Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: En Känsla

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Linienstraße

Man muss Glück haben und ein bisschen die Augen offen halten, man muss vor allem den Blick mal heben, um überhaupt wahrnehmen zu können, was passiert, was vorbeifliegt, wie stark der Wind weht, was man aushält, was nicht, wie man sich hineinstellt und was man nicht schaffen kann. Mit Mut hat auch zu tun, sich nicht auf dem Boden einzurollen und dort abzuwarten, weil jedes Gewitter irgendwann vorbeigeht, vorausgesetzt es ist ein Gewitter und kein Ozean und man hat sich irgendwo vertan, aber nicht nur mit Mut, sondern auch mit Verantwortung hat zu tun, sich selbst langsam aufzurichten, auch wenn’s einem in den Kragen und die Ärmel und den Stiefelschaft und die Nase (ja, manchmal regnet es sogar von unten) und sowieso überall hinein regnet, wo man nicht gut aufgepasst hat oder wo man gar nicht aufpassen kann, mit Verantwortung, weil niemand kommen wird, der das für einen macht, also das Aufrollen, meine ich, das Losgehen, den Blick zu heben, da kann keiner kommen und dich ziehen (denn man kann sehr wohl mit gesenktem Blick gezogen werden, aber dann hat man den Sinn dieser Bewegung verpasst), also kommen schon und es vormachen auch, aber die Sache an sich wird erst wirksam, wenn du dich selbst Wirbel für Wirbel wieder hinstellst oder zumindest hinsetzt, hinsetzen ist auch gut, um nicht umzufallen, wenn einem schwindelig ist, hinsetzen ist super, aber gucken musst du selbst und wenn du jetzt nicht gucken kannst, dann musst du dich zum Teufel nochmal im Sitzen ausschlafen, das ist in Ordnung, manchmal bietet man im Sitzen auch weniger Angriffsfläche, auch eine gute Strategie zumindest für den Übergang, aber irgendwann wirst du dich unterstellen, du wirst dich an die Hauswand drücken und dort in Richtung Tür laufen, du wirst die Schultern hochziehen und so lange laufen, bis die Tür kommt, scheiß auf den Regen und den Sturm und die herunterfliegenden Blumentöpfe, naja, vielleicht scheiß nicht drauf, aber schau halt hin, nur dann kannst du ausweichen, und die Tür kommt, ich versprech’s dir. Die Tür kommt. Und du musst sie nur noch selbst aufmachen und auch wieder schließen. Bedachung ist so ein gutes Wort.

