Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: Zürich

Mithilfe von Luft

Markt

In der Stapferstraße wohnt eine Frau, die sehr gut pfeifen kann. Irgendwo hat sie ihr Fenster offen gelassen und pfeift, und keine Tonfolgen, sondern richtige Melodien, manchmal singt sie dazwischen oder summt, und dann pfeift sie weiter und immer wenn sie aufhört, (denn sie pfeift eher morgens) weiß man, jetzt muss man anfangen, irgendetwas zu tun, jetzt ist die Zeit vorbei, in der man liegt und horcht und noch nicht richtig begonnen hat, also mit nichts, jetzt muss begonnen werden und wieder angefangen, jetzt hat sie aufgehört zu pfeifen und den Staffelstab abgegeben, man weiß nicht, an wen, vermutlich an jeden.

bārāṇḍā

Veranda

Wenn die Jahreszeit es zulässt, kann man sich langsam wieder an die Luft gewöhnen, daran, draußen Dinge zu tun, die man nun viele Monate drinnen tat, man kann, wenn es genug Raum gibt, um draußen die Beine lang zu machen und man nirgendwo anstößt, beinahe wie ein Raupentier die Fühler und Armhaare ausstrecken und sich befreunden mit den Molekülen, alle Körperseiten können sich nach und nach der Sonne entgegen recken und den Wolken und dem Baum, den man haben könnte (und wenn man ihn hätte, würde man sagen: glücklicherweise). Nach zwei Stunden lesen im Freien, lesen vor dem eigenen Wohnzimmer, nicht lesen auf einem Ausflug, sondern dort wo man sich zuhause fühlt oder zumindest temporär zuhause ist, wenn man dort zwei Stunden liest und nicht bei jedem Wind sofort wieder aufs Sofa umzieht, sondern kurz wartet und wirklich erst beim richtigen Regen wieder ins überdachte Wohnzimmer geht, um von dort aus dem Wetter zuzusehen, nach zwei Stunden lesen dort, fängt der Körper an, friedlich eine Sommerkonsistenz zu finden, sich einzurichten im neuen Luftdruck, nach drei Stunden lacht man beinahe schon über die Haarsträhnen, die etwas hysterisch ständig hin und her fliegen nur wegen ein bisschen Wind, nach vier Stunden spielt man mit dem Gedanken, man könnte das später eigentlich häufig tun, man könnte jetzt Wege einschlagen, um so ein additionales Zimmer zu haben, eines ohne Dach, aber mit Stühlen, eines zum Lesen und Kräuter zupfen, eines für die Limonadengläser und Tische, die quietschen, eines, in dem man die kürzlich gefundenen, wirklich guten Kurzgeschichten noch ein zweites Mal liest und ein drittes Mal, eines zum Wetter sehen und anerkennen, eines zum Messen der Zeitverfluggeschwindigkeit. Oh man könnte, man könnte.

Die Unverletzlichkeit von Briefen

Zürich Hof

Nach den ersten Schritten sieht es beinahe so aus, als hätte der leichte Wind, der aber immer noch stärker ist als sonst, alle Menschen aus der Stadt geweht, als hätte er sie wie Blätter erst in den Rinnstein und später an den Rand der Kellertür getragen, wo sie sich übereinander zusammenfalten und liegen bleiben, denn verkeilt ist nun einmal verkeilt, das funktioniert auch mit minderer Textur. Als wir das Haus verlassen, fährt keines von den Kindern auf den Skateboards vorbei, die in diesen Tagen zu kurze Hosen tragen, um angemessen würdevoll mit dem Hintern auf dem Asphalt zu bremsen, alle sind auf einmal verschwunden, als hätte jemand die Stadt geschüttelt und jedes Teilchen hätte sich an einen anderen Ort gesetzt als wir.

„Hier singen die Bauarbeiter manchmal“, sagt K., als wir durch die Straße mit den schönen Häusern laufen, in Zürich muss man das betonen, da ist vieles schön dem Eindruck nach, aber diese Häuser sind nicht von gebügelter Schönheit, die Pflanzen haben sich über die Jahre um die Balkone geschlängelt, die Menschen, die dort leben, sind nicht gerade erst eingezogen, die wissen, wem sie vertrauen, wem nicht und wann sie Fenster beruhigt offen stehen lassen können, wo die Bobby-Cars gut aufgehoben sind. Die Straße wird neu gemacht, der Rest wird so gelassen, wir laufen durch ein Tor und dann steht da ein Turm neben uns, in dem Turbinen getestet werden. D. weiß es nicht genau, aber das mit dem Turbinen-Test-Turm klingt so schön und wir recherchieren nicht nach. Wirft man oben eine Möhre hinein, kommt unten ein Möhrensalat heraus. Vorne bei der Tram begegnen wir zum ersten Mal seit ein paar Minuten wieder einigen Menschen und je tiefer wir spazieren, umso mehr werden es. Vielleicht sind auch heute alle nur kraftlos den Berg hinab gerollt und am See ist die tiefste Stelle.

Dort sind alle, nicht nur ein paar, wirklich alle. Alle Künstler und Bankangestellten, alle Kinder, und Halbkinder und solche, die keine Kinder mehr sein wollen. Wir haben die andere Seite des Sees irgendwie verpasst, also lassen wir uns durch diese Menschen treiben, deren Stimmen sich auf mich setzen, als würden sie mich anfassen. Zu viele, zu nah, aber weiter. Und dann steht dieses Paar auf von der Bank, in dem Moment, als ich hinsehe, und wir setzen uns und wenn Geräusche einem nur noch im Rücken Theater machen, dann ist es einfacher sie wegzuschieben. Wir schauen auf die ruhige Seite und meine Beine werden immer länger und reichen irgendwann bis zum Springbrunnen drüben. Ein lang gezogener Ton bedeutet, wir bleiben auf Kurs.

Später, wir haben uns zu Starbucks verirrt und finden kaum heraus. „Das ist wie ein Disko“, sagt D. und sieht müde aus, wovon jetzt genau, weiß man nicht, weil Starbucks in der Einflugschneise zu liegen scheint, die Landebahn für den Rest, und auch hier muss man diesen Regeln folgen, die alle kennen, obwohl sie nirgendwo aufgeschrieben stehen. Dort holst du dir deinen Becher, dann malt jemand Kürzel darauf, dann bezahlst du, dort hinten wird gewartet und erst dann erhältst du dein Getränk, vorher wird noch einmal laut durch den Raum gebrüllt, weil alle es tun und wenn man es dann wieder raus geschafft hat ohne umzufallen oder einfach die Schnauze voll zu haben, dann steht man am Limmatquai, und drüben in der Frauen-Badi schwimmen schon die ersten. In der Bahn nach Hause liest die alte Dame mit der roten Bluse einen handgeschriebenen Brief, er wurde zweimal gefaltet, sie packt ihn auf den Knien aus, die Schrift ist ordentlich, als habe jemand vorher mit dem Lineal unsichtbare Linien gezogen, sie liest ihn einmal und noch einmal und dann steigen wir aus, wir haben dieselbe Haarlänge (und ich wünsche mir, ich werde später, wenn ich so aussehe, noch Briefe auseinander falten und lesen und wieder zusammen falten und in ihr Kuvert zurücklegen, ich wünsche mir, dann einen Ort für sie zu haben, eine Schatulle, und diese nicht umsonst zu besitzen, sondern sie immer mal wieder öffnen zu können).

The blue sky will smother us, believe me.

Oben

Der Rotwein im Flugzeug setzt sich sofort in die Beine, sinkt langsam herab bis zu den Knöcheln und steht dann dort wankend herum, ich spüre, wie er sich von innen gegen meine Haut lehnt. Walk off von The National, während draußen nur kleine Punkte zu sehen sind, wenn ich meine Stirn an das kühle Fensterplastik presse. Wie viele haben das heute schon einmal getan? Ich habe die Reihe nur für mich. Auf dem Bildschirm oben fliegt das Flugzeug über Grün hinweg, in echt fliegt es durch Schwarz hindurch. In Flugzeugen spüre ich immer alles gleichzeitig, was ist, vielleicht weil der Luftaustausch so begrenzt ist, früher hab ich Panikattacken davon bekommen, mittlerweile schaffe ich es, eher belustigt in mich hineinzusehen. Es gibt Leute, die sagen, in Zeiten von gleichzeitigen Zuständen, die man sonst sicherlich nicht nebeneinander einsortieren würde, sei das Wichtigste Milde und Geduld und Reflexion, vor allem sei das Wichtigste, sagen die Menschen, sich immer wieder zu schütteln und sich nicht mit der erstbesten Antwort zufrieden zu geben, weil das Leben eben so nicht ist, so simpel, das Leben nicht und eben keiner von den Köpfen, kein einziger, es gibt zwar nur eine Antwort, die gilt, aber nie nur einen Grund. (Milde ist das Schwerste beinahe, stimmt’s? Weil es dann kein Ausweichgefühl mehr gibt, sage ich den Leuten, deswegen ist das am Schwersten. Mit sich milde zu sein. Total surrender, das ist die Extended Child’s Pose als Gefühl. Practice forgiveness as a way to keep moving forward.) Walk off and drink from the river. Als würde man beim Landeanflug mal schlucken und plötzlich hört man wieder was. Tut weh, ist zu laut, aber so ist’s normal, also wie nach dem Schlucken, man hatte das nur vergessen, sehr schnell sogar. Zwischen uns und der Stadt liegt Nebel, den man jetzt erst sieht, kurz vorm Boden.

Zürich VII

Idaplatz

Das Licht des Sommeranfangs legt sich auf den See wie eine Hand auf warme Haut, die sie zwar kennt, aber noch nicht ganz so lange. Am frühen Abend noch hell und etwas plötzlich, aber man kann schon ahnen, wann die Nacht kommt, wie sie wird und dass die Stimmen dann kurz noch etwas lauter werden vor Euphorie und Oxytocin. Auf dem Bellevue so viele Hinterköpfe, denn sie übertragen den Rigoletto in neuer Inszenierung, der Herr mit dem grauen Haar vor mir wippt mit und man erkennt an seiner Bewegung, dass er, wäre er allein, vielleicht ausschweifender wäre, vielleicht lauter summen würde. Hier sitzen sie dicht an dicht, die blauen Klappstühle kann man kaufen (sie kommen in handlichen Taschen zum über die Schulter werfen), und so sitzen sie alle und lauschen (sie lauschen wirklich, nur an den Rändern des Platzes, wo man steht, wird geredet zwischendurch, aber auch das leise), manche haben sich Decken mitgebracht, viele Hüte, dazwischen immer wieder ein paar ausgezogene High Heels auf dem Valser Quarzit. Bei der einen Arie bewegt der Herr die Hände in den Hosentaschen, die Fersen hebt er im Takt, ob er dirigiert oder mitspielt oder ob genau so wirkliches Lauschen geht, vermag ich nicht zu sagen.

In Zürich kann man von der einen Sekunde auf die andere allein sein. Aus dem größten Trubel heraus genügen manchmal schon zwei, drei Schritte und alles ist wieder still, niemand bleibt zurück, nur Fensterläden und gelbe Fahrbahnmarkierungen und Malven, überall Malven an den Straßenrändern. Und das helle Chopfab passt in diesen Abend, weil es hinten nach genau diesem Licht schmeckt, das am späteren Abend neben den nackten Füßen und dem Klirren der Gläser liegt. Wir fallen nach dem Spiel aus der Nebenstraße wieder ans Ufer, und hier drüben ist es laut, die Jugend hat sich versammelt und liegt und hockt neben den Wasserpfeifen, es pfeift und lacht und kreischt an jeder Bank, wir laufen Slalom um die kleinen Grüppchen, ich verstehe keine Wort, aber die Gesten kenne ich noch, die zurückgeworfenen Köpfe, die zusammengesteckten, die nach innen gedrehten Füße und die Artikulation, die man dann ja auch noch für sich finden muss neben dem ganzen Rest.

Am Fluss wird um Mitternacht getanzt, die Käfer sammeln sich beim Licht. Die Betonstufen sind noch warm vom Tag und man kann die Augen schließen und kurz aufhören zu existieren zwischen all denen, die sich hier auskennen, die nicht drauf achten müssen, auf etwas zu achten, man kann sitzen und nicht gesehen werden und vielleicht noch ein Bier trinken und sich vorstellen, so könnte der Sommer sein und bleiben, es aber nicht aussprechen sondern nur kurz denken und dann weiter beobachten. Über uns flattern bunte Bänder im Wind, den man erst spürt, wenn man aufsteht, um sich zu strecken und nach Hause zu finden. Am Sonntag gibt vielleicht keinen ruhigeren Ort in der Stadt als die eine Wiese auf dem Friedhof Sihlfeld, und wir laufen neben den geordneten Gräbern, deren Steine alle dieselbe Höhe haben, auch die Kreuze sehen beinahe gleich aus, Quadrat an Quadrat und die verrückteren Steine außer der Norm stehen hinten auf einer eigenen Fläche. Unter manchen Bäumen darf das Gras wachsen, dort legt es sich schräg und man sieht, von wo meistens das Wetter kommt, ein Baby lernt stehen. Was passiert eigentlich mit Namen, wenn sie niemand mehr vergibt?

Als ich zurückkomme nach Berlin, ist es 15 Grad kälter, aber auf der anderen Straßenseite ein paar Meter nach links stehen rosa Malven. Mir fehlt auch das i an den Worten.

Zürich VI

Café Lang

Allein wegen der Tapeten sollte man die Toilette im Café Lang einmal besuchen, vielleicht auch wegen dem großen Spiegel und dem gedämmten Licht, vielleicht einfach weil man ganz kurz in irgendeine verwegene Zwischenzeit katapultiert wird, die auch noch anhält, wenn man die Stufen wieder hinauf durch den Raum mit der dunklen Holzvertäfelung zurück in den Raum mit dem hellen Holz geht und sich dorthin setzt, wo man zu gleichen Teilen den Gastraum sowie das Geschehen hinter der Bar beobachten kann, wo die Gläser schon mit Orange und Eis vorbereitet werden, wo man sich die Hände an der kleinen blau-weiß-karierten Schürze abwischt, die zweimal um den Bauch gebunden wird. Das kleine Milchkännchen hat einen Sprung am Ausguss, wäre ich alt und hätte ich Platz und zu viel Zeit, ich würde vielleicht Kännchen sammeln aus aller Herren Länder. Die Blumen sind frisch, wir stehen auf und überqueren die Straße vorbei an den Wartenden auf dem Limmatplatz, es riecht hier selten nach Essen fällt mir auf, vielleicht haben sie andere Lüftungen, aber es riecht immer irgendwie eher nach Wasser oder Wind und vielleicht ist das einfach stärker als stehendes Fett.

Durch den Tunnel Richtung Langstraße, ein anderes Zürich, mehr Kabel, mehr Menschen, mehr flackernde Schilder, alle ziehen etwas an Geschwindigkeit an, aber immer noch nicht laut, erst am späten Nachmittag wird gehupt und im Weg herum gestanden, meist aus Versehen, aber dann verheddern sich Autos und Spuren und das nach Hause Wollen aller. Die Tische vor der Sport Bar sind alle besetzt, dann kommt einer herein, ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt, Spanisch sprechend, nicht mehr ganz so viele Zähne, er lacht so, dass man ihn sich merkt. Der Schokoladenkuchen kommt ohne Mehl aus, noch ein Kaffee und den Blick rausgeworfen auf das gute Licht der Stunde, gleißend und doch ganz langsam setzt es sich zwischen den Ästen der Bäume hindurch auf den Asphalt und bleibt dort einfach liegen, als könne man sich alles nehmen, was man wolle. Von allem ein bisschen.

Durch die kleinen Knoten dann wieder zurück, im Krokodil gibt es spanische Spezialitäten, hinter dem Tunnel links. Auf dem Asphalt haben sie ordentlich fünfmal hintereinander das Wort Besucher in die Spur geschrieben, wir haben es jetzt verstanden, hier ist mehr Schatten. Auf dem Röntgenplatz sitzen zwei ältere Herren auf der hölzernen Sitzgelegenheit und schauen jeden an, der auf den Platz kommt, sie lächeln, ohne zu lächeln, Kinder kommen nun von der Schule nach Hause, die Beete vor den Häusern sind alle gepflegt. In manchen Erdgeschosswohnungen stapelt man, was man nicht braucht, auf dem Fensterbrett wie eine Gardine. Zum Licht kommen hier Kreidefiguren. Wenn man langsam und ohne Hast durch das Industrieviertel läuft, wird man angeschaut. Hier will niemand sein, alle wollen irgendwohin und müssen hier durch. Aus der Versicherung kommt der Mann im Anzug gelaufen und zischt „Ach scheiße“, bevor er ins Auto steigt, ich schaue ihn an und er hebt entschuldigend die Hände, beinahe hätte ich geflüstert, sag’s nochmal.

Die alten Schienen führen noch in den Bauch vom Schiffswerk, man kann dort jetzt essen unter großen Schirmen, auch hier fallen verwunderte Blicke auf einen, wenn man schlendert statt auf die Uhr zu sehen, wenn man sich nach links und rechts umdreht und sich alles genau ansieht, das scheint man hier nicht gewohnt zu sein. Im Schatten dann noch einmal zum guten Buchladen und dort ausschnaufen, die Sonne brennt, der Fluss ist heute schneller als am Dienstag, zwei Schlauchboote wackeln unter der Brücke hindurch. Dort drüben am Ufer in dem kleinen Häuschen hinter dem Spielplatz könne man sich Hamster leasen, hat N. gesagt. Die kleine Frau im weißen Kleid fragt, ob sie mir helfen könne, ich danke und sage, die Auswahl der Bücher hier sei schon Hilfe genug, sie lacht und meint: „Wenn das doch immer so einfach wäre.“ Am Dienstag liefen The National, als wir den Laden betraten, heute spielt man Bon Iver. Pour a little salt.

Zürich V

See

Am Hafen Enge gibt es diesen Streifen aus Beton im Wasser, den man über den kleinen Steg erreichen kann, vermutlich schützt er die dort liegenden Boote vor den Wellen der größeren Schiffe. Man kann darauf sitzen und herumlaufen und wenn man also sitzt und die Beine herunter hängen lässt, dann kommen bald ein paar Enten vorbei, gestern also wirklich ein Paar, die vor den Füßen desjenigen immer wieder einen Moment auf der Stelle schwimmen und herauf schauen, manchmal quaken sogar, damit man vielleicht doch ein paar Krumen wirft. Ich habe keine Krumen sondern Kuhlbrodt und Rothmann dabei, die sich gut machen neben dem Rauschen der Fontäne weiter rechts. Und irgendwann reißt die Wolkendecke auf, die Sonne schaut erst gar nicht und dann plötzlich brennt sie einem beinahe Löcher in die Haut, völlig unvermittelt. Das Ziepen in den Zellen kann man auch genießen, wie lange schafft man’s, wie lange hält man’s aus, das ist Sommer, so fühlt sich Sommer an, meistens plötzlich und blitzschnell und dann muss man einfach sitzen bleiben, sonst hat man ihn womöglich schon wieder verpasst.

Die Stockenten haben dieses blau-weiße Band an der Seite, das bei den Erpeln sofort glänzt und sich einfügt, sie schwimmen zu dieser Zeit im Prachtkleid, der Kopf ist grün, der Schnabel hell und dann noch das leuchtende Blau. Die Stockentenweibchen sind unauffälliger, aber den blauen Flügelspiegel haben sie auch, es scheint nur, eher versteckt wie ein heimlich gestochenes Tattoo, das man erst entdecken muss. Weiter rechts sitzt ein Mann, dessen Pullover zu den Köpfen der Erpel passt, er heut auf einem Ohr Musik und winkt, sobald ich in Richtung Fontäne schaue kurz, um den Blick auszuruhen und die Sätze nachklingen zu lassen. Er winkt jedes Mal, ich sehe ihn nicht an, irgendwann setzt sich jemand zwischen uns, später geht er und winkt vom Ende des Stegs noch einmal, ich sehe ihn aus dem Augenwinkel und schaue dann wieder auf die Fontäne, auf die gerade zwei in Badehose klettern und lachen, so laut lachen, wie man es nur kann, wenn man wirklich lachen muss, ohne Kontrolle und aus dem Bauch heraus, ich denke die ganze Zeit, gleich haut’s ihn weg, den einen. Aber keinen haut’s weg, sie sitzen auf dem Rand und hinter ihnen schießt das Wasser in die Höhe.

Kuhlbrodt schreibt von dem Kreuzberg, in dem ich jetzt wohne, aus einer Zeit, in der ich noch am anderen Ende der Stadt lebte, und ich versuche mich zu erinnern, wie diese Jahre waren, 2007, 2008, wo ich meine Tage verbrachte, wen ich gesehen hab. Jetzt beginnt das Alter, in dem man sortieren muss und nicht sofort sagen kann, dieses und jenes passierte dann und dann, das Leben häuft und stapelt sich vor allem nach seiner eigenen Façon, aber so muss es ja auch. Mich gruseln Menschen ja dann doch, die immer alles so ganz genau wissen, die alles ablegen und vermerkt haben. Sowieso ‚vermerkt‘, das Wort allein ist schon so ein Grund sich kurz zu schütteln, als habe man sich beim eigentlichen Erinnern vertan. Am Abend soll es Regen geben, aber der kommt nicht. Stattdessen die goldenen Laternen vor dem Dunkelblau der Stadt. In der Berthastraße fragt mich jemand nach dem Weg. Somehow, anyhow.

Zürich IV

Limmat

So sehr wie nie die Zeiten genießen, in denen nicht geredet werden muss. Zürich dabei als Ort, an dem es mir mit am leichtesten fällt, weil der Tag nur mir gehört und es keinen Plan gibt und keine Liste, nur ein Bauchgefühl und wohin die Füße tragen (wollen). Und die Abende sind gefüllt mit Menschen, mit denen man nicht reden muss, aber kann, mit denen auch Stille wie ein gutes Gespräch ist und beides nahtlos ineinander übergeht. Wenn man aus Jahren kommt, in denen man den Tag mit Kommunikation verbracht hat, schriftlich und gesprochen und beinahe auch getanzt, musst man erst wieder lernen, tagelang die Klappe zu halten, lernen das eigene Bedürfnis zu erkennen und milde mit ihm zu sein, den Lärm aussperren, um den eigenen Körper wieder hören zu können, nicht nur das Ticken des Kopfes sondern zum Beispiel, wann Hunger wirklich Hunger ist und wann Durst beginnt und wie weit man noch kann und wie weit man noch will und schlafen, einfach wenn man müde ist und wach sein, wenn man wach ist, alles ohne Zwang und endlich einmal umgedreht, nicht nur Veräußerung sondern vor allem Verinnerlichung.

Und dabei hilft, dass man hier die Gespräche nur versteht, wenn man sie verstehen will, dass es leichter fällt als daheim, abzuschalten, Stimmen nur noch als Rauschen wahrzunehmen, und trotzdem offen zu sein für jedes charmante Wort, das manchmal herausfällt. Nuancen sind hier etwas Gutes und nicht schwer. Wie der Dunst, der gestern zum ersten Mal seit den Besuchen hier über den Bergen hing. In der Sihlfeldstraße plötzlich die hohen Gewächse neben der klassischen Baumbepflanzung bemerken, die hat der Maggi gesät, Borretsch erkenne ich, den habe ich nachgeschlagen, Wegwarte auch, die sehen ja fast aus wie Kornblumen, meine liebsten als Kind. Wenn man weiß, was Sauerampfer ist, sieht man ihn auch plötzlich überall, an den langen Holztischen mit den roten Beinen sitzt am Nachmittag noch niemand, prachtvolle Stengel blühen jetzt in Lila und Pink und Beige mit roten Rändern, beinahe größer als wir. Früher verlief hier die Autobahn. Jetzt springen Kinder in den Brunnen am Bullingerplatz, vor der Apotheke steht ein Minikicker mit einem Schild. Den Ball zum Spielen könne man sich im Laden abholen. Sie haben einen Schirm aufgestellt gegen die Sonne.

Dann die zwei in dem Boot, Weidling genannt (auch das schlage ich nach später), wie sie sich flußaufwärts kämpfen, die Knie in Schoner gepackt stemmen sie sich zu zweit gegen den Steckling, der aussieht wie eine Holzgabel und mit dem sie das Boot schieben und lenken. Zwei grauhaarige Männer, vier Arme, die Strömung. Das Wasser ist flach, man sieht bis auf den Grund, mit den Bojen haben sie eine Strecke abgesteckt, es kommt nicht so richtig in flüssige Bewegung, was sie da tun, sie kämpfen und mühen sich und lachen, die Kurven müssen sie noch üben. Immer wieder bleiben Menschen am Ufer stehen und schauen ihnen zu, die Hand an der Stirn gegen die Sonne oder auch nur das Licht, wenn man schaut, steht man gerne so, dann sehen auch die anderen, dass man schaut und vielleicht nicht gestört werden will dabei. Überall fliegende Käfer.

Zürich III

Zwei

In einer selbst gewählten Einsamkeit, die sich nicht so anfühlt, eben weil sie ausgesucht ist, dann wieder stärker den eigenen Körper spüren, nicht den Verfall, aber doch Stofflichkeit, Fleisch, Muskeln, Haut und was sich darin spiegelt. Wie man so rausgeworfen wird als Mensch in die Welt, wie man sich nichts davon aussucht, also ich meine, wenn man so hinein fällt in das eigene Leben. „Hallo, das sind deine Beine, das ist dein Bauch, das ist dein Hirn und das wird alles wachsen, friss halt, wie es eben geht, oder lass es bleiben.“ Auf einem anderen Pflaster sich selbst bewusst werden, dass das erwachsen werden vor allem daraus besteht, mit den Dingen etwas anzufangen, obwohl man um ihre Herkunft, ihre Gebrechen, ihre Fragilität weiß. Dass es auch heißt, aus dem sich winden eine von Anfang bis Ende ausgeführte Bewegung zu machen, die nicht so sehr weh tut, die Windung beinahe zu institutionalisieren.

Um daraus dann wieder andere anzusehen, auch mit der Gelassenheit, die daraus erwächst, auch wenn man es nicht immer spürt. Dass man es irgendwie hinbekommen wird. Eine Richtung findet. Einen Umschlag. Eine Handschrift. Wie man plötzlich jene ansieht, von denen man denkt, sie wüssten darum nicht, um die Gratwanderung, das Zittern, jene, von denen man glaubt, sie hätten keinen Grund dafür, noch nichts erlebt, und sich selbst dann auf offener Straße ohrfeigt für diese überhebliche Naivität. You never know what’s behind. Und danach sorgsam die Gesichter wie Schaufenster betrachten, in denen die Mimik steht wie eine Schaufensterpuppe, die Jahre aber wie nicht geputzte Scheiben. So viel Wetter, da kommt man nie hinterher, das sieht man selbst irgendwann gar nicht mehr. (You’ll never know.)

Zürich II

Quaibrücke

Wie das klingt: Sich die Nacht um die Ohren schlagen. Wie einen kalten Lappen, ein Geräusch, das man noch nie zuvor gehört hat, plötzlich über einem, ohne dass man sehen kann, wo es herkommt, was es kann. In einer fremden Stadt das Fenster aufmachen, um den Regen zu hören, dastehen, den Kopf richtig rausstrecken, sodass das Fensterbrett den Rippenbogen spürt und zurück, du auch, selber, jaja. Warten, einfach warten, solange noch, bis das nächste Auto um die Ecke kommt und dann feststellen, dass die Einfahrt gesperrt ist. Leise Katzen. Die vielen Hügel hier machen einem die Langeweile schwer, ständig hat man etwas zu schauen oder zu beachten, all die Schilder, auf denen „Verbot!“ und dann erst darunter in kleiner Schrift steht, was eigentlich genau man nicht darf. Die Pudel warten vor Chanel, der Maroni-Mann hat sich ein Kissen mit Strippe an den Stuhl gebunden. Ich komme vorbei am Institut für angewandte Altersfragen. An den Häusern hängen Schilder: Zum Napf, zur Geduld, Paradies.