Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Die achte Woche Jahr

Schnee

Wenn A. von Kleidung redet, wird Kleidung etwas anderes. Kleidung ist dann kein Stoff mehr, den man sich umwirft, sondern aufgeladen, in jeder Falte eine Haltung. Und immer wenn A. von Kleidung spricht, will man sich sofort ausziehen, weil es sonst zu viel zu entscheiden gäbe, oder einfach in ein dunkelblaues Tuch wickeln, blickdicht, aber weich. Eine Art Stoff, von der sogar ich sagen würde: „Schau, wie er vorne fällt.“

Matt Damon dabei zugesehen, wie er seine Rakete mit Gaffa und Fallschirmfolienstoff klebt und in den Weltraum geschossen wird. Klebeband als Rettung allen Lebens.

An diesen Tagen mit dem kalten Nieselregen, der nur zwischen die Haarwurzeln und nicht direkt darauf fällt, fehlt mir das Meer, auch wenn ich schon mitten im Gefühl diesen Blick bekomme, der genervt von mir selbst irgendwas mit Plattitüden flüstert, aber man bekommt es ja doch nicht aus sich heraus, und das Am-Ufer-Stehen nutzt sich einfach nicht ab, das muss ja auch irgendwas haben, wenn ständig alle zu diesem Bild als Erlösermotiv kommen, seltsam eigentlich, wie viel Schnittmenge das Meer übrig lässt, für jeden ein Fitzelchen. Auf einer Veranstaltung die Oculus auf dem Kopf gehabt und durch eine Stadt gelaufen, in der das Babylon-Kino direkt neben dem Brandenburger Tor stand. Als ich versuche, nach links in eine Tiefgarage zu gehen, stehe ich plötzlich mit den Füßen in der Brandung.

Morgens im Bus sehe ich, wie draußen vor dem Supermarkt ein vermutlich obdachloser Mann steht, grauschwarze Haare bis zu den Schultern, zerzaust, die Kleidung hängt in Flächen und Fetzen von ihm herab, um die Schultern trägt er einen Schlafsack, hier und da kann man seine nackte Haut sehen, sein Gesicht aber nicht, er hält den Kopf gesenkt, es ist morgens viertel nach acht, er steht unbewegt für mehrere Minuten einfach so in der Mitte des Bürgersteigs wie eine Statue, ein Monument.

Einfach fragen ist etwas Gutes.

Dimitrij Schaad spielt den Pinneberg von Fallada im Gorki und er macht das gut, aber am Ende, da lässt er kurz all die zwanzig Jackets von seinen Schultern fallen, am Ende als nach dem Applaus die ersten Zuschauer schon den Saal verlassen, da stellt er sich noch einmal mit zitternden Händen ganz nach vorn und liest vor, und ich frage mich, ob er vorliest, weil es eine mittelspontane Entscheidung war oder ob er vorliest, damit er sich nicht vertut und die Worte klar bleiben, jedenfalls liest er diesen kurzen Text vor, einen Ruf nach Empörung über die Zustände am und im Lageso in Berlin, einen Wunsch nach Unterstützung, vor allem danach, dass die Menschen dort im Saal ihre Stimme erheben und den Umgang mit Geflüchteten nicht einfach hinnehmen, er steht da und schwitzt und zittert und schaut nicht auf, während er liest, erst danach, und diese Bitte ist kein P.S. unter einem Brief, keine Zugabe, kein Anhang, sie ist die Überschrift.

The blue hour

Tiergarten

Arguing with you, must be love, my love. Recognizing your rage, recognizing the deep deep blue in your anger. You can wear red, it’s your colour, but you don’t fight in it. You scream in waves with whites on top. And i enjoy seeing you attached to what you think is right, or wrong, I like you visiting. And this is me listening, keeping every single word of yours, thinking about them for days, stretching them, and stretching mine, til they find each other, til they meet. We make it work. By waiting. By thinking. By daring. That’s what I love the most, sitting next to you in the car, driving to the bakery miles away, having coffee with you, breathing in, making it work, breathing out.

Die siebte Woche Jahr

Oranienburger Tor

Auf dem Heimweg an das Wartezimmer in Wedding gedacht, in dem die Zeitschrift „Sehnsucht Deutschland“ auf einem kleinen, weißen IKEA-Tisch lag, während auf dem Bildschirm über der Garderobe Tierbabyfernsehen lief. Und dann ist mir Paris auch wieder eingefallen, und wie die Luft war, als wir aus dem Restaurant kamen nach diesen paar Gläsern Wein, ich mochte die Strähnigkeit der Stadt, die vor allem nachts zu sehen ist, denn tagsüber liegt niemand auf den Rasenflächen, treten sie nicht einmal über den Rand. Dass es hier kaum leere Ohrläppchen gibt, hab ich noch gedacht, und wie schön es ist, wenn jemand nachschenkt, aber nicht ohne zu fragen, sondern nach einem Blick, der als Zeichen genügt und nicht zu einer Berührung wird.

Die Notiz wiedergefunden, die ich nach dem Stück von Sibylle Berg schrieb, zwei Zitate: „Ein Kind sollte mit zwei Elternteilen zusammen leben, damit es diese furchtbare Angst verliert, allein zu sein, wenn einer kaputt geht“ (und innerlich kurz abgeschweift, dass zusammen leben ja nicht zusammen wohnen heißen muss und trotzdem nicht weniger wert ist), „ich gönne mir noch zwei Minuten eine kleine Angst“ (zum Mitnehmen, bitte).

Dem Wetter danken, dass es einen der zwei freien Tage keinen Aufstand macht, sondern mich in Ruhe einfach wohnen lässt. Gegenstände benutzen, nicht nur ansehen.

I’ve seen better, I’ve seen worse. I missed the sun today.

An der Friedrichstraße in die S-Bahn steigen. Im ersten Moment denken: „Ach, das da hinten sind nur fünf laute Fußballfans“, an der nächsten Station sicher wissen: „Das sind fünf Rassisten“. Dort steigen sie schon wieder aus. Wut, Gänsehaut, Ekel, Hass und Angst, alles auf einmal fühlen, die Blicke der anderen im Zug suchen. Angst und Gleichgültigkeit in den Augen finden.

Wenn man das kleine Fischrestaurant unter der Brücke betritt, wird man verschluckt von Netzen und Zetteln und Fotos und dem Geruch. Auf jedem Tisch liegt eine Glasplatte, darunter Nachrichten der Gäste und Familien, der Stammkundschaft und Touristen. Jeder Bilderrahmen wurde sorgsam beschriftet. Es gibt Zitrone und Fladenbrot zum Fisch. Das einzige Dessert der Karte ist ein fest gepresstes Pulver, das im Mund ganz samtig weich wird, viel zu süß, aber die Konsistenz habe ich so noch nie erlebt.

Der Dreijährige und ich sitzen in der Straßenbahn, es ist schon dunkel. Der Zug schwingt sich in eine Kurve und der Dreijährige lacht aus vollem Herzen: „Schweeeerkraaaaft!“

Hörempfehlung: Das Gespräch zwischen Anne Wizorek und dem Fotojournalisten Martin Gommel, der reist, um Flüchtenden zu helfen ““ und vor allem um mit ihnen zu sprechen.

Die sechste Woche Jahr

Monsters Ronson

Stadtteile wechseln wie ein Transportmittel. Der andere ist plötzlich so weit weg, alles sieht anders aus, funktioniert anders, riecht anders, jeder nimmt einen neuen Bus nach Hause. Menschen, die nachts über den Ku’damm stolpern, alle für sich zwischen den hell erleuchteten Schaufenstern, in denen die Puppen mit den Plastikhaaren stehen in ihrer eingefrorenen Zerzausung.

In einem Chat gemeinsam überlegt, wo eigentlich die Kollegialität im Internet wohnt und wie viel davon wir brauchen, bräuchten dafür, dass es friedlicher wird, nicht diskussionsfreier, aber so, dass man nicht sofort zusammenzuckt, so dass man nicht im Vorfeld schon Beschimpfungen und Hass einkalkulieren muss, sich nicht von anderen stärken lassen muss, um alles auszuhalten, nicht weggehen muss, um sich auszutauschen. Ausloten, wer bereit ist (acht) zu geben, wer nicht in der Lage und wer einfach zu faul.

Es gibt sie noch immer, die Nächte die sind wie in einen Berlinfilm hineingeschrieben, nur ohne die cheesy Dialoge. Mit den Menschen und den Drinks und den Lichtern und dem lauten Singen, dem Laufen nach Hause, wenn die Straßen sich langsam leeren, man das Licht des nächsten Tages schon erahnen kann, einem auch im Februar nicht kalt ist und vor allem immer so, dass die Nacht länger ist als eine Nacht. Sie ragt unauffällig bis in die nächste hinein.

Sowieso: Konstellationen ausloten. Mit dem Kopf im Nacken, mit dem Blick zurück, mit Bedachtsamkeit nach vorn. Welches Patchwork funktioniert? Wie rücken Menschen nebeneinander, um so zu bleiben oder zumindest sich nicht sofort wieder zu verlieren? Wie viele Eltern kann man eigentlich haben? Und wie viele will man? Wer gehört noch dazu? Kann man noch einmal neu anfangen und wann ist es zu spät? Wie adoptieren wir Freunde?

Durch die Weserstraße rannten gerade schwarz vermummte Menschen und brüllten irgendwas, als D. und mir Karate wieder einfiel. Die „Unsolved“ ist und bleibt diese eine Platte, die immer noch viel mehr Literatur als Musik ist, diese eine Geschichte, derer ich nicht müde werde, sie wird als Geschenk immer gültig sein. Etwas, das man von Wohnung zu Wohnung mitnimmt, ohne es auszupacken, man kennt diese Kiste, man weiß genau, was darin sich an welcher Stelle befindet, manchmal schüttelt man sie sanft, um sich zu vergewissern, aber man muss sie nicht mehr öffnen, das Geräusch ist immer und immer wieder dasselbe, aber ohne die Kiste wäre alles anders.

In Berlin hört man selten Wasser, obwohl welches da ist. Wenn man es doch wahrnimmt, bügelt einem das Geräusch am Morgen die Stirn.

„Kleine Lichter“ hatte ich damals gelesen in diesem Hotel in Taiphe, als die Erde bebte, ich hatte es mitgenommen, weil es so praktisch war, so klein, ohne große Erwartungen an die Lektüre, und dann flogen mir doch so viele Sätze davon durch den Kopf, als ich mich durch die Stadt schieben ließ, ohne Smartphone, nur mit Stadtplan, denn sie erzählt im Buch ja auch immer von ihren Reisen. Und ich weiß noch, dass mich immer nicht entscheiden konnte, ob ich mich auf den Kitsch zwischen den Seiten, diese blumig beschriebene und so geradeheraus erzählte Liebesgeschichte wirklich einlassen wollte (keine Scheu vor keinem Gefühl), dieses Buch war mir suspekt, weil die Beschreibungen nicht schwankten. Dieses opulente Bild von einem großen Gefühl trug ich die ganze Zeit mit mir herum, berührt, ergriffen, weil die besten Bücher ja sind, die dich von innen heraus in verschiedene Richtungen drängen und kleine Beulen hinterlassen. Direkt danach trat ich in kleinen Sicherheitsabstand zu dieser Geschichte (und halte ihn immer noch), weil sie so eng verbunden ist mit der hohen Luftfeuchtigkeit und diesem großen Gefühl Anfang 20, das so nicht mehr wiederkam. Manchmal lässt man ja Platz zwischen sich und den Dingen vor allem aus Respekt. „Kein großer Bahnhof nötig.“

Mit dem Großvater Schnitzel essen. Er verzehrt den Kartoffelsalat zuerst, dann das Kraut. Vom großen Schnitzel schneidet er die Ränder ab, sodass ein akurates Rechteck zurückbleibt. Anschließend holt er eine Brotdose aus seiner Tasche und packt das begradigte Schnitzel ein für später. „Ich bin doch nicht blöd.“

In diesem Laden auf der Potsdamer Straße stehen ein rotes Plüschsofa, ein Klavier und so große Tische, dass Menschen ohne Probleme miteinander daran sitzen können, ohne einander auf die Nerven zu gehen. Die Fensterfronten sind so riesig, dass man sie gar nicht mehr bemerkt. Neben uns direkt am Fenster sitzt ein älterer Herr, er kommt spät, vielleicht gegen Mitternacht. Den Rucksack legt er auf dem zweiten Stuhl ab, er setzt sich, blättert nervös den Kulturteil des Tagesspiegels durch. Man kennt ihn hier, dem Barkeeper wirft er mit Blicken eine Begrüßung zu, manchmal spricht er nicht hörbar mit sich selbst, schaut nach draußen. Er trinkt ein Glas Weißwein, das erste sehr schnell aus. Dem zweiten dann gibt er etwas mehr Zeit, während er in Druckschrift Notizen in das kleine grüne Buch kritzelt, das er mit einem Schnipsgummi verschließt. Kurz bevor ich mich zurücklehne, treffen sich unsere Blicke, ich lächle, er weiß nicht genau, er lächelt dann doch. Am Ende sagt er mir auf Wiedersehen, als ich mich noch einmal umdrehe, bevor wir den Laden verlassen. Dann trinkt er aus.

Die fünfte Woche Jahr

Park am Gleisdreieck

Wir sprachen über Niederlagen und ich blieb wieder am Wort hängen, und auch das finde ich nach längerer Betrachtung besser als davor, es heißt ja nicht Niederschleuderung, Niederwurf, Niedersturz, es heißt Niederlage und das klingt für einen Moment behutsam, würde man sich ihr ergeben. Weil das für den Moment die angemessene Körperhaltung ist, ob Bauch- oder Rückenlage ist jedem selbst überlassen, doch nur selten finden jene, die es aushalten müssen, dies als angemessen. Sich zusammenreißen ist ja auch so eine Schöpfung. Wenn man nicht aufhört damit, besteht man irgendwann nur noch aus einem Haufen Schnipsel, den man selbst oder eine befugte Person nach Abschluss des Vorgangs wieder zusammensetzen muss.

Am Tag vor dem Februar den Weihnachtsbaum im Topf nach unten geschleppt und auf Barmherziges gehofft, schon nach einer Stunde hatte ihn jemand mitgenommen.

Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, an Sonntagen zu laufen, solange zu laufen, bis ich wirklich nicht mehr kann. Nicht das faule „Ich kann nicht mehr“, obwohl es eigentlich noch geht. Denn wenn man mal an einem Sonntag aus Versehen so lange gelaufen ist, bis man nicht mehr konnte, dann will man wirklich noch weiter, aber es geht nicht mehr, es geht dann wirklich nicht und dann tippt man im Sitzen eine Notiz ins Handy mit Orten, an denen keine Zäune sind und keine Wände und wenig Schilder, denn da will man dann hin und es ist eigentlich egal, wann genau, Hauptsache bald.

Ein jedes Ding hat ein Muster oder einen Rhythmus, die sich bei genauem Hinsehen und Hinhören unterscheiden. Doch ob diese Muster auch außerhalb des menschlichen Geistes existieren, ist eine ungelöste Frage. Du und ich, wir haben nicht die gleichen Muster gesehen.“ (Die gleißende Welt, Siri Hustvedt)

Wie man in jeder Beziehung auch immer wieder bereit sein muss, Schaden zu beheben. Es bringt häufig wenig, wenn man möchte, dass es weitergeht, alles vor die Tür zu stellen. Man muss zumindest eine Pfütze Willen in sich finden, im Callcenter anzurufen, auch wenn die Wartemelodie scheiße ist. Oder sich das Tutorial auf YouTube anzusehen. Adblocker sind selten Scheidungsgrund.

Vor der C/O lag ein Mann, er hatte die Augen geschlossen, seine beiden Bekannten sprachen mit ihm, schoben immer mal einen Fuß gegen seinen Bauch, gingen dann und ließen ihn liegen, lachten dabei. Wir standen da, ich hielt das Telefon in der Manteltasche umklammert und fragte mich, ob er atmet. Wir schauten kurz weg, dann wieder hin, er atmete, man sortierte sich, hoffte auf andere, leichter Regen. Eine Frau neben uns fühlte daraufhin seinen Puls, rief einen Krankenwagen. Was nimmt man eigentlich zusammen, wenn nicht seinen Mut?

Wir malten ein Haus an die Tapete und das dauert eine Stunde, wenn man noch nie zuvor ein Haus an eine Tapete in einem neuen Haus gemalt hat. Das bedeutet ja immer was. Nach getaner Arbeit machte der kranke Dinosaurier das Licht aus, versteckte sich im Zelt und trommelte.

Die vierte Woche Jahr

Urbanhafen

Langsam wird es echt. Als wäre jeder Januar so eine Art Bahnhof, alles läuft nur hindurch, niemand bleibt gern, manchmal verpasst man etwas, häufig muss man etwas bezahlen, hat Hunger, aber nichts schmeckt so richtig, meistens hat man zuviel Gepäck dabei, eigentlich immer sind zu viele Leute da, außer nachts und dann ist es gruselig, ständig fährt einem jemand über den Fuß, und obwohl man sich hier eigentlich gut auskennt, wundert man sich immer wieder, dass die Melancholie jedes Jahr eine andere ist, keine hysterische. Als hätte man im Dezember den Abschied nicht gut gemacht und müsse das im Januar nachholen, vermutlich sitzt Silvester eh viel zu nah an Weihnachten, da bleibt einem ja kaum Zeit mal zu überlegen und die Hässlichkeit des Januars ist ja auch irgendwie nie zu übersehen, durch den Januar muss man durch, vielleicht kurz winken und dann erst kann man sich in den Sitz fallen lassen.

„Transparent“ geschaut und über Familie nachgedacht. Die einzelnen Figuren drehen sich so sehr um sich selbst, dass ich mich frage, wie sie es hinbekommen, sich dabei gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, sich so wenig zu wundern. Die ganze Zeit passieren tausend irre Sachen und niemand wundert sich. Wenn sie nichts mehr verstehen, brüllen sie sich an oder haben Sex oder springen in irgendeinen Pool, und plötzlich sitzen alle wieder nebeneinander und sind ganz kuschelig und ich frage mich, an welchen Stellen sie einander ab- und die Geschichten aufholen, wo ist dieser Autobahnparkplatz, an dem sie anhalten, um das alles reinzulassen in sich und einen Platz dafür zu finden und warum platzen die nicht permanent vor Kram?

Auch das Eis schmilzt in Schichten, hier und da hält es die Schwäne noch und die auf ihm abgestellten Bücherregal, Bierkisten, abgerissenen Papierkörbe, Bierflaschen, an anderen Stellen sinkt die starre Kälte schon wieder auf den Grund des Kanals. Jetzt gibt es wieder Ostersüßigkeiten und die vertwitterten Frühlingswünsche werden mehr, die ersten Tulpen stehen in den Vasen, aber halten noch nicht lange. Es ist aber auch so, dass mir der Sommer nicht mehr so fern vorkommt, vielleicht vergesse ich weniger, vielleicht habe ich besser abgedichtet, wer weiß das schon, aber Fakt ist, dass ich mich neuerdings im Sommer an den Winter erinnern kann und umgekehrt, also so sehr erinnern, dass man beinahe spürt, was man denkt, es ist nicht mehr so abwegig, wie es früher schien zur selben Zeit, dass es bald wieder warm ist und ich dabei sein kann. Denken „Ich werde das erleben“ und noch ein Stück gehen.

Der Friedhof ist lauter, wenn die Bäume keine Blätter haben.

Nach einer Woche beinahe allein und viel drinnen genieße ich den Blick in fremde Gesichter, genieße ich es, wenn Leute reden oder vor mir straucheln, etwas in ihrer Tasche suchen, inne halten, telefonieren, ich verhalte mich ruhig, damit sie mich nicht bemerken und laufe einfach weiter geradeaus. Wie vielen man begegnet, wenn man es nicht darauf anlegt.

Den Schrank im Büro ausräumen, den Rechner leeren, Menschen umarmen, auf Wiedersehen sagen, den Fahrstuhl nehmen und dann gehen, weil man sich dafür entschieden hat. Auch Abschiedsgefühle halten sich nicht an Terminvereinbarungen.

Die dritte Woche Jahr

Hasenheide

„Es ist niemandem zu trauen, der sein Brot komisch schmiert“, sagt D.

Am richtigen Tag über das Zitat aus Naiv-Super gestolpert: „Lise beruhigt mich. Sie hat eine New-York-Theorie. Sie sagt, zweierlei kann dort passieren, und es liegt an mir, welche von beiden Möglichkeiten eintritt. Einmal kann ich alle Vorbehalte ablegen und einfach alles auf mich wirken lassen. Wie ein Kind. Oder aber ich halte einen gewissen Abstand und beobachte Kleinigkeiten, versuche, Bekanntes zu erkennen. Sortieren und vergleichen. Das Erste kann dazu führen, dass man überfordert wird oder auch einfach überwältigt. Das Zweite möglicherweise zu schönen Beobachtungen, Eindrücken und Spaß. Meint Lise. Außerdem meint sie, überwältigt sein kann auch sein Gutes haben.“ (S.131)

Dann das Fieber. Als hätte jemand einem eine VR-Brille aufgesetzt, und im Kino läuft das Innere eines Eimers. Ganz ohne Glitzer, sondern einfach schwarz und mit Echo und vor allen Dingen so, dass man die Orientierung verliert. Wie sich kurz vor 40° die Gedanken nicht mehr aneinander hängen, eigentlich ein ganz guter Zustand, in dem man dem Hirn beim Versuch des Denkens zusehen kann, alle Bilder kriechen heran, stellen sich vor und kriechen dann weiter. Völlig zusammenhangslos. Täte der Rest nicht so weh, es wäre völlig genießbar, wie einfach alles nur anwesend ist und dann wieder fortgeht, nur Farben und bröckeliger, gesprochener Unsinn, ich weiß noch von Bowie und dem Bücherregal, das ich auf einem Berg aufbaute, von zwei kleinen Dackeln und alten riesigen Teppichen, darunter verborgener Eiscreme und einem Tipi aus riesigen Mikadostäbchen, in dessen Inneren eine Treppe in den plötzlich goldenen Keller der alten Lieblingsbar führte. Auf einem Thron dort sitzend: ein lila Plüschbär. Keine weiteren Fragen.

„Wie alles nur beliebig sein kann, wenn man aus Angst vor Misserfolgen nicht unterscheiden will.“ (Peter Breuer)

Gegen halb vier sieht man das gute Licht und wie es Punkte auf der Fassade hinterlässt. Der Nachbar hustet durch die Wand mit, wir werden nicht dazu kommen, uns als Ensemble eintragen zu lassen, not in it for the money, just in it for the thrill.

Der Großvater kommt vorbei, ich habe nichts zu erzählen, also halten wir einen Mittagsschlaf, er am Ende des Sofas aufrecht und blinzelnd, ich liegend am anderen Ende unter der Decke, er sagt, schlafen konnte er noch nie gut.

Irgendwo dazwischen verabschiede ich mich von anderthalb Jahren, das ist ja nichts, das man tut und dann ist es vorbei, das trägt man mit sich herum wie eine kleine Melancholie oder Kastanie und irgendwann fällt es einem aus der Tasche, das merkt man aber in den seltensten Fällen direkt, weil es nicht fest genug ist für ein lautes Geräusch beim Aufprall.

Die Straße zum Arzt sieht immer noch aus, als wäre gestern erst Silvester gewesen, die großen Batterien, das viele Streu, all die Scherben. Dabei ist das Jahr schon drei Wochen alt, die Nabelwunden sind verheilt, wenn wir Glück haben.

Die zweite Woche Jahr

Zürisee

Manche Dinge kann man nur in der Dämmerung aufschreiben, weil dann die Welt die Klappe hält, weil man selbst noch nicht so eingestellt ist wie sonst und vielleicht auch so früh am Morgen eher sagt, was man wirklich meint, also dort, wo man es nicht unter Kontrolle hat. Dann noch ein Schläfchen, mit der Decke über allem, was beschützt werden muss.

Das erste Buch 2016 zu Ende gelesen. Auerhaus. Bov Bjerg erzählt darin, wie es ist, mit jemandem zu wohnen (nicht nur in einem Haus, sondern auch in einem Leben), der manchmal leben will und manchmal nicht und davon, wie man es nie ganz kapiert, wenn man selbst nicht weiß, wie es ist, gar nicht mehr leben zu wollen, und wie man sich dreht und wendet und manchmal hofft, im anderen wäre es vorbei gegangen, das mit dem nicht mehr wollen, und wie es dann doch nicht vorbei ist.

Von der Kunst, Einflüsse als solche zuzulassen. Das etwas in dich hinein fließt, aber auch wieder raus kann, etwas, das nicht sofort dein eigenes Bauchgefühl aushebelt, aber auch die Möglichkeit hat, Spuren zu hinterlassen. Kommt vermutlich aber auch auf die Beschaffenheit des Bauchgefühls an. Dennoch: Semipermeabilität war schon immer eine große Aufgabe.

Beobachtet: dieses Ringen um Meinungshoheit von Eltern(sorten). Jochen König darin als spannenden Neuentwurf gehört. Warum haben eigentlich nicht mehr Freunde Kinder miteinander?

Feststellen, besser geworden zu sein im Wissen um den eigenen Radius. Also wie viel Luft es braucht und wie viel Platz und was darin stehen kann und was im Gefüge eher stört. Noch zaghaft, aber (und wäre wankelmütig hier ein passendes Wort, ich würde es verwenden, weil es eigentlich so schön klingt ((wenn man mutig ist und zwar wankt, aber ach)) es ja dann aber doch meistens sowas wie ‚mankelwütig‘ meint im Sinne von irgendetwas mit Unbedachtheit und Wut und Unsinn) im Zentrum der Zaghaftigkeit dann aber spürbar bestimmter als früher, man muss sich ja manchmal erst einmal herantasten an neue Körper- und Lebensformen (die eigenen vor allem). Jedenfalls laufe ich die ganze Zeit mit dem Zollstock in mir selbst herum und denke „Oh“ und „Ah“ und „Achso“ und „Na hätten wir das mal früher gewusst“. Aber das haben wir ja nicht, deswegen vermessen wir erneut. Mit neuen Daten können wir arbeiten.

Es schauten nur die Flugblätter der Windräder aus den Wolken heraus. Als seien sie wahnsinnig hoch und es gäbe sonst nichts außer mit ihnen zu schneidende Schlagsahne.

Und dann sangen wir doch noch einmal „Starman“ mit Gänsehaut auf dem Kopf am Ende der Probe, als draußen schon der Barbetrieb losging. Wie so ein Plakat, das man aufhängt, wenn man eigentlich eine Postkarte schreiben will, aber nicht abschicken kann, weil alle Briefkästen der Stadt abgehängt wurden und die Türen unten zu sind.

„Als Kind war ich klüger als jetzt“, sagte Opa und saß in seiner Sofaecke mit dem Kissen hinter dem Rücken, dessen Stoff er damals unter seinem Hintern nach Deutschland geschmuggelt hat aus Zell am See. „Ich wusste immer, ich lebe in einer wahnsinnigen Zeit und ich wollte alles wissen. Und wenn du einmal alles wissen willst, hörst du ja nicht mehr auf.“

Das Dessert lag auf einem goldenen Pappteller in Zürich und ich könnte schwören, um meinen Kopf tanzte Lametta mit Armen und Beinen, als ich hinein biss.

J. verabschiedet. Alles wird anders die ganze Zeit. Wir könnten uns jetzt auch mal dran gewöhnen.

Die erste Woche Jahr

Baltic Sea

Das offene Fenster im Nebenzimmer vergessen und dann eintreten wie in eine andere Landschaft, in der kalte, feuchte Laken über den Feldern liegen, eigentlich ganz schön.

Ich muss das Buch nicht sofort schreiben. Ich lege die Gedanken neben die Seiten in die Schublade und warte einfach ab. Das wollte ich eh schon immer mal machen. Etwas irgendwo vergessen und es dann beim Aufräumen finden und es behalten wollen, mich zugehörig fühlen zu den Gedanken und Worte, sie mir zuschreiben und nicht wie etwas ansehen, in das sich Motten gefressen haben und das man daraufhin in eine Plastiktüte quetscht, die man dann mit dem Müll runterbringt, weil man zu faul ist zum Stopfen, oder es nie gelernt hat.

Gibt es ein Lexikon für Oberflächen, einen Thesaurus für Textur? Ich komme mir ständig vor, als hätte ich nicht richtig begriffen, wie sich Dinge anfühlen können/sollen/müssen, ich würde gern über Konsistenzen lesen, um mir selbst sagen zu können: „Ach das, das ist nur Abscheu, das muss sich so anfühlen, alles richtig, keine Sorge.“

In einem Haus zwischen dichtem Nebel sitzen und froh sein, nichts zu sehen. Einfach nichts außer ein paar Baumspitzen und Reif auf den Gräsern und die Fettstreifen, die Nase und Stirn an der Scheibe hinterlassen. Bis zur Heizung ist, soweit die Füße tragen. Später sich wundern, dass Teleportation immer noch nicht erfunden wurde. Immer. Noch. Nicht. Wie fühlt es sich an, sich aneinander festzuhalten und sich kurz aufzulösen, um woanders wieder zusammengesetzt zu werden? Kann es sein, dass dabei ein Teilchen vertauscht wird? Und dann läuft man für immer mit diesem Teilchen des anderen herum, das anfängt, im eigenen Körper zu funktionieren und Aufgaben zu übernehmen und mitzumachen? Als würde man die Augenfarbe tauschen und vergessen, dass das passiert ist.

In der Kälte fühlt sich Haut nicht mehr wie Haut an, sondern wie irgendwas anderes und für einen Moment ist das auch beruhigend. Also dass man selbst auch splittern kann, ohne sofort kaputt zu gehen.

Sowieso: Ahnungen weniger Gewicht zuschreiben, und den Fokus auf Fakten drehen. Etwas krächzend, aber mit der Übung wird man besser darin. Und drei Kilo leichter. Weniger meinen, mehr wissen. Mehr weggehen oder sich in Ruhe daneben setzen und zuhören. Gefasel ist eh kein gutes Wort.

Jemanden von hinten umarmen ist eine schönere Geste, als ich dachte. Denn der andere hat die Hände und die Augen frei und manchmal braucht man ja genau das und dennoch jemanden im Rücken.

Zwanzigfünfzehn

Skyfall

In sich Frieden machen, indem man erst ganz viel reinholt, eher ungewollt, vielleicht eher unachtsam, und dann wieder ausräumt, leer fegt, rausschmeißt, Gefühle und Entscheidungen selbst in die Hand nehmen, sich vor die Nase halten und bei Bedarf anbrüllen, sowieso auch mal brüllen, seit Jahren habe ich das nicht getan, dieses Jahr schon, wie erleichternd, dass das noch geht. Jedenfalls die Dinge in die Hand nehmen oder was auch immer ein Ding sein will, und einander in die Augen starren, ich habe gewonnen. Hinspüren auch, wo die Grenzen wirklich sind und nicht, wo man will, dass sie sind, weil das vielleicht hübscher aussieht oder sich so gehört oder einem das antrainiert wurde, wieder ein Gefühl für das Eigentliche entwickeln, vor allem in der zweiten Jahreshälfte, eigentlich wirklich erst dann, auch das mit der Freiheit. Die erste Hälfte war viel Übung und Nachwehen und Ankommen und auch das braucht Zeit. Sowieso auch: Zeit geben, mir selbst und anderen. Ebenfalls: Entscheidungen treffen. Und nicht darauf warten, dass das jemand anderen für einen macht. Die eigene Komfortzone verlassen, mutig sein, so ein Jahr war das. Sich selbst bewegen und nicht einfach nur passieren. Die wichtigste Anschaffung dieses Jahr waren die Wanderschuhe, die rührendsten Konzerte waren Die höchste Eisenbahn, Death Cab For Cutie und Oh Wonder, das wichtigste Album das neue von CHVRCHES, die wichtigsten Menschen rückten noch näher. Ein Jahr, in dem Energie freigesetzt wurde, endlich, ich mich von meiner Lieblingsbar verabschiedete, wir uns auf einen neuen Menschen freuen, wir einen anderen Menschen verloren haben, und gemacht und getan und still gehalten und viel geschaut und viel Kraft gebraucht, das habe ich. Ich bin stiller geworden, und klarer, als hätte jemand die Wogen gebügelt, anders, aber schön. Ich habe viel Ja und an ein paar sehr wichtigen Stellen Nein gesagt. 2015, auch ein Jahr der Berge, der Kaleidoskopbewegung. Und: I asked myself for peace and found a piece of me. Ziemlich okay ist ziemlich okay.