afmæli

Warnemünde

Es gibt jetzt Seminare, in denen man lernen soll, auf sein Leben zurückzublicken. In denen man seine eigene Trauerrede schreiben soll, um lernen wertzuschätzen, was man hat und die eigenen Prioritäten zu überprüfen, Führungskräfte bekommen diese Seminare bezahlt, Kurse, Workshops, Coachings, da soll man dann rausgehen mit einem inneren Post-it. Vielleicht würde ich besser werden in diesen Tagen vor deinem Geburtstag, wenn ich so ein Seminar einmal besuchen würde, vielleicht könnte ich dann deinen Geburtstag, den du nicht mehr erlebst, würdevoller verbringen, vielleicht würde ich dann diesen Text auch tippen, ohne mir zu überlegen, ob da draußen jemand sitzt und verächtlich schaut beim Lesen dieses Textes und denkt „Oh Gott, jetzt schreibt sie das auch noch ins Internet, soll sie doch in ein Coping Coaching gehen“ und dann zum nächsten Blog schlurft, um wieder verächtlich zu schauen und trotzdem weiter zu lesen (ich brauche übrigens kein Coping Coaching, ist lieb, aber grundsätzlich ist hier alles in Ordnung, wirklich, trotz Blog und Trauertag, kaum zu glauben, hm?), vielleicht könnte ich dann irgendwie gerader einen Text über den Abschied schreiben, so wie ich es jedes Jahr mache, aber eben nicht wirklich gerade, weil ich glaube, dass das schon Sinn macht, sich nicht einzugraben mit Trauer und Abschied und dem, was man eigentlich so fühlt, wenn wieder der Tag im Kalender kommt, an dem jemand geboren wurde, der nicht mehr lebt, ich könnte vielleicht einen besseren Text schreiben, einen euphorischeren Text, aber wo ist denn die Euphorie an dem Tag, ich weiß, ich stelle mir diese Frage jedes Jahr kurz vorher („Wo ist die Euphorie?“), es ist kaum ein Jahr vergangen, in dem ich das mal vergessen habe, wo ist denn nur diese scheiß Euphorie, die die Menschen in den Filmen immer milde lächeln lässt und Kerzen anzünden und dann ohne zu zittern oder noch einmal von vorne anfangen zu müssen weise Worte sagen, (wo ist sie denn bitte?), und ich meine gar nicht das laute Juchzen und Schreien, das man so im Kopf hat, wenn man an Euphorie denkt, ich meine die leise, kleine Euphorie vom Berggipfel, genau die suche ich jedes Jahr in den Tagen davor wie ein Staubsauger, der auf das rumpelige Geräusch im Rohr wartet, aber es rumpelt nichts, es bleibt einfach ganz still. Und dann frage ich mich auch in den Tagen vor deinem Geburtstag, wo der Abstand ist, mein schöner, sorgfältig gekachelter Abstand, meine Distanz aus mittlerweile 30 Jahren hier herumstehen, wo ist der ganze Krempel denn, wenn man ihn braucht, jedes Jahr wieder ist in den Tagen vor deinem Geburtstag alles leer gefegt, nichts steht herum, nicht einmal ich, es gibt keinen Boden und keine Türklinken und ich glaube, dieses Jahr habe ich zum ersten Mal begriffen, dass es so ist, wenn sich alles zusammenreißt, also wortwörtlich. Sich in sich zusammen faltet, um Platz zu machen, denn die Frage nach der Euphorie ist ja eigentlich nur eine nach einem Geländer, an dem man sich festhalten will, die Frage nach dem Abstand ist ja eigentlich nur der Wunsch nach sicherer Entfernung, aus der heraus man einen Überblick bekommt, und was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass der Platz ja was gutes ist. Es ist gut, dass es kein Ersatzgefühl gibt für dich. Dass ich spüre, dass es nichts alltägliches ist, dass ich jetzt älter bin, als du jemals werden durftest. Dass ich mich frage, wie du gewesen und geworden wärst. Es ist gut, dass alle Kommoden und Einrichtungsgegenstände, die man sich so antrainiert, noch flexibel sind und wegrutschen, damit ich Platz habe und damit du Platz hast, weil das eben Platz braucht, meine Güte. Es gehört dazu, jedes Jahr, so ein Text, so ein Text für dich und für mich und für die, die da sitzen und genau wissen, wovon ich schreibe, also nicht für die mit den verächtlichen Stirnfalten (die dürfen eh gerne gehen, da vorne ist die Tür, ja, gleich an dem Platz da vorbei, bitte zumachen, vielen Dank), sondern die, die hier lesen und wissen und nicken und dann den Browser schließen und ihr Bett zurechtrücken, weil sich das auch bei ihnen mindestens einmal im Jahr ein Stückchen zur Seite schiebt ganz von allein. Es ist nun einmal ein trauriger Umstand mit so vielen Fragen, die man in den Wald hineinbrüllen könnte, wenn es auch nur irgendeinen Sinn machen würde, und mittlerweile weiß ich aber, dass an deinem Geburtstag meistens etwas Gutes passiert, das hat sich so eingebürgert, zumindest der Blick auf die Dinge an dem Tag, dass ich auch erkenne, was gut ist, also immer noch und ohne dich hier vor Ort und vielleicht ist es auch das, was sie in den Filmen eigentlich immer zeigen wollen, aber nicht hinkriegen, weil man rennt ja trotzdem nicht den ganzen Tag grinsend durch die Welt, das ist ja Käse, aber der Platz, den die Tage vorher um einen herum geschaffen haben, der kriecht dann durch das Mittelohr nach innen, tief hinein und wenn man irgendwann weiß, was das ist, das Gefühl davon, wenn man sich drauf vorbereitet, dann kann man sich zwischendurch auch freuen dann, nicht euphorisch und so seltsam friedlebend beglückt (weil in dem Umstand, dass du nicht mehr da bist, einfach kein Glück steckt, das ist nun mal so, vermissen ist scheiße), aber wissend, dass du da warst. Das ist etwas Gutes.

To have the palms face up

Kanal

Es wird jetzt später dunkel, aber immer noch nicht spät genug. Zuhause wartet A. und will, dass ich mir den Oberbauch dehne, sie will auch, dass ich meinen Unterrücken dehne und am Ende habe ich am nächsten Tag sowieso wieder Muskelkater, ich weiß nicht, ob das an ihr liegt, ich glaube, das liegt an etwas anderem, ich trage tapfer ihr T-Shirt und lege meine Hände irgendwie auf meinen Bauch, in der Hoffnung, den Oberbauch zu treffen, Glück zu haben, es kommt ja immer auf die Perspektive an. Das hat H. vergessen, aber manchmal vergisst er auch, dass er das vergessen hat und dann lache ich leise, also wenn er da sitzt und sich mal freut, das kommt selten vor, aber es passiert, man muss es bemerken, das ist ja mit vielem so. Es wird jetzt später dunkel, aber immer noch nicht spät genug, und die kleine, grauhaarige Frau im Blumenladen mit der pinkfarbenen Frotteejacke findet das nicht, denn wenn es früher dunkel wird, dann kommen gegen sechs weniger Leute, dann kann sie pünktlich zumachen und ihm was kochen, er schaffe es nicht einmal, seine Pillen allein zu nehmen, da helfe sie ihm und ihrer Schwester auch, überall Geschwüre, sagt sie, während sie den Tulpen noch etwas starres Grün hinzu bindet, das sie gar nicht brauchen, aber ich sage nichts, sondern nicke manchmal, zuhause wartet schließlich A. und dann soll ich wieder finden, was sich gut anfühlt und ich laufe extra langsam heim, es wird jetzt später dunkel, das ist ja mit vielem so.

Das Jahr ist einen Monat alt, wir zählen noch in Wochen

Bäume

Auf den Winter gibt es jetzt Prozente, nur an den Sonntagen, wenn die Läden geschlossen sind, interessiert sich niemand dafür, man läuft in Kreuzberg in Gruppen oder als Paar herum, als wäre das ein Gesetz, und wenn auch ein einzelner, allein spazierender Mensch für ein paar Sekunden stehen bleibt, um sich in die Sonne zu drehen, gerät das Gleichgewicht durcheinander, bekommt die Schrittgeschwindigkeit einen Knick, dann stimmt irgendetwas nicht mehr, sie wissen nur nicht genau, was es ist. Die ersten Vorsätze gelten schon als überholt, in dieser Februarsonne, die erst ein paar Minuten alt ist, kommt plötzlich kurz die Erinnerung an den Frühling zurück, nicht die des Corpus striatum, sondern die der Haut und alles richtet sich danach aus, kriecht beinahe unter dem Mantel hervor, würde kriechen, wenn der Wind nicht so kalt und die Gegend um die Knöchel nicht so entzündet wäre, aber alles geht in Position und nimmt das Knacken in Kauf. Standlichter bräuchte der Mensch, immer und überall, um nicht überrannt zu werden, Standlichter an den Basalganglien als Sonderangebot. Super-Sale. Dreifach Rabatt auf alles. Alles muss raus. Auf einem A4-Papier, das jemand an die Hauswand unter das Werbeplakat gepappt hat, steht: Bitte weniger Hackfressen. Auf einem weiter hinten: Umstände außerhalb von uns. Niemand war wach, bevor der Schnee getaut ist, niemand hat ihn wirklich gesehen, als hätte sich die Stadt ganz sanft verdoppelt, verdreifacht, wäre wie mit Hefe verknetet ein bisschen größer geworden, nur ein kleines Stück, so wie man in sich hinein sinkt und gleichzeitig aufgeht, wenn man sich wohlfühlt. Bevor man einschläft.

Wägewert

Bank am Halleschen Tor

Das Land wiegt so schwer. Das Land liegt wie so ein Anti-Stress-Ball auf der Haut hinter den Fingern, den man in doppelter Ausführung ohne Berührung in einer Hand hin und her bewegen soll, sonst schlägt das Metall aufeinander und es klimpert verzerrt noch lauter aus dem Inneren heraus. Einem wird das Geräusch in den dazugehörigen Läden oft als Entspannungsübung verkauft, während sich einem selbst schon bei dem Wort die Schläfenhärchen aufstellen. So wiegt das Land. Das Land wiegt so schwer, und in dem Gewicht steht keine der Titelblattfragen tiefer im Schlamm als die andere, denn alleine halten sie sowieso nichts aus, das Land wiegt wirklich so schwer, wie es sich anfühlt und manchmal auch nicht anfühlt, und das Land wiegt so schwer, weil Fragezeichen mehr Masse haben als Punkte, da helfen selbst Ausrufe nichts. Das Land wiegt. So schwer. Und dann auch noch Januar.

Die Landkarte ist nicht das Gebiet

Felder

Ich erinnerte mich dieser Tage an die Fahrt mit dem Zug, als es noch warm war. Ich fuhr in den Süden, um vorzulesen, glaube ich, weiß es aber nicht mehr so genau, jedenfalls setzten sich zwei voll bewaffnete Polizisten in Schutzkleidung in mein Abteil. Ich erinnere mich an meinen angehaltenen Atem und wie ich vermied, auf ihre Kleidung zu sehen, auf die Waffen an ihren Gürteln, auf die große Waffe im Arm des einen, an das Gefühl in der Brust, die Beklemmung, an mein Lauschen ihrer Gespräche, an den Reflex mich zu empören, dass sie nicht fragten, ob es okay sei, sich dazuzusetzen, schließlich ist es nicht für jederman normal, mit drei Waffen in einem Abteil zu sitzen, und am Ende sagte ich gar nichts und sprach in Gedanken mit mir selbst und mit ihnen und der Welt, versuchte zu ergründen, woher mein Gefühl kam und was davon mein Innerstes war, was davon anerzogen, was medial draufgelegt und was auch einfach Haltung, von der man glaubt, sie haben zu müssen. Der Zug raste mit hoher Geschwindigkeit an Feldern vorbei, aber ich kam nicht voran.

eftir þvi­ sem ég man

Leaves

Was einem ein Glück sein kann. Das Raketenbuch ganz aus Versehen und ohne Hast fünf Sekunden vor Ausstieg zu Ende lesen, und auch noch das rote Bändchen wieder zwischen den Einband und die letzte Seite legen können, das sonst immer beim Lesen hinter den Seiten herumbaumelt wie so ein Bungeeseil für Käfer, jedenfalls Zeit zu haben, es zu retten, das Bändchen, und einzupacken, beinahe noch ein beruhigtes Seufzen zu hören, auch Zeit zu haben, das Buch noch in die Tasche zu stecken, auch das ohne Beeilen und dann genau im richtigen Moment fertig zu sein mit dem Zuklappen und dem Wegstecken, um hinauszutreten und die Hände tief in den Taschen zu vergraben. Denn das beim ersten Aussteigen ist die erste Kältestufe, oben auf der Zwischenetage mit dem Kiosk und dem Bäcker, der, glaube ich, gar kein Bäcker sondern irgendein Essenverkaufsladen ist und wegen seines orangefarbenen Schildes von mir als Bäcker gemerkt wird, dort beginnt die zweite Kältestufe. Die dritte kündigt sich an mit jeder Treppenstufe, in die zweite kann man sich noch per Rolltreppe fahren lassen, kurz, aber hey, doch in die dritte muss man selbst laufen, auf dem zweiten Treppenabsatz dann legt sich die Luft auf einen ohne Wind, wenn man Glück hat und gerade kein Zug ein- oder ausfährt, dann spürt man nur die Kälte ohne das Harte der Bewegung an der Haut. Ich bin ja auch davon überzeugt, dass der Wind weh tut, wenn er kalt ist, weil irgendetwas in ihm spitze Kanten hat und gar nicht die Temperatur sondern etwas mit Konsistenz Schuld ist, wenn die Haut reißt oder schmerzt, etwas, das wir nicht sehen können, das aber trotzdem da ist und mit angerissenen Fingernägeln an den Hautschuppen und Härchen kratzt. Was einem ein Glück sein kann, auch oben noch, sind Momente ohne Eile, wenn die eine Bewegung so in die nächste gleitet, als hätte jemand es geschrieben, wenn man sich nicht bemühen muss, sich nicht strecken zum Beispiel sondern die eigene Armlänge genau passt, der Schritt so gemacht wurde, dass der Körper sicher gesetzt wird und voran kommt, wenn die angenehme Geschwindigkeit genau die ist, mit der man den Bus erreicht und zwar nicht knapp sondern genau so, als hätte man schon gewartet. In der dritten Kältestufe wird der mit dem Rücken zum U-Bahnhof gewandte Engel wieder weiß angeleuchtet, vermutlich herrscht auf dem Sockel, auf dem er steht, Kältestufe vier, das Licht macht daraus beinahe noch Kältestufe fünf. Sonst werden die Bäume um ihn herum immer lila angestrahlert, gestern waren sie plötzlich rot, ich habe mich im Gehen noch einmal umgedreht, um das zu prüfen, man vertut sich ja manchmal, aber die waren rot gestern und heute sind sie wieder lila und ich frage mich, ob sich da jemand am Hebel einen Scherz erlaubt hat oder ob da wieder irgendein künstlerisches Konzept dahinter steht, was ich nicht verstehe. Was einem ein Glück sein kann, ist, dass Grün wird, wenn man ankommt, beziehungsweise eigentlich schon kurz davor, damit sich die träge Masse bereits in Bewegung gesetzt hat und man nicht bremsen muss sondern einfach weitergehen kann, wie man auch vorher gegangen ist mit dem Blick auf das in Versalien geschriebene Wort auf dem Haus mit den vielen Fenstern. Gedenkbibliothek. Und obwohl an der Ampel immer brave Studenten mit durchsichtigen Tüten stehen, denke ich nie, nicht ein einziges Mal an das Bibliothek in dem Wort sondern immer nur an Gedenk. Jeden Tag, wenn ich zurückkomme, bleibe ich am Gedenk hängen, an der Erinnerung, an der Bettung eines guten Gedankens, so stelle ich mir Gedenken vor, wie ein weiches Kissen für etwas Gutes, nicht zu weich natürlich, da sind die Dinge eigen, aber jedes Mal hänge ich an diesem Wort bis zur nächsten großen Kreuzung, während ich die Menschen im Lesesaal sehe und trotzdem nicht auf Bücher komme, ich frage mich immer nur, ob sie einander wiedererkennen, ob ich einen von ihnen irgendwann wiedererkenne, weil ich ja beinahe jeden Tag vorbeilaufe, und dann schüttle ich den Kopf, nicht um zu verneinen sondern um die Kurve zu nehmen, denn eigentlich war ich ja beim Gedenken und jeden Tag spüre ich, dass ich noch nicht angekommen bin in meinem Umgang damit, in meiner Definition und wie es sich anfühlen sollte, das Wort. In Kältestufe fünf bis sechs vorne, dort wo die mittlerweile beleuchtete Kirche steht, nehme ich mir vor, am nächsten Tag ein Stück weiter zu sein.

But the pounding.

Rainbows

Wenn du dir Mühe gibst, kannst du jemand anders sein. Wenn du dich wirklich anstrengst, gelingt es hin und wieder deine Jahre abzustreifen und in neue Sekunden zu schlüpfen. Und wenn du das langsam tust und nichts überstürzt, dann kannst du dich fühlen wie im Bauch dieses Schiffes, das Rumoren des Ozeans neben deiner Stirn hören, die kühlen Schiffswände am Steißbein spüren und manchmal einzelne Haare zwischen Rostsplittern. Wenn du die Augen zumachst und stehenbleibst, egal, wo du bist (nicht ganz egal, aber ein bisschen egal), dann bewegt sich der Boden in sanften Wellen und niemand weiß von dir, niemand kennt dich, niemand nimmt wahr, dass du da bist, genau dort, dass es dich gibt. Und das Schiff klettert Bogen für Bogen ab, Tal für Tal, das Schiff hat alle Luken dicht gemacht, du kannst die Seile knarzen hören, die Maschinen arbeiten. Wenn du dann langsam die Schultern sinken lässt und die Hände ausstreckst, nicht nach vorn, dort ist ja niemand und auch sonst nichts, sondern nach unten, also jeden einzelnen Finger entspannst, was gar nicht so leicht ist, wenn du dich wirklich darauf konzentrierst, wenn du die Tauben aus Kreuzberg einfach zu Möwen machst und den Wind über der Brücke am Halleschen Tor etwas drehst, wenn du aufhörst, einfach kurz aufhörst mit allem, dann ist es möglich zu gehen, dich tragen zu lassen, so weit es nur geht. Es ist dann durchaus plausibel, das Kinn ganz leicht zu heben und du musst gar nicht nachsehen, alles wird trotzdem kleiner, wenn du einfach mit allem aufhörst und dich nicht rührst, ich verspreche dir, alles wird kleiner, bis es zwar nicht verschwindet, aber so weit fort ist, dass es dich nicht von dir ablenkt, von dir und deinem Loch im Bauch und vom Fuß und dem Herzen und der Stelle hinter dem Ohr und den weichen Knien, dann gibt es nur noch dich und die Postkarten im Inneren deines Brustkorbs. Wenn du dich bemühst, dann funktioniert das ganz kurz und ganz kurz ist ja manchmal auch besser als gar nichts. Und du kannst ohne Ton New Found Land singen und dich vorbereiten auf die Nacht, in der du kein Sternenbild mehr kennst und alle Kometen zu weit sind, du kannst dich vorbereiten darauf, dass die Nacht genauso aussieht wie der Tag, denn hier unten im Bauch lässt sich das nicht unterscheiden, du kannst dich hinlegen, wann immer du möchtest, du wirst auch mit offenen Augen nichts sehen und die Langeweile aushalten und die Fragen aushalten und die Erinnerungen aushalten und die Ungeduld und dich, ja vor allem dich selbst aushalten und all die Dinge, von denen du glaubtest, sie gehörten zu dir. In diesen Tagnächten, in diesen Nachttagen wirst du nur Wasser hören und den Wind und was sich an Atem in dir breit macht, du wirst mitbekommen, wie sie draußen alles genauso tun wie immer, das Anlegen, das Ablegen, das Beladen, das Löschen, den Personalwechsel, du wirst mit all dem nichts zu tun haben, du wirst mit gar nichts mehr zu tun haben bis ganz zum Schluss, das gehört nicht zu dir, diese Container nicht und die darin verladenen Obstkisten nicht, die Handschriften auf den Zetteln nicht, die vergeblich versendeten SMS jener nicht, deren Empfang nicht reicht bis ein paar Kilometer auf See, die zu warmen Kopfkissenbezüge in den Kabinen nicht, das ist alles nicht deins. Wenn du dich überwindest, wird niemand wissen, dass du existierst, du wirst irgendwann aussteigen nach allen anderen, du wirst kein Gepäck haben und die Sonne wird dich sehr blenden, du wirst lange nicht gesprochen haben, geschweige denn in Farben gedacht, vielleicht wirst du etwas aus der Mode gekommen sein. Dann Augen aufmachen, dann losgehen, dann die U-Bahn noch kriegen, dann den Menschen nicht ins Gesicht sehen, dann die Kurzgeschichten lesen, dann arbeiten, dann E-Mails nicht schreiben, dann mittags am Fluss sitzen, dann anrufen, dann nicht wissen, dann doch einen richtigen Gedanken fassen, dann weitermachen. Nochmal von vorn.

How to fall in love with glaciers

Hand

Ich glaube, es ist nicht so leicht den Glauben in die Menschheit zu verlieren, vielleicht meine ich auch gar nicht „die Menschheit“, die bekommt man ja eh nicht zu fassen, ich meine eher „in den Menschen“ und damit vor allem denjenigen, der einem nahesteht in diesem oder einem anderen Moment, der Rest ist einem ja relativ egal, wenn es darum geht, etwas persönliches zu verlieren, da braucht es schon eine gewisse Verbindung. Und ich glaube, da muss wirklich einiges passieren, aber wenn dann einiges passiert ist, das soll ja vorkommen, dann steht man da und so nackt man sich fühlt ohne Urvertrauen, so leicht ist man auch für den Moment, beinahe so, als würde man abheben, deswegen empfehle ich, sich bei Verlust des Glaubens in diesen einen Menschen, wer auch immer das sein mag, auf den Boden zu legen und oben drauf noch 17 Kissen.

Ich empfehle das Aufdrehen der Heizung, die Platzierung der Füße an jener, vor allen Dingen Füße hoch, damit das Blut in den Kopf und das Herz zurückkommt, man muss ihm schon dabei helfen manchmal und den Glauben zu verlieren, das reicht doch, dann sollte man nicht noch den Puls vertreiben, deswegen Füße hoch und Kissen drauf und vorher eine Decke unterlegen, sonst wird der Po kalt und sowieso hilft es, die körperlichen Enden wie Nase und Zehen und Fingerspitzen in Bewegung zu halten, auch wenn einem so wirklich gar nicht danach ist, glauben Sie mir, Sie sollten aktiv zittern und nicht passiv, das aktive Zittern ermöglicht Ihnen zumindest einen Eindruck von Kontrolle, also zittern Sie bitte mit Anlauf, stellen Sie sich vor, Sie würden tanzen, nur zu einem wirklich beschissenen Lied (und damit meine ich kein peinliches, sondern ein wirklich richtig schlechtes, eines, bei dem Sie sonst auf jeden Fall ohne Zögern den Raum verlassen würden), Sie haben ja keine Wahl, deswegen könnten Sie so gut zu sich sein und Ihrem Körper zuvorkommen. Zittern Sie sich alles weg und schluchzen Sie einmal, auch wenn Sie das Gefühl haben, ein Schluchzer würde nicht reichen, manchmal ist so ein ordentlich platzierter Schluchzer in der Lage, eine ganze Menge mitzunehmen.

Und wenn Sie da so liegen, dann werden Sie eventuell lachen müssen, weil Ihnen dann der Gedanke kommt, wie das wohl aussehen möge, ich sage Ihnen, wie das aussieht, dann müssen Sie sich darüber keine Gedanken machen, Sie werden aussehen wie ein wackelnder Kissenhaufen mit zitternden Armen und Beinen und es wird klingen, als hätte Ihnen jemand mit voller Wucht auf den Solarplexus geschlagen, aber glauben Sie mir, Sie können nicht fallen, denn Sie haben sich ja hingelegt. Und das hat was mit Selbstschutz zu tun und wenn Sie das einmal raushaben, also auch sich kurz auf das Zittern einzulassen, damit es sich nicht dann auf Sie legt, wenn Sie es überhaupt nicht gebrauchen können, dann, sage ich Ihnen, kommt vielleicht ein Galerist vorbei und stellt Sie aus und Menschen werden murmeln: „Da hat sich aber jemand wat bei jedacht“. Und Sie werden sagen: Jawohl. (Auch wenn man Sie unter den Kissen nicht hören wird, darum geht es aber auch nicht. Jawohl, werden Sie sagen. Und dann werden Sie aufhören dürfen zu zittern, vielleicht bleiben Sie noch ein bisschen liegen, aber mit dem Zittern ist es dann vorbei, das haben Sie ja selbst in der Hand. Und im Fuß, ich vergaß.)

Patellarsehnenreflex.

In the middle of the bed

I know what it’s like. When you lose someone who is your home, you know, your only home in the world. When that happens, you think: Oh fuck! I should’ve had a backup home. Another person, a place, a thing, something to make me feel safe and I don’t have that. And now I’m lost.“

Charlie Countryman sitzt auf der Stufe eines Restaurants, während er das sagt und ich wüsste wirklich gern, wie er das hinbekommt, diese Formulierung, nach all den Strapazen und Verlusten, die ihm in den 36 Stunden zuvor passiert sind. Ich weiß jedenfalls nicht mehr, was genau er gesagt hat, aber es ist wichtig, worum es geht, nämlich um das letzte Bild, das Bild, was du mitnimmst, wenn jemand geht, und darum, dass das letzte Bild oft ein schlimmes ist, das sich in deinem Kehlkopf festbeißt, sodass du nichts mehr sagen und nicht einmal mehr schlucken kannst, dieses Bild, das du spürst und siehst, auch wenn du schläfst und vielleicht gerade dann, das sich in jeder U-Bahn-Scheibe spiegelt und im Supermarkt im Regal sitzt, das Bild, das du mitnimmst, weil es das letzte war, was du gesehen und gehört und gespürt hast, vielleicht nicht einmal das letzte, aber das größte, weil danach nichts kam, das einen Gegenwert geboten hat, deswegen nimmst du das Bild mit, deswegen spuckst du es nicht aus, weil du gar nicht weißt, wofür und wohin.

Die Kunst besteht darin, und auch die Notwendigkeit, dieses letzte Bild abzuschütteln irgendwann, die Kraft aufzubringen, sich loszumachen, es sich vom Hals zu reißen, auch wenn man in genau dem Moment noch nicht weiß, ob das wirklich funktioniert, weil es strampelt und einen quält und irgendeine magnetische Superkraft hat, die macht, dass es auf allem klebt, was danach passiert, und alles einfärbt. Und es braucht dringend mehr innere Petitionen, jeder eigene Zentimeter Haut muss mitmachen und aufbegehren, dieses Bild loszuwerden, nicht zu vergessen, aber von der Wand zu nehmen und in den Keller zu bringen, wo es warten kann, bis es nichts mehr bedeutet, wo es warten muss, bis es nicht mehr mit einem spricht jedes Mal, wenn man daran vorbei ins Bad läuft, wo es zu warten hat, weil es verdammt nochmal sein muss, dass es den Mund hält, weil man so nicht leben kann, wenn einen die Vergangenheit ständig schräg von der Seite anquatscht, weil man nicht leben kann, wenn man nicht loslässt, was sowieso nicht bleiben will, weil man sonst nämlich verheddert in den Seilen hängt und keinen aufrechten Gang hinbekommt, weil man sich sonst immer wieder in Dingen verstolpert, die nichts mit dem Weg zu tun haben, die aus dem Hauseingang gesprungen kommen, nur weil sie’s können und nicht weil sie etwas wollen oder eine Ahnung geschweige denn einen Plan haben. Hüpfen schön und gut, aber nicht auf meinen Fuß.

Das Wegziehen im richtigen Moment, ist der Reflex, den es zu üben gilt. Nicht die Deckung von Anfang an, aber die Achtsamkeit zu wissen, wann genug ist. Und welches Bild es wert ist, in der Tasche herumgetragen zu werden. Die guten Dinge von dem, was war, irgendwo behalten in einer kleinen Schachtel und die verbummeln, erst einmal nicht wiederfinden, aber wissen, sie wird schon irgendwo sein, alles andere auf die Straße stellen, vielleicht nimmt es jemand mit.

I have a feeling about this. And I don’t get a lot of feelings. Not clear ones anyway so when I do get a feeling like this one, I try to trust it.“ (Charlie Countryman)