Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: En Känsla

Die zwölfte Woche Jahr

Grunewald

Im Grunewald liegt Nico neben ihrer Mutter begraben. Irgendwo hinter ein paar Steinmauern zwischen all den orangefarbenen Bäumen. Man muss eine Weile laufen, und von dort weg fährt noch ein alter Doppelstockbus jede Stunde. Das Licht fällt zaghaft. Irgendjemand hat einen Steinengel dorthin geschleppt, in dessen Schoß Briefe liegen und Fotos, auf seinem Kopf lila Kopfhörer.

Das Publikum sitzt auf vier Seiten des Bühnenquadrats, in der Mitte marschieren sie in Polizeiuniformen, als gäbe es etwas dabei zu gewinnen, sie tanzen mir zu wenig, sie erzählen die Geschichte mit ihren Körpern nur an, aber nicht zu Ende. Und dass man sich immer ausziehen muss, um zu zeigen, dass jemand erniedrigt und entblößt wurde, verstehe ich auch immer noch nicht. Ist dies das einzige Bild dafür, das es im Theater gibt? Genügt das oder wird auch nach anderen gesucht? Gut aber wieder einmal zu bemerken, wie flüchtig Nacktheit dann wieder ist. Nach drei Minuten Betrachtung wird der nackte Körper auf der Bühne normal, reiht sich ein, man sieht mehr Anatomie und weniger Mensch, die Identifikation zieht sich zurück und dann ist es ja doch wieder nur ein Körper, wie wir ihn alle haben, der stampft und schlenkert und sich manchmal anspannt und sich rötet. Alles wie immer.

Dann Brüssel. Und nichts können als schweigen. L. ist irgendwo dazwischen, wir schicken einander Sprachnachrichten. Sie ist okay. Sie arbeitet. Sie fährt durch die Stadt. Und wir hier in Berlin haben schon einen Code für jede Situation, einen Ablauf, irgendeine Ablenkung parat. Sich immer wieder fragen, ob das angemessen ist, nichts angemessenes zu finden und genau darin dann doch etwas haben, das sich so anfühlt, als müsse es so sein. Nicht aufhören zu hadern mit sich und allem, mit dem Gesprochenen und Geschriebenen und Gefühlten. Was geht und was nicht, muss immer wieder neu ausgelotet werden.

„Wir können eben nicht anders, als das zu lieben, was um uns herum ist, selbst wenn es die Anhänglichkeit und das Festklammern an Dinge ist, die eigentlich nicht wichtig sind.“ (Siri Hustvedt, Die gleißende Welt)

Die elfte Woche Jahr

Window

„This is real life. Not a workshop.“

Versuchen, der Verwendung des Begriffes „Angst“ auf die Spur zu kommen. Mein Gefühl sagt, hier wird unbedacht damit um sich geworfen und ein großer Teil von mir möchte nicht glauben, dass die unsolidarische Rechte wirklich eine Angst hat, der andere meint, man müsse jedem eine Angst zugestehen, auch wenn sie bescheuert ist. Oder eine, wie ich sie nicht kenne. Aber alles in mir will nicht mehr lesen, dass wir diese „Ängste“ ernst nehmen müssen, denn immer, wenn man „Angst“ schreibt, klingt es versöhnlich, mitleidig und nach Verständnis, und dagegen wehrt sich etwas in mir. Und selbst, wenn da jemand eine „Angststörung“ hat (so heißt das nämlich, wenn die Angst einen zu Dingen bringt, die nicht gut für einen selbst und andere sind), dann ist das immer noch kein Grund und noch weniger eine Entschuldigung dafür ein menschenverachtendes Arschloch zu sein. Ich will nichts mehr von diesen „Ängsten“ lesen, denn die wahllose Verwendung des Wortes, auch von den Medien, bagatellisiert die von Rechtsextremisten aus diesem Gefühl gezogenen Konsequenzen, und das halte ich für falsch. Man kann sich immer entscheiden.

Eine Gruppe Menschen steht in dem kleinen Park neben der Bibliothek auf dem Gehweg, sie haben einen Kasten Bier neben sich auf der Bank stehen, tragen Anzüge und schwarze Kleidung. Die kleine Frau mit den rot gefärbten Haaren hält eine pinkfarbene Nelke in der Hand. Die Hunde rennen über den Rasen. Erst als ich an ihnen vorbeilaufe, sehe ich die roten Augen. An der Ampel weiter hinten warten noch mehr von ihnen. Die Ampelphase ist kurz, sie warten auf dem Mittelstreifen, tragen Nelken, bleiben neben den Jungs vor der Taxischule stehen, die da sitzen und rauchen. Die Kirche ist nicht weit.

„There’s nothing particularly new about trying to avoid getting hurt. It’s just that my generation has turned this avoidance into a science. Perfecting the separation of the physical from the emotional. (…) being casual is cooler than intimacy or vulnerability, so we think. (…) today having the last word is the ultimate weakness.“

In der Bahn vom Wedding nach Mitte frage ich die alte Dame mit den vor dem Bauch gefalteten Händen, nachdem sie mich vier Stationen lang angestarrt hat, warum sie den Bärgida-Button an ihrer Mütze trage. „Darüber möchte ich nicht sprechen“, sagt sie und steigt an der Friedrichstraße aus, von dort kann sie zur Nazi-Demo laufen. Ich hätte es gut gefunden, wenn niemand im Waggon hätte weghören können, die Menschen schauen schon interessiert, als ich nur die Frage stelle. Niemand sagte etwas. Als sie ausgestiegen ist, atmet ein Mann an der Tür hörbar laut aus. Wie erleichtert.

Untersuchungen zur Veränderungsblindheit (den Probanden entgehen erhebliche Veränderungen in ihrem Gesichtsfeld) und Unaufmerksamkeitsblindheit (Versuchspersonen übersehen beim Erfüllen einer Beobachtungsaufgabe ein sehr auffälliges Ereignis) legen nahe, dass um uns herum auf alle Fälle viel geschieht, was wir einfach nicht wahrnehmen. Die Rolle des Lernens in der Wahrnehmung war auch wesentlich zum Verständnis von prediktiv visuellen Schemata.“ (Die gleißende Welt, Siri Hustvedt)

Im Radialsystem sprach Orna Donath über das Bereuen von Elternschaft. Und später kam aus dem Publikum die Frage, was das eigentlich mit Schuld zu tun habe, wann Mütter, die bereuen, sich schuldig fühlen. Und ob sie in der Studie von Ornath Äußerungen darüber getätigt hätten, ob ihre Kinder von diesem Schuldgefühl wissen. Ich fragte mich, wie viele Menschen in diesem Raum sich in diesem Moment in sich zurück rollten und ihre eigene Geschichte scannten. Wir kommen aus diesem Dilemma nie heraus. Dass wir immer Kinder sind. Und dass es uns trifft (auch wenn wir gar nicht wollen, dass es uns trifft), wenn wir uns trauen wahrzunehmen, dass unsere Eltern auch nur Menschen sind. Wann entscheidet man sich dafür, dem eigenen Kind gegenüber ehrlich zu sein? Und wer glaubt, das sei man ihm schuldig? Wer lebt lieber mit Lüge? Und wer denkt wirklich, es gäbe immer nur eine Antwort darauf? Wann bereuen Mütter? Und auch: Wann und wie bereuen Väter? Haben Väter einen einfacheren Ausweg, weil die Praxis immer noch besteht, sich durch Alimente freizukaufen? Was passiert mit Männern, die Väter sind und selbstgewählt keinen Kontakt zu ihren Kindern haben, später? Und warum gesteht man Frauen nicht dasselbe zu?

M. sagt, als das Licht schon aus ist, die Traumforschung sei sich momentan einig, dass Träume vor allem als Schutz vor dem eigenen Empfinden dienen. Der Traum sei die Übersetzung der sich in dem Moment verarbeitenden Erlebnisse. Übersetzend vor allem, um Schlaf überhaupt möglich zu machen und mit ihm Erholung. Träume katalysieren, was am Tag geschieht und vor allem das, was es auslöst in uns. Sie bilden eine Barriere zwischen dem, was man vielleicht nicht aushalten würde zu spüren, und dem, was geht. Wenn wir uns an Träume nicht erinnern können, ist das okay. Und wenn doch, dann ist das noch immer nicht alles.

Die zehnte Woche Jahr

Blue

Jeden Tag stehen Geflüchtete vor dem Hotel, in kleinen Gruppen, mit scheuen Augen. Nur selten steht jemand allein davor. Manchmal sitzt jemand unter dem kleinen Dach auf der Treppe und telefoniert leise, oder tippt etwas ins Mobiltelefon. Das ist aber selten. Die meisten haben die Hände in den Taschen irgendeiner Jacke, die Arme an den Körper gepresst, sich schüchtern umschauend. Nur die kleinsten Kinder laufen manchmal rückwärts, breit lachend, bis gegen andere Beine oder einen Poller. Man kann den anderen Passanten ansehen, dass sie nicht wissen, wie sie schauen sollen. Dass ihnen etwas widerfährt, wenn sie die kleinen Gruppen Menschen von Weitem sehen, die Gedanken sieht man ihnen nicht an, aber dass sich etwas in ihrem Körper verändert, weil sie überall von Menschen lesen, die jetzt kommen, aber selten welche sehen. Da sind sie.

Manchmal geht das Handy aus, während ein Podcast oder ein Song läuft. Dann stoppt es einfach für fünfzehn bis dreißig Sekunden. Als wolle es einem Platz zum Denken lassen. Manchmal bin ich enttäuscht, wenn es wieder angeht.

Ich komme später nach Hause, das dunkle Blau ist gerade erst zu einem dunklen Grau geworden, in dem noch ein Rest hängt, alle Läden bis auf den Späti haben geschlossen, das Alibi-Casino auch. Am Anfang der Straße liegt ein Briefumschlag zwei schwarzen Punkten auf der Rückseite. Erst beachte ich ihn nicht wirklich, doch ein paar Meter weiter liegt noch einer, und weiter vorn unter der ersten Laterne der Straße liegen sechs. Alle aufgerissen, alle leer, die Punkte wurden mit Filzstift auf die Rückseite gemalt, alle liegen verteilt, ich erkenne weitere hellgraue Rechtecke am Boden die Straße hinunter. Irgendjemand wollte etwas sagen.

Es ist gegen acht, als ich an der Straßenecke warte, von der aus man direkt in die orange gestrichene Küche schauen kann. Die Küchenzeile ist aus hellbraunem Holzimitat, an der Wand hängt eine weiße Uhr, die stehen geblieben sein muss, auf dem Fensterbrett steht eine dieser gummiartigen dunkelgrünen Zimmerpflanzen mit den lacken Blättern, auf die ich als Kind immer die Murmeln gesetzt und runterrollen lassen habe. In der Küche steht eine ältere Frau in einem beigen Pullover, blonde, kinnlange Locken. Sie räumt herum, vielleicht schneidet sie etwas oder wäscht ab, jedenfalls schaut sie angestrengt auf das, was da vor ihr geschieht und was ich nicht erkennen kann, ihre Schultern bewegen sich, manchmal schaut sie flüchtig durch den Raum, die Gardinen verdecken hin und wieder ihr Gesicht, sie schwitzt im Nacken. Dann greift sie nach einem Handtuch, fährt sich damit über den Hals, trocknet sich die Hände, zieht sich die Haare von ihrem Kopf. Mit dem Handtuch wischt sie sich über die Kopfhaut, die Perücke legt sie beiseite. Dann macht sie weiter.

Am Sonntag begegne ich einem Dackel im Regenmantel. Man kann die Feuchte riechen, ein sehr kleiner Wald.

Ein Paar macht seine Hochzeitsfotos in der Abendsonne auf dem kleinen Stück Rasen am Halleschen Tor. Vor der Amerikanischen Gedenkbibliothek steht ein Mann in Jeans vor dem kleinen Baum und macht Yoga, hinter ihm der große Lesesaal. Alle warten, der Winter geht.

Sie haben das Haus gegenüber der rot gestrichenen Polizeistelle abgerissen. Ich kannte es, seit frühester Kindheit, vor allem den kleinen Spielzeugladen. Er hatte ein kleines Schaufenster und alles war über und über mit Zeug vollgestopft, sodass es dunkel wurde, sobald man den Laden betrat, der kleine Raum war bis zur Decke hin zugestellt, Kuscheltiere, Puppen, Autos und Schreibwaren. Ich liebte diesen Ort, obwohl ich selten etwas kaufen konnte, man trat durch die Tür und alles war möglich, man atmete den Duft von Plastik und Farbe, Holz und Süßigkeiten, Staub und Schweiß, die Möglichkeit der Auswahl und der Entscheidung, das Ansehen des Überflusses genügte mir schon, ich saugte ihn ein und hielt die Luft an, solange es ging.

Es gibt diese zwei älteren Leute, die jeden Tag in ihrem immer leeren Burgerladen sitzen. Als der Laden neu war, standen sie gemeinsam am Tresen in der hinteren Ecke. Nach und nach rückten sie weiter nach vorn. Jetzt stellen sie das Schild nach draußen und sitzen direkt hinter der Scheibe daneben. Mit wild gemusterten Tassen vor sich, immer schweigend, die Arme verschränkt, die Haut leicht grau, ich sehe sie nie reden. Sie sitzen so nah an der Scheibe, dass man sich manchmal erschreckt, wenn man vorbeigeht.

Vor dem Fußballplatz stehen ein Korbsessel, eine kleine Kommode, zwei große Zimmerpflanzen und einige Platten in einem Pappkarton herum. Alle sind blau angemalt. Nicht nur ein bisschen blau, sondern deckend mattblau, sodass man nichts mehr von der eigentlichen Farbe der Gegenstände erkennt, an einigen Stellen platzt das Blau bereits ab und liegt in kleinen Schuppen auf dem Pflaster. Dabn di da da.

Die neunte Woche Jahr

Tulpen

Nach dem Theater drückt mir die Mutter ein kleines Geschenk in die Hand, und lacht: „Wenn du es doof findest, verstehe ich das. Es war nur ein Gag.“ Ich zupfe das Serviettenpapier ab, zum Vorschein kommt ein Jüngling aus brauner Schokolade, mit einer Badehose aus weißer Schokolade, die mit Herzen aus roter Schokolade verziert ist. Das sind die Geschenke, die man mit über 30 bekommt von der Familie. Und Vitaminpräparate. Beides esse ich zu Hause auf.

Quallen sind organisiertes Wasser, lerne ich im Aquarium von einem Schild. Wir beobachten eine Ameisenfarm. Manchmal klettert eine Ameise durch den Lüftungsschacht nach draußen in den Raum, wo nur Sägespäne sind und noch zwei drei andere Ausbrecher. Die echte Welt wartet hinter noch dickerem Glas. Man muss ja nicht immer vom großen Glück sprechen, manchmal genügt das kleine vollkommen und für immer. Die Skalen sind für jeden anders, auch das lerne ich, vielerlei Maß.

„For the first time the blending of two shades is colour of the year“. Das könnte man jetzt auch wieder auf alles drauflegen, auf die Welt und den Journalismus und die Krisen und die Wünsche und ach. Aber damit fangen wir gar nicht erst an. „Your aura is really fantastic, it’s this beautiful purple color“, schrie diese eine Frau damals in „Almost Famous“.

Manche Tage haben einen Knick. Nicht einmal einen Riss, nur eine äußerst sichtbare Delle. Als habe man sich zu unvorsichtig an einen Gedanken gelehnt, das muss ja nicht einmal von Dauer gewesen sein.

Wie gern ich die „Was schön war“-Texte von Anke Gröner lese. Es gehört zu den guten Dingen, habe ich auch festgestellt, einen Zettel dabei zu haben und abends zu notieren, was schön war. Nicht weil man eine Liste braucht, das ist Quatsch, aber so ein Zettel und ein Vorhaben markieren ja gerne mal einen Moment, den man sich sonst nicht nehmen würde.

An der Friedrichstraße trommelt an dem einen Abend dieser Mann auf dem Mülleimer mit zwei Stücken, das macht er mittags und dann später am Abend steht er immer noch da, in derselben Haltung, ein wenig vornüber gebeugt und mit geschlossenen Augen, und alle anderen, die vorbeilaufen, können nicht anders als zu grinsen, weil er das so gut macht und vom ganzen, dreckigen Rest nichts mehr mitzubekommen scheint. Später im Bahnhof funktioniert „No Care“ von Daughter ganz wundervoll als Abstandhalter und Scheuklappe. Sich bewegen ohne Geräusch.

„We sometimes hope against the evidence.“ – Aus Just One Last Swirl Around The Bowl

Eine halbe Stunde bei einer Podiumsdiskussion zusehen, vier Männer auf der Bühne, zwei Frauen. Die erste Frage des Moderators richtet sich an die anwesende stellvertretende Chefredakteurin: „Sie als Frau…“ – es folgt eine sanftmütig verhornte Frage à la „Wie haben Sie das denn geschafft, sagen Sie mal, hatten Sie Glück?“. Ich erwarte Empörung, vielleicht ein lautes Lachen, eine Rückgabe dieser dusseligen Frage, eine spitze Bemerkung, doch alles, was folgt, ist ein leises Lächeln, eine völlig defensive Haltung, die letztlich in der Antwort „Ja, ich hatte auch Glück“ mündet. Die zweite Frau auf dem Podium, Geschäftsführerin, wird danach ähnliches gefragt ““ und auch sie macht sich klein, duckt sich weg und vor allem – sie verteidigt sich nicht. Wieso antwortet keine der beiden mit „Das war kein Glück, ich habe mir das erarbeitet“?

Bei der Buchpremiere von Benedict Wells spielt seine musikalische Begleitung eine Coverversion von Elliott Smiths „Between the bars“ und ich bin wieder achtzehn und die Hosen zu weit und die Augen ganz groß und die Gänsehaut irgendwo in der Kniekehle.

Nach Oh Wonder im Postbahnhof und erneuter Entzückung in der Kälte an der Eastside Gallery entlang laufen, durch eine große Menge Sarah-Connor-Fans, die sich beim Warten an der Ampel die Videos vom Konzert ansehen. Vor der Mauer steht jetzt ein Bauzaun, der da lustlos entlang drapiert wurde, so macht Berlin das häufiger, vorgeben sich zu kümmern, aber worum genau hat es vergessen und auch, wie man das so richtig macht. Aber Hauptsache leuchten. Und das neue Wohnhaus am Ufer steht genau so, dass man den Fernsehturm von der Brücke nur noch sehen kann, wenn man sich Mühe gibt und an der richtigen Stelle steht, man muss die Magie der Aussicht jetzt suchen, alles wird weniger offensichtlich und zugestellt. Falsch verschriebene Beschäftigungstherapie, oder Fahrlässigkeit.

Brian Frankes „Im Grunde sind wir untröstlich“ wiedergefunden. Mich lange nicht mehr so sehr über eine Buchseite gefreut wie über die fünfte von hinten.

Die achte Woche Jahr

Schnee

Wenn A. von Kleidung redet, wird Kleidung etwas anderes. Kleidung ist dann kein Stoff mehr, den man sich umwirft, sondern aufgeladen, in jeder Falte eine Haltung. Und immer wenn A. von Kleidung spricht, will man sich sofort ausziehen, weil es sonst zu viel zu entscheiden gäbe, oder einfach in ein dunkelblaues Tuch wickeln, blickdicht, aber weich. Eine Art Stoff, von der sogar ich sagen würde: „Schau, wie er vorne fällt.“

Matt Damon dabei zugesehen, wie er seine Rakete mit Gaffa und Fallschirmfolienstoff klebt und in den Weltraum geschossen wird. Klebeband als Rettung allen Lebens.

An diesen Tagen mit dem kalten Nieselregen, der nur zwischen die Haarwurzeln und nicht direkt darauf fällt, fehlt mir das Meer, auch wenn ich schon mitten im Gefühl diesen Blick bekomme, der genervt von mir selbst irgendwas mit Plattitüden flüstert, aber man bekommt es ja doch nicht aus sich heraus, und das Am-Ufer-Stehen nutzt sich einfach nicht ab, das muss ja auch irgendwas haben, wenn ständig alle zu diesem Bild als Erlösermotiv kommen, seltsam eigentlich, wie viel Schnittmenge das Meer übrig lässt, für jeden ein Fitzelchen. Auf einer Veranstaltung die Oculus auf dem Kopf gehabt und durch eine Stadt gelaufen, in der das Babylon-Kino direkt neben dem Brandenburger Tor stand. Als ich versuche, nach links in eine Tiefgarage zu gehen, stehe ich plötzlich mit den Füßen in der Brandung.

Morgens im Bus sehe ich, wie draußen vor dem Supermarkt ein vermutlich obdachloser Mann steht, grauschwarze Haare bis zu den Schultern, zerzaust, die Kleidung hängt in Flächen und Fetzen von ihm herab, um die Schultern trägt er einen Schlafsack, hier und da kann man seine nackte Haut sehen, sein Gesicht aber nicht, er hält den Kopf gesenkt, es ist morgens viertel nach acht, er steht unbewegt für mehrere Minuten einfach so in der Mitte des Bürgersteigs wie eine Statue, ein Monument.

Einfach fragen ist etwas Gutes.

Dimitrij Schaad spielt den Pinneberg von Fallada im Gorki und er macht das gut, aber am Ende, da lässt er kurz all die zwanzig Jackets von seinen Schultern fallen, am Ende als nach dem Applaus die ersten Zuschauer schon den Saal verlassen, da stellt er sich noch einmal mit zitternden Händen ganz nach vorn und liest vor, und ich frage mich, ob er vorliest, weil es eine mittelspontane Entscheidung war oder ob er vorliest, damit er sich nicht vertut und die Worte klar bleiben, jedenfalls liest er diesen kurzen Text vor, einen Ruf nach Empörung über die Zustände am und im Lageso in Berlin, einen Wunsch nach Unterstützung, vor allem danach, dass die Menschen dort im Saal ihre Stimme erheben und den Umgang mit Geflüchteten nicht einfach hinnehmen, er steht da und schwitzt und zittert und schaut nicht auf, während er liest, erst danach, und diese Bitte ist kein P.S. unter einem Brief, keine Zugabe, kein Anhang, sie ist die Überschrift.

Die siebte Woche Jahr

Oranienburger Tor

Auf dem Heimweg an das Wartezimmer in Wedding gedacht, in dem die Zeitschrift „Sehnsucht Deutschland“ auf einem kleinen, weißen IKEA-Tisch lag, während auf dem Bildschirm über der Garderobe Tierbabyfernsehen lief. Und dann ist mir Paris auch wieder eingefallen, und wie die Luft war, als wir aus dem Restaurant kamen nach diesen paar Gläsern Wein, ich mochte die Strähnigkeit der Stadt, die vor allem nachts zu sehen ist, denn tagsüber liegt niemand auf den Rasenflächen, treten sie nicht einmal über den Rand. Dass es hier kaum leere Ohrläppchen gibt, hab ich noch gedacht, und wie schön es ist, wenn jemand nachschenkt, aber nicht ohne zu fragen, sondern nach einem Blick, der als Zeichen genügt und nicht zu einer Berührung wird.

Die Notiz wiedergefunden, die ich nach dem Stück von Sibylle Berg schrieb, zwei Zitate: „Ein Kind sollte mit zwei Elternteilen zusammen leben, damit es diese furchtbare Angst verliert, allein zu sein, wenn einer kaputt geht“ (und innerlich kurz abgeschweift, dass zusammen leben ja nicht zusammen wohnen heißen muss und trotzdem nicht weniger wert ist), „ich gönne mir noch zwei Minuten eine kleine Angst“ (zum Mitnehmen, bitte).

Dem Wetter danken, dass es einen der zwei freien Tage keinen Aufstand macht, sondern mich in Ruhe einfach wohnen lässt. Gegenstände benutzen, nicht nur ansehen.

I’ve seen better, I’ve seen worse. I missed the sun today.

An der Friedrichstraße in die S-Bahn steigen. Im ersten Moment denken: „Ach, das da hinten sind nur fünf laute Fußballfans“, an der nächsten Station sicher wissen: „Das sind fünf Rassisten“. Dort steigen sie schon wieder aus. Wut, Gänsehaut, Ekel, Hass und Angst, alles auf einmal fühlen, die Blicke der anderen im Zug suchen. Angst und Gleichgültigkeit in den Augen finden.

Wenn man das kleine Fischrestaurant unter der Brücke betritt, wird man verschluckt von Netzen und Zetteln und Fotos und dem Geruch. Auf jedem Tisch liegt eine Glasplatte, darunter Nachrichten der Gäste und Familien, der Stammkundschaft und Touristen. Jeder Bilderrahmen wurde sorgsam beschriftet. Es gibt Zitrone und Fladenbrot zum Fisch. Das einzige Dessert der Karte ist ein fest gepresstes Pulver, das im Mund ganz samtig weich wird, viel zu süß, aber die Konsistenz habe ich so noch nie erlebt.

Der Dreijährige und ich sitzen in der Straßenbahn, es ist schon dunkel. Der Zug schwingt sich in eine Kurve und der Dreijährige lacht aus vollem Herzen: „Schweeeerkraaaaft!“

Hörempfehlung: Das Gespräch zwischen Anne Wizorek und dem Fotojournalisten Martin Gommel, der reist, um Flüchtenden zu helfen ““ und vor allem um mit ihnen zu sprechen.

Die sechste Woche Jahr

Monsters Ronson

Stadtteile wechseln wie ein Transportmittel. Der andere ist plötzlich so weit weg, alles sieht anders aus, funktioniert anders, riecht anders, jeder nimmt einen neuen Bus nach Hause. Menschen, die nachts über den Ku’damm stolpern, alle für sich zwischen den hell erleuchteten Schaufenstern, in denen die Puppen mit den Plastikhaaren stehen in ihrer eingefrorenen Zerzausung.

In einem Chat gemeinsam überlegt, wo eigentlich die Kollegialität im Internet wohnt und wie viel davon wir brauchen, bräuchten dafür, dass es friedlicher wird, nicht diskussionsfreier, aber so, dass man nicht sofort zusammenzuckt, so dass man nicht im Vorfeld schon Beschimpfungen und Hass einkalkulieren muss, sich nicht von anderen stärken lassen muss, um alles auszuhalten, nicht weggehen muss, um sich auszutauschen. Ausloten, wer bereit ist (acht) zu geben, wer nicht in der Lage und wer einfach zu faul.

Es gibt sie noch immer, die Nächte die sind wie in einen Berlinfilm hineingeschrieben, nur ohne die cheesy Dialoge. Mit den Menschen und den Drinks und den Lichtern und dem lauten Singen, dem Laufen nach Hause, wenn die Straßen sich langsam leeren, man das Licht des nächsten Tages schon erahnen kann, einem auch im Februar nicht kalt ist und vor allem immer so, dass die Nacht länger ist als eine Nacht. Sie ragt unauffällig bis in die nächste hinein.

Sowieso: Konstellationen ausloten. Mit dem Kopf im Nacken, mit dem Blick zurück, mit Bedachtsamkeit nach vorn. Welches Patchwork funktioniert? Wie rücken Menschen nebeneinander, um so zu bleiben oder zumindest sich nicht sofort wieder zu verlieren? Wie viele Eltern kann man eigentlich haben? Und wie viele will man? Wer gehört noch dazu? Kann man noch einmal neu anfangen und wann ist es zu spät? Wie adoptieren wir Freunde?

Durch die Weserstraße rannten gerade schwarz vermummte Menschen und brüllten irgendwas, als D. und mir Karate wieder einfiel. Die „Unsolved“ ist und bleibt diese eine Platte, die immer noch viel mehr Literatur als Musik ist, diese eine Geschichte, derer ich nicht müde werde, sie wird als Geschenk immer gültig sein. Etwas, das man von Wohnung zu Wohnung mitnimmt, ohne es auszupacken, man kennt diese Kiste, man weiß genau, was darin sich an welcher Stelle befindet, manchmal schüttelt man sie sanft, um sich zu vergewissern, aber man muss sie nicht mehr öffnen, das Geräusch ist immer und immer wieder dasselbe, aber ohne die Kiste wäre alles anders.

In Berlin hört man selten Wasser, obwohl welches da ist. Wenn man es doch wahrnimmt, bügelt einem das Geräusch am Morgen die Stirn.

„Kleine Lichter“ hatte ich damals gelesen in diesem Hotel in Taiphe, als die Erde bebte, ich hatte es mitgenommen, weil es so praktisch war, so klein, ohne große Erwartungen an die Lektüre, und dann flogen mir doch so viele Sätze davon durch den Kopf, als ich mich durch die Stadt schieben ließ, ohne Smartphone, nur mit Stadtplan, denn sie erzählt im Buch ja auch immer von ihren Reisen. Und ich weiß noch, dass mich immer nicht entscheiden konnte, ob ich mich auf den Kitsch zwischen den Seiten, diese blumig beschriebene und so geradeheraus erzählte Liebesgeschichte wirklich einlassen wollte (keine Scheu vor keinem Gefühl), dieses Buch war mir suspekt, weil die Beschreibungen nicht schwankten. Dieses opulente Bild von einem großen Gefühl trug ich die ganze Zeit mit mir herum, berührt, ergriffen, weil die besten Bücher ja sind, die dich von innen heraus in verschiedene Richtungen drängen und kleine Beulen hinterlassen. Direkt danach trat ich in kleinen Sicherheitsabstand zu dieser Geschichte (und halte ihn immer noch), weil sie so eng verbunden ist mit der hohen Luftfeuchtigkeit und diesem großen Gefühl Anfang 20, das so nicht mehr wiederkam. Manchmal lässt man ja Platz zwischen sich und den Dingen vor allem aus Respekt. „Kein großer Bahnhof nötig.“

Mit dem Großvater Schnitzel essen. Er verzehrt den Kartoffelsalat zuerst, dann das Kraut. Vom großen Schnitzel schneidet er die Ränder ab, sodass ein akurates Rechteck zurückbleibt. Anschließend holt er eine Brotdose aus seiner Tasche und packt das begradigte Schnitzel ein für später. „Ich bin doch nicht blöd.“

In diesem Laden auf der Potsdamer Straße stehen ein rotes Plüschsofa, ein Klavier und so große Tische, dass Menschen ohne Probleme miteinander daran sitzen können, ohne einander auf die Nerven zu gehen. Die Fensterfronten sind so riesig, dass man sie gar nicht mehr bemerkt. Neben uns direkt am Fenster sitzt ein älterer Herr, er kommt spät, vielleicht gegen Mitternacht. Den Rucksack legt er auf dem zweiten Stuhl ab, er setzt sich, blättert nervös den Kulturteil des Tagesspiegels durch. Man kennt ihn hier, dem Barkeeper wirft er mit Blicken eine Begrüßung zu, manchmal spricht er nicht hörbar mit sich selbst, schaut nach draußen. Er trinkt ein Glas Weißwein, das erste sehr schnell aus. Dem zweiten dann gibt er etwas mehr Zeit, während er in Druckschrift Notizen in das kleine grüne Buch kritzelt, das er mit einem Schnipsgummi verschließt. Kurz bevor ich mich zurücklehne, treffen sich unsere Blicke, ich lächle, er weiß nicht genau, er lächelt dann doch. Am Ende sagt er mir auf Wiedersehen, als ich mich noch einmal umdrehe, bevor wir den Laden verlassen. Dann trinkt er aus.

Die fünfte Woche Jahr

Park am Gleisdreieck

Wir sprachen über Niederlagen und ich blieb wieder am Wort hängen, und auch das finde ich nach längerer Betrachtung besser als davor, es heißt ja nicht Niederschleuderung, Niederwurf, Niedersturz, es heißt Niederlage und das klingt für einen Moment behutsam, würde man sich ihr ergeben. Weil das für den Moment die angemessene Körperhaltung ist, ob Bauch- oder Rückenlage ist jedem selbst überlassen, doch nur selten finden jene, die es aushalten müssen, dies als angemessen. Sich zusammenreißen ist ja auch so eine Schöpfung. Wenn man nicht aufhört damit, besteht man irgendwann nur noch aus einem Haufen Schnipsel, den man selbst oder eine befugte Person nach Abschluss des Vorgangs wieder zusammensetzen muss.

Am Tag vor dem Februar den Weihnachtsbaum im Topf nach unten geschleppt und auf Barmherziges gehofft, schon nach einer Stunde hatte ihn jemand mitgenommen.

Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, an Sonntagen zu laufen, solange zu laufen, bis ich wirklich nicht mehr kann. Nicht das faule „Ich kann nicht mehr“, obwohl es eigentlich noch geht. Denn wenn man mal an einem Sonntag aus Versehen so lange gelaufen ist, bis man nicht mehr konnte, dann will man wirklich noch weiter, aber es geht nicht mehr, es geht dann wirklich nicht und dann tippt man im Sitzen eine Notiz ins Handy mit Orten, an denen keine Zäune sind und keine Wände und wenig Schilder, denn da will man dann hin und es ist eigentlich egal, wann genau, Hauptsache bald.

Ein jedes Ding hat ein Muster oder einen Rhythmus, die sich bei genauem Hinsehen und Hinhören unterscheiden. Doch ob diese Muster auch außerhalb des menschlichen Geistes existieren, ist eine ungelöste Frage. Du und ich, wir haben nicht die gleichen Muster gesehen.“ (Die gleißende Welt, Siri Hustvedt)

Wie man in jeder Beziehung auch immer wieder bereit sein muss, Schaden zu beheben. Es bringt häufig wenig, wenn man möchte, dass es weitergeht, alles vor die Tür zu stellen. Man muss zumindest eine Pfütze Willen in sich finden, im Callcenter anzurufen, auch wenn die Wartemelodie scheiße ist. Oder sich das Tutorial auf YouTube anzusehen. Adblocker sind selten Scheidungsgrund.

Vor der C/O lag ein Mann, er hatte die Augen geschlossen, seine beiden Bekannten sprachen mit ihm, schoben immer mal einen Fuß gegen seinen Bauch, gingen dann und ließen ihn liegen, lachten dabei. Wir standen da, ich hielt das Telefon in der Manteltasche umklammert und fragte mich, ob er atmet. Wir schauten kurz weg, dann wieder hin, er atmete, man sortierte sich, hoffte auf andere, leichter Regen. Eine Frau neben uns fühlte daraufhin seinen Puls, rief einen Krankenwagen. Was nimmt man eigentlich zusammen, wenn nicht seinen Mut?

Wir malten ein Haus an die Tapete und das dauert eine Stunde, wenn man noch nie zuvor ein Haus an eine Tapete in einem neuen Haus gemalt hat. Das bedeutet ja immer was. Nach getaner Arbeit machte der kranke Dinosaurier das Licht aus, versteckte sich im Zelt und trommelte.

Die vierte Woche Jahr

Urbanhafen

Langsam wird es echt. Als wäre jeder Januar so eine Art Bahnhof, alles läuft nur hindurch, niemand bleibt gern, manchmal verpasst man etwas, häufig muss man etwas bezahlen, hat Hunger, aber nichts schmeckt so richtig, meistens hat man zuviel Gepäck dabei, eigentlich immer sind zu viele Leute da, außer nachts und dann ist es gruselig, ständig fährt einem jemand über den Fuß, und obwohl man sich hier eigentlich gut auskennt, wundert man sich immer wieder, dass die Melancholie jedes Jahr eine andere ist, keine hysterische. Als hätte man im Dezember den Abschied nicht gut gemacht und müsse das im Januar nachholen, vermutlich sitzt Silvester eh viel zu nah an Weihnachten, da bleibt einem ja kaum Zeit mal zu überlegen und die Hässlichkeit des Januars ist ja auch irgendwie nie zu übersehen, durch den Januar muss man durch, vielleicht kurz winken und dann erst kann man sich in den Sitz fallen lassen.

„Transparent“ geschaut und über Familie nachgedacht. Die einzelnen Figuren drehen sich so sehr um sich selbst, dass ich mich frage, wie sie es hinbekommen, sich dabei gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, sich so wenig zu wundern. Die ganze Zeit passieren tausend irre Sachen und niemand wundert sich. Wenn sie nichts mehr verstehen, brüllen sie sich an oder haben Sex oder springen in irgendeinen Pool, und plötzlich sitzen alle wieder nebeneinander und sind ganz kuschelig und ich frage mich, an welchen Stellen sie einander ab- und die Geschichten aufholen, wo ist dieser Autobahnparkplatz, an dem sie anhalten, um das alles reinzulassen in sich und einen Platz dafür zu finden und warum platzen die nicht permanent vor Kram?

Auch das Eis schmilzt in Schichten, hier und da hält es die Schwäne noch und die auf ihm abgestellten Bücherregal, Bierkisten, abgerissenen Papