Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Lumen

Lumen

Ich stelle mich mit dieser Glühbirne an, als ginge es um was. Als bräuchte ich einen wirklich guten Moment, um die Leiter hervor zu hieven, drauf zu steigen, die Lampe abzuschrauben, die alte Birne rauszudrehen, runter zu steigen, die Leiter wieder zu verstauen, weil das Badezimmer mit aufgeklappter Leiter unbenutzbar wird, wenn man es erst einmal geschafft hat, die Leiter in diesem wohlgeformten Badezimmer überhaupt so aufzustellen, dass man sich selbst und die Einrichtung nicht kaputtmacht bei Besteigung. Jedenfalls stelle ich mich an und ich weiß wirklich nicht, wieso. Ich bin in der Lage, halbwegs komplexe Dinge zu tun den Tag über, ich sortiere und ordne, ich formuliere und erinnere, ich gebe durch und leite weiter, ich tausche aus und bastle um, ich denke und ich spreche und ich mache es so, dass irgendetwas dabei herauskommt, manchmal rette ich Menschen vor dem Ertrinken (ist das schon ein Talent?), aber ich bekomme es nicht hin, diese Glühbirne auszuwechseln.

Morgens habe ich sehr viel damit zu tun, mir eine Mahlzeit zuzubereiten, dem Wetter angemessene Kleidung auszuwählen und so an mir zu befestigen, dass sie nicht abfällt den Tag über. Ich denke jedes Mal, wenn ich morgens das provisorische Licht im Bad einschalte: „Jetzt könnte ich’s eigentlich machen“, das mit der Leiter. Aber meistens kommt eine Müdigkeit dazwischen, ein Einfall, häufig ein Gefühl, eine kleine Lethargie, die sich betonähnlich in mir ausbreitet, wenn ich den Kopf in den Nacken lege und an das Quietschen der Metallleiterstufen denke. Mittags bin ich nicht im Hause und wenn am Wochenende doch, passieren häufig so viele Dinge innen und außen, dass es mir unmöglich ist, diese Leiter für das zu benutzen, für das sie gedacht ist, oder gar einen Baumarkt zu besuchen, um das richtige Leuchtwerk auszuwählen, Essen kann ich einkaufen, gar kein Problem, manchmal sogar allerlei Unsinn oder beinahe praktische Dinge, nur die Glühbirne vergesse ich seit mittlerweile zwei Wochen. Und abends ist es sowieso immer zu spät für alles. Vermutlich werde ich die Birne erst auswechseln, wenn ich mir ob der mangelnden Helligkeit einen ernsten, körperlichen Schaden zugefügt habe, wenn es wirklich gar nicht mehr geht, wenn es draußen noch dunkler und so wenig heimelig geworden ist, dass selbst im Bad die alte Ordnung hergestellt werden muss, um überlebensfähig zu bleiben, erst dann. Vielleicht. Es geht da um was. Ich spür’s.

Wieder

Rehberge

Das Herantasten funktioniert ja häufig am besten, wenn man es einfach tut, sich nähert, wieder notiert, egal ob von Belang oder nicht, es verändert den Blick und der Winter, der braucht das, das Kleine, Vernieselte, die Sätze aus dem Treppenhaus und der Etage, in der alle immer ihre Dinge ablegen, die sie nicht wegwerfen wollen oder sich nicht trauen, vielleicht aus einer Scham vor sich selbst, denn „das ist doch noch gut“, vielleicht aus dem ehrlichen Wunsch „jemand anders könne sich freuen“ anstatt der Hoffnung, jemand werfe es für einen weg. Das tun die wenigsten, etwas wegwerfen für andere, nachbarliches Erbarmen als Satzzeichen.

Kennen Sie das eigentlich? An manchen Tagen bin ich so klein, dass das Licht im Bürotoilettenraum mich nicht erkennt, ich muss dann hüpfen, um nicht im Dunkeln zu stehen. An anderen Tagen brauche ich nur zu atmen und der Sensor des Desinfektionsmittelspenders erkennt mich und tropft scharfe Flüssigkeit auf den Boden.

Kennen Sie das? Sich nicht nur am, sondern im Leben fühlen (wieder).

Und am Wochenende Schnee.

Temporäres

Boulangerie

Wir betraten den Laden in Mitte, vor dessen Tür Teppich verlegt und knödelige Absperrseile aufgehängt wurden, um Eindruck zu schinden dort, wo eigentlich jeder einen eigenen Teppich vor sich herträgt und an jeder Ampel ausrollt, um ihn bei Gelb wieder umständlich zusammenzufalten. Wir betraten den Laden, der einen eigenen Sicherheitsmann auf dem Teppich vor der Tür stehen hatte, denn wir leben in Tagen, da braucht ein Laden mit französischem Namen einen Sicherheitsmann oder zumindest das Gefühl, es gäbe einen. Vielleicht war auch der Sicherheitsmann ähnlich wie der ältere Herr in Schürze nur ein gecasteter Schauspieler. Der ältere Herr mit gräulichem Haar kam sofort hinter der Theke hervor gehuscht, glättete sich mit den braun gebrannten Händen erst die Schürze und dann erklärte er das Konzept des Ladens, der eigentlich kein Laden war, sondern eine Kampagne. Ein Modell, in der Agentur hatte man diesen Laden wohl eine Idee genannt und dann wortwörtlich umgesetzt. Es ist jedoch nicht so einfach einen Gedanken umzutopfen und manchmal braucht man mehr dafür als einen Kachelboden aus PVC, mehr als holzvertäfelte Wände und Menschen mit Schürzen und Trockenblumen in Flaschenvasen und mehr als grob geschnittenes Brot, das die Biokette hergestellt hat, und mehr als Marmelade mit Schnaps darin, um den es in der sogenannten Idee eigentlich gehen sollte.

Wir standen also verloren in dem Laden, der eigentlich kein Laden war, wir hatten doch eine Bäckerei erwartet und irgendetwas anderes, draußen wehten dem Sicherheitsmann die Haare ins Gesicht, (der Sturm heißt „Heini“, habe ich gelesen) und man reichte uns kleine, bedruckte Tüten mit zwei Baguettestücken und einem Gläschen Marmelade darin, Kaffee gab es nicht, aber die Marmelade hätte man in Gläsern einer Größe kaufen können, dass sie für drei Jahre genügt. Wasser gab es in wohlgeformten Gläsern neben den Trockenblumen, neben der in der Agentur sicherlich als Vintagekasse bezeichneten Bezahlapparatur, die aber keinen Job hatte und vermutlich auch nicht mehr funktioniert. Und wir standen also darin und betrachteten die Stühle und Tische, an die sich niemand setzen wollte, weil man sich ja nicht in eine Idee setzt, in einen Laden vielleicht, aber nicht in den Plastikblumentopf einer Idee, und wir lächelten verlegen und wollten das Baguette natürlich dennoch probieren und flüsterten gerade, als ein Mann den Laden betrat, ebenfalls älter, mit schnellem Schritt und etwas außer Atem: „Oh“, sagt er, „oh!“

Und der gecastete Herr setzte wieder zu seinem Vortrag an, der keine Varianten, sondern nur einen einzigen vorgegebenen Ablauf hatte, aber er kam gar nicht dazu, ihn vorzutragen (zu sagen, er würde ihn abspulen, wäre gemein), denn der eingetretene Mann, ich vermute, er wohnte in der Gegend, fing sofort an zu fragen: „Das bleibt doch hier, oder? Was kann ich kaufen? Das ist gutes Brot, das Getreide kenne ich! Wie lange haben Sie geöffnet? Oh wie schön, oh wie schön, sowas brauchen wir“ und er betrachtete die Wände mit großen Augen und die Wandmalerei mit dem Markennamen des Schnapses auch und er wusste gar nichts damit anzufangen, er war einfach davon ausgegangen, das hier sei ein neuer, ganz normaler Laden, er wusste nichts von der Idee irgendeiner Agentur, nichts von Viralität oder Pop-Up-Store-Konzepten, er hatte einfach keine Ahnung, ihm gefiel die neue Farbe des Erdgeschosses, ihm gefiel der zumindest gekachelt wirkende Boden, er wollte sprechen, also sprach er: „Ich komme nächste Woche wieder!“, und als der gecastete Herr mit seiner Schürze und seinen Artikulationshänden antwortete „Das geht aber nicht, wir sind nur bis Freitag hier, das ist ein-“, da verstand er ihn nicht, da wusste er einfach nicht, was das soll und sagte noch einmal: „Ich komme nächste Woche wieder, das ist doch prima, dass sie da sind!“, er wollte nichts wissen von nur vier Tagen Öffnungszeit, wie soll man auch eine Idee von einem Wunsch unterscheiden, wie soll man all die Risse auch sehen?

Daneben

Hand

(Wen anrufen?) Es sitzt dort, wo das Sodbrennen entsteht. (Wen sehen?) Es ist keine Angst, es ist eine Ahnung. (Wohin gehen?) Eine Annäherung an Orte, an denen man sonst nicht ist. (Wen festhalten?) Jemand hat an der Verbindung gezupft, zu denen, die man liebt. (Was tun?) Es ist die Skizze von etwas, das man selbst noch nicht erlebt hat. (Was fühlen?) Als habe man schon und noch nie davon gehört. (Wem zuhören?) Es schluckt Worte. (Was zulassen?) Es vervielfacht Schulterblicke. (Was zurückhalten?) Es flackert. (Was nachlesen?) Es verweigert sich. (Was fragen?) Plötzlich sehen wir mehr und weniger zugleich.

An important letter by Lauren Mayberry

„At the time, it felt like things changed slowly, like I woke up one day in a relationship and a reality that I did not recognize, but I’m sure the signs were there the whole time. When we met, he seemed charming. He was smart, passionate, creative, and caring. But after the first few months, he became increasingly paranoid, insecure, jealous, and depressed. Everything became my fault. I was careless. I was stupid. I was selfish. I was not trustworthy. I was a weak person who would fail at anything she tried so I shouldn’t bother. He hated me, but then he loved me and I was the best person in the world “” until I wasn’t anymore.

Whenever I would wake from my naïve stupor to challenge any of his assertions, he would apologize, saying that he was afraid to lose me or afraid for me and was, in fact, protecting me from everyone else “” they were really the problem. Or he would deny point blank that anything was wrong. He would say that I was overreacting. That I was making it all up in my head. That I couldn’t trust the people who were expressing concern for me because they were the ones who were trying to manipulate me.

Hindsight is always 20/20. I now see each of these small incidents as an attempt to intimidate me into doing what he wanted, and they worsened every time I tried to get out, his need to control me becoming even more important in order to keep me close and “safe“ in the toxic world we had created. We broke up, we got back together “” lather, rinse, repeat.

I must have known on some level that the situation wasn’t right. I deliberately hid a lot of the details from people close to me, discreetly covering up the cracks in the hopes that it was “just a phase“ or with the misguided notion that I had somehow got myself into this mess and it was my job to get out of it. I told little white lies to hide his passive aggression (or obvious and outright aggression) from the outside world. “He didn’t come tonight because he’s busy“ meant “He didn’t come tonight because he stormed out of my house earlier and has been sending me an abusive string of text messages since.“ “What he means is “¦“ became the standard beginning to far too many sentences used to excuse his actions.

Maybe I was an enabler who, out of fear or a twisted sense of loyalty, continued to avoid reality. To this day, I don’t think I have given a full account of everything that happened to anyone I know. After being immersed in that situation for so long, I began to question my own competence and distrust my own opinions, and my physical and mental health deteriorated to a point that caused friends and family to intervene.

(…) In the end, after several failed attempts, I walked away. The cycle had to stop. I cut off all contact and changed the locks to my flat, just in case. I used to feel guilty about the way I left and how long it took me to get there, but I don’t anymore “” because everyone’s health and happiness is precious, and anyone who doesn’t play by those rules doesn’t get to be a part of your life.

(…)I know that the boundaries I create deserve to be respected. That self-care is not the same as selfishness. That this is my life, my voice, my body, my rules, and that no one gets to determine my narrative apart from me.“


You can read the whole article by Lauren Mayberry in the Lenny Letter (October 27, 2015).

Lungen

Atmen

Wenn so eine Zeit vorbei ist, befindet sich alles noch an seinem Platz, doch die Schwellung ist verschwunden. Wie an diesen Morgen, an denen die Dämmerung im Raum steht und nicht so genau weiß, wohin, an denen sich die Nacht über jedes Haar auf dem Arm ziehen muss, um davonzukommen, an den Morgen, an denen die Handflächen über die Falten im Laken rutschen wie über Haut, plötzlich wieder beweglich, die Finger tasten wie nach anderen und das Licht noch in den Raum fällt wie aus Versehen. Wenn du zurück bist, hat sich alles kaum sichtbar um ein paar Grad verschoben, liegen ein paar Haare woanders, das kann niemand sehen, das merkt niemand außer jenen, die den Staub kennen und die glatten Stellen. Wenn so eine Reise vorbei ist, geht alles weiter, um wenige Millimeter versetzt. Die Augen im Dunkeln wieder offen lassen. Nach nichts suchen. Kilometer wirken entzündungshemmend.

Acht Uhr

Glenfinnan

Am Morgen liegt Nebel über dem See. Wir stehen still und sagen kein Wort und über uns fliegt eine Krähe hinweg, so tief, dass wir einen Luftzug spüren. Das Wasser schiebt die Steine so ans Ufer, dass sie leise klirren, das Boot liegt noch, als sei es im Halbschlaf, hinter uns im kleinen Laden gibt es Kaffee und Suppe, draußen sitzt niemand, aus der Regenrinne plätschert es, manchmal hört man ein Auto von der Straße, kein Wind. Alles wartet, alles schaut. / Am Morgen liegt noch Nebel im Tal. Der Himmel wird am Rand schon orange, weiter hinten schieben sich die großen Tanker geräuschlos durchs Bild, der Stier steht wie jeden Morgen angewurzelt und unbewegt, die Fähre wartet noch, in manchen Häusern brennt noch Licht. Oder schon wieder. Als hätten sich die Nordlichter der letzten Nacht am Horizont abgesetzt und zuckten noch. / Am Morgen liegt Nebel zwischen den Häusern. Der Fahrradkurier zieht noch seine Neonjacke zurecht, die Busfahrer sieht man kaum hinter den getönten Scheiben, die Steinplatten auf dem Boden sind nass und rutschig, die große Reklametafel auf dem Dach des Hotels hat die ganze Nacht durchgearbeitet, an den Ecken trifft man sich zum Rauchen. Alle gehen bei Rot, und statt Mänteln trägt man lieber Handschuhe. / Am Morgen liegt Nebel über der Decke. Die Vorhänge fallen auf den Boden wie warmes Wachs, die Füße kalt, die Vögel sind aus dem Hinterhof ausgezogen, der Koffer steht leer neben der Tür, eine Feder auf den Dielen und so viele Hügel. Die Ankunft daheim erst einmal in Bruchstücken, auf die Nachzügler warten wir manchmal Wochen, manchmal Jahre, manchmal noch immer.

Chesters Haus

Isle of Lewis

Wenn man mit dem Auto vor Chesters Haus parkt, riecht es sofort nach Meer, man braucht nicht einmal die Autotür öffnen und bemerkt es schon. Direkt nebenan liegt der kleine Flughafen der Insel, die Lichter an der Landebahn leuchten den ganzen Tag und die ganze Nacht, auch noch wenn die Straßenlaternen abends um elf ausgeschaltet werden, manchmal sieht man tagelang kein Flugzeug starten oder landen, doch Chester sagt, der Flughafen werde noch benutzt. Er habe sich das Haus hier nur gekauft, um zu Fuß zum Flughafen laufen und die Insel schnell verlassen zu können, „die gottverdammte Insel“. Chester lebt allein und sein Haus riecht nach Meer. Doch das liegt nicht am Ozean, den man von der schmalen Straße aus sehen kann, es ist das Seegras in Chesters Vorgarten, das den Geruch verströmt. Die kleine Mauer um zwei zimmergroße Flächen ist weiß angestrichen und hat einen dunkelblauen Rand, das kleine Tor ist nicht verschlossen und schwingt lose, wenn man es mit dem Bein wegdrückt, um eintreten zu können. In der Mitte des einen Beetes hat er ein Viereck mit Steinen abgetrennt, in diesem Viereck wächst leuchtend grüner Rasen, drumherum liegt das dunkelbraune Seegras in dicken Büscheln, „das schützt den Boden und hat viele Nährstoffe“, sagt Chester, der Winter kommt, die empfindlichen Pflanzen holt er jetzt rein. In Joghurtbechern und Blumentöpfen, ausrangierten Gefäßen und Plastikverpackungen von Supermarktkuchen zieht er Keimlinge, jedes Gefäß ist beschriftet, alle haben einen Sinn, obwohl manche nicht so aussehen wie ein Zuhause für etwas Neues. Im Wohnzimmer klettern orange blühende Pflanzen den Fensterrand entlang, darunter eine kleine Saat-Kolonie, daneben einer von Chesters Laptops, insgesamt hat er drei, alle sind schwarz, der eine funktioniert mittlerweile nur noch, wenn das Stromkabel angeschlossen ist, an jeder Wand hängt etwas, häufig gerahmte Fotos von Chesters Wanderungen, manchmal Landkarten von der Welt, den Inseln, Indonesien. Auf dem Kamin stehen hohe CD-Stapel, auf der anderen Seite des Sofas der Stereoanlagenturm, daneben Platten, auf dem kleinen Sofatisch liegen die zwei Inselzeitungen, in denen steht, dass der Clan nun den lokalen Metzger aufgekauft hat. Es gab ein Abschiedsfest, hundert Leute sind gekommen, der Metzger stellte sich noch einmal in seiner alten Schürze hinter den Tresen und grillte für die Besucher. Der letzte Absatz des Artikels besteht aus Grüßen von der Facebook-Page, „Farewell, Bill, thank you“.

Man weiß nicht genau, ob die Bilder dort hängen sollen, weil das ihr vorgesehener Platz ist, oder ob einfach noch ein Nagel frei war oder eine ramponierte Stelle, die es zu überdecken galt. Überall im Haus hat Chester irgendwann angefangen etwas zu tun, man sieht jeden Anfang, und auch das Ende jeden Anfangs, damals lebte hier ein älterer Herr im Rollstuhl, deswegen ist die Dusche ebenerdig, deswegen hat die Dusche eine Saloon-Tür, nur halbhoch, deswegen lassen sich die Fenster im Bad nicht öffnen, wozu. Wenn Chester lüftet, lässt er Bad- und Haustür offen, „das genügt“. Auch im Flur wurde die eine Wand irgendwann einmal gestrichen, das Bad lange nicht, alles ist hellbraun, beige, gelb, man weiß nicht genau, welche Farbe es ist, das hängt auch vom Licht ab und vom eigenen Befinden. Chester hat, was er braucht, einen Wäscheständer, eine Zahnbürste, Zahnpasta. Die Utensilien, die seine Gäste da lassen, wirft er nicht weg. Herbal Essences Shampoo und Spülung stehen in der Dusche, das gehört ihm nicht, das benutzt er nicht. Alles steht an dem Platz, an dem es gebraucht wird. Das Reinigungsmittel in der Dusche, die Töpfe und die Pfanne auf dem Herd, die Packung Eier direkt daneben, dann die Küchenrolle, das Spülmittel, der Schwamm, der Kaffee, die Kaffeemühle, die große Plastikbox für den Papiermüll und das Glas direkt daneben, jedes Mal, wenn etwas in der Box liegt, trägt er es kurz darauf nach draußen in die Mülltonne, im Kühlschrank hat er Blaubeer-Joghurt, Milch in der großen Plastikkanister, Chili-Soße. Auch auf dem Kühlschrank stehen Plastikdeckel mit Keimen, in der Ecke die Keimling-Farm. Den kleinen Backofen benutzt er selten, er hat ein Set Geschirr, ein Set Besteck, das alte seiner Mutter, ein paar Messer, drei Töpfe.

Das mit dem Streichen des Hauses musste schnell gehen, die Farbe klebt noch immer an all seinen Jacken, an all seinen Schuhen, an allen Fenstern im Erdgeschoss, die zwei kleinen Zimmer im oberen Stockwerk wurden lange nicht benutzt, überall liegt unterschiedlicher Teppich, in Chesters Schlafzimmer stehen neben dem Bett noch seine Kleiderstange und sein Schreibtisch, das Licht lässt er immer an, bis er ins Bett geht, in der Küche, im Flur, im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, im Bad. Die Lampe im Badezimmer strahlt Wärme ab wie ein Heizpilz und manchmal steht Chester deswegen länger dort als nötig, durch seine rotblonden Haare sieht man die Kopfhaut schon, das ist mehr geworden in den letzten Jahren, seine Haut ist makellos, all seine Pullover haben einen Reißverschluss am Ausschnitt, „das ist gut zum Wandern“. Im Flur stehen zwei Bücherregale, eines davon hat zwei Fächer voller Wanderkarten, die pinkfarbenen „haben sich über die Jahre so angesammelt“. Er passe nicht in die britische Gesellschaft, sagt Chester von sich, seine fünf Jahre in Indonesien als Englischlehrer waren aufregend, dann starb seine Mutter, dann kam er zurück und kaufte sich das Haus, „um das Geld anzulegen, wo ich die Gesetze kenne und dem System vertraue“. Jetzt wohnt er neben dem Flughafen. Vom Bett im rechten der zwei kleinen Zimmer im oberen Stockwerk kann man sehen, wenn ein Flugzeug darüber fliegt, eine Gardine hat Chester nicht, es gibt eine Rucksackplane, „die kann man ins Fenster klemmen, falls es einem zu hell ist“. An der Wand ein kleines Foto von den Steinkreisen im Norden der Insel, eine Korkpinnwand mit dem WLAN-Passwort und Flyern für Bootstouren.

Chester arbeitet nicht, er macht Musik, er singt nicht, aber spricht seine Texte über die Töne, vor zehn Jahren hat er eine Vinylplatte aufgenommen, „heute wäre die mehrere hundert Dollar wert“. Konzerte spielt er nicht, „es ist zu teuer, ein passendes Ensemble zusammenzustellen“, sagt er, davon lebe aber seine Musik. Ohne mache es keinen Sinn. Der hohe Ton im Hintergrund des einen Liedes sorgt bei Chester noch immer für Gänsehaut, obwohl es schon zehn Jahre alt ist, obwohl er den Ton schon so lange kennt. Manchmal macht er sich ein wenig lustig über die Leute im Ort, darüber, wie sie sich vermutlich über ihn lustig machen, er macht sich lustig über England, das System, die Erwartungen der Gesellschaft, er macht sich lustig über die Kunst, übers Arbeiten, über sich selbst. „Ich bin eine negative Person“, sagt er, „vielleicht sollte ich sterben, ich habe gehört, das hilft dabei berühmt zu werden“. Chester ist 34. Seine Mutter ist tot, sein Vater lebt noch. „Wenn mein Vater stirbt, kaufe ich mir noch ein zweites Haus“, wo, weiß er noch nicht. „Aber ich lebe ja nah am Flughafen“.

Wenn es nicht zu stark regnet, geht er raus und sammelt Samen. Das Gärtnern ist sein neues Hobby. Neben dem Wein. Den lagert er unter der Spüle, „der meiste ist noch nicht alt genug, solange muss ich noch welchen kaufen“. Wenn er steht, hat er die Hände in den Hosentaschen. Wenn er sitzt, faltet er sie über dem Bauch. Wenn er spricht, macht er viele Pausen oder rudert im Satz zurück, um noch einmal neuen Anlauf zu nehmen. Manchmal geht er in Pubs, am liebsten in den „Criterion“. Sein Schreibtisch steht zum Fenster hin, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße steht genau und nur dort ein kleines, verfallenes grünes Haus, das die Sicht auf die Landebahn verdeckt. Wenn man an Chesters Haus vorbeifährt, sieht man ihn abends dort sitzen und in den Laptop schauen, man kann von draußen die laute Musik hören und wenn man langsam genug fährt, hört man ihn summen oder singen oder seufzen, wenn der Wind nicht zu laut ist, wenn kein Flugzeug kommt. Doch die landen selten, die Chancen sind groß.

Nephologie

Clouds

Als Mensch, der gern auf Wolken schaut, hat man dieser Tage eine gute Zeit. Wenn man den Kopf in den Nacken legt, sieht es ständig aus, als würde jemand euphorisch Theater spielen, als habe jemand um sich geworfen mit Kissen und Farbe, manchmal, als würde sich jemand versöhnen (mit etwas, mit jemand anderem, mit sich). Und wenn man nicht, sobald die Häuserfront an einer Kreuzung unterbrochen wird und man direkt in das Orangerotblaulila starrt, das sich zwischen die Fassadenkanten legt, vom Rad steigt, weil man so nicht fahren kann, wenn man sich beeilt, um noch vor Ende dort zu sein, wo keine Häuser sind, dort zu sein, wo man den Himmel nicht nur in Streifen sieht, sondern ausgelassen, wenn man es bis dorthin schafft, bevor das Drama sich wieder verzogen hat, kann man sich hinsetzen und den Kopf auf die Hände stützen und sich fragen, warum man eigentlich nicht raucht, weil das so ein Moment wäre, in dem man eine rauchen und sehr tief einatmen und fühlen könnte, wie das Gefühl, das auf den Zug folgt, sich im Körper verteilt und einen Ort sucht, man kann dann sitzen und trotzdem sehr tief einatmen und wieder ausatmen, vielleicht sogar hörbar, und sich vornehmen, das häufiger zu tun, wieder mehr so zu atmen, dass man es selbst hört, und dann kann man sich sicherer werden in der Vermutung, dass Mittelbarkeit einen hier und da rettet, dass nur etwas passiert, wenn man nicht so nah an allem steht, dass einen nichts mehr streifen kann.

In der unmöglichen achten Faltung

Der Dieb in der Nacht

Es gibt einen Punkt im Leben (interessant wird es, wenn man sich wie ich vertippt ((oder verliest)) und das t im Punkt vergisst, and sometimes it’s funny cause it’s true), vielleicht sogar manchmal mehrere, da kapiert man plötzlich, wovor man die ganze Zeit Angst hatte. Meistens liegt dieser Punkt dort, wo die Angst unwiderruflich vorbei ist. Diese zähe Angst, die sich nicht zerkauen und runterschlucken lässt, die zu groß ist, um sie verschwinden zu lassen und zu diffus, um sie zu fassen, die einhergeht mit einem schlechten Geschmack im Mund und einer randalierenden Faust im Bauch, diese Angst, die sich in den Kiefer setzt und ihn zum Knirschen bringt und vor der man solche Ehrfurcht hat, weil sie macht, dass man vergisst, wie es ist, ohne sie zu sein. Und ja, irgendwann ist man so weichgeklopft, dass man mitunter sogar denkt: Lieber diese Angst als gar nichts. Wenn man Glück hat, fällt genau in diesem Moment ein Klavier vom Himmel und man erschreckt sich so sehr, dass man die Angst einfach ausspuckt. Wenn man sie dann plötzlich von außen anschauen, umrunden, der Witterung aussetzen, von oben sehen und in Relation setzen kann, ändert sich alles, das Gefühl im Zahnfleisch, die Fähigkeit sich klar zu artikulieren, der Blick aus dem Fenster, der Schlaf. Als hätte jemand nachts ohne zu fragen die Fenster geputzt und man kann plötzlich wieder sehen und jemand anders fragt an der Haltestelle, ob alles okay ist, weil man erst so gehustet hat und dann so geschaut, und man sagt ohne darüber nachzudenken „Ja, es ist alles okay“ und erst später merkt man, wie ernst das eigentlich gemeint war, wie sehr es stimmt. Und ein paar Tage später wird man mit dem Bus noch einmal an der Stelle vorbeifahren, sich immer noch sicher, in Gedanken mit Bleistift umranden, wo man stand, wo man noch einmal auf die Uhr gesehen hat, an welcher Stelle man noch nicht wusste, was gleich passieren würde, aber man wird nicht den Stein markieren, an dem der Rest von der Faust klebt, denn man weiß, er wird in ein paar Tagen ohnehin den Dreck der Stadt angenommen haben und die Temperatur der Jahreszeit und vor allen Dingen wird er sich festtreten und irgendwann einfach keinen Unterschied mehr machen, irgendjemand wird über ihn drüber fahren, auf ihn kotzen, die Sonne wird scheinen und nach ein paar Stürmen wird er einfach vergangen sein. Denn „die Wahrheit ist, dass man eine Vorstellung (gleich wie groß sie ist) nur so und so oft falten kann, dafür gibt es ein physikalisches Gesetz, das hat etwas mit Dichte zu tun und Widerstand.“

Was mitunter passieren kann, ist, dass genau dann neben einem im Bus woandershin ein Buch liegt, das von der Ent-Täuschung, von Wahrnehmung und Parasiten erzählt, von der Angst und dem Sich-Davon-Losmachen, dem Ausspucken, dem Weggehen, und zwar so, dass es jeder versteht.

„Er war ein ““ ein zuversichtlicher Mensch. Ich meine nicht, dass er die Dinge leichtnahm. Er machte sich oft Sorgen, um mich, um Louise, auch um Paul. Aber er war zuversichtlich, und wenn man genug Zeit mit ihm verbrachte, dann wurde man es auch. Er war niemand, der glaubte, dass alles gut werden würde, aber er glaubte, dass immer etwas gut werden würde, ein Teil des Ganzen. Und plötzlich schien es nicht länger wichtig, dass der Rest vor die Hunde ging. Es war auszuhalten, wenn er da war, man glaubte daran, es aushalten zu können. Ich weiß nicht, von wem er das hatte, von mir nicht. Und auch nicht von seinem Vater.“ (…) „Habe ich jetzt genug erzählt?“ Als er sieht, dass sie Anstalten macht aufzustehen, schnellt sein Arm vor, seine Hand legt sich auf ihre. Anders als bei der letzten Berührung ist sie auffällig kalt und wächsern. Es fühlt sich an, als trüge er Einmalhandschuhe. „Nein, eins fehlt noch“, sagt er. „Das Wichtigste. Ich will verstehen, warum du dir so sicher bist. Warum du keine Angst hast, dich zu irren – in mir.“ Agnes presst die Lippen zusammen. Weil Sie nicht aussehen wie mein Sohn, will sie sagen. Weil Sie nicht sprechen wie mein Sohn, sich nicht bewegen wie mein Sohn, nicht riechen wie mein Sohn. „Weil ich hier mit Ihnen sitze und Ihnen zuhöre und Sie ansehe und mich nicht zuversichtlich fühle“, antwortet sie.

(Der Roman „Der Dieb in der Nacht“ von Katharina Hartwell, aus dem die kursiven Textstellen stammen und den ich hiermit ausdrücklich empfehle, erschien am 31.08. im Berlin Verlag)