sie hineingesetzt hat, als wüssten sie gar nicht, wie es überhaupt dazu hat kommen können.

Und im Hof fallen erst die Birnen vom Baum, später dann Pflaumen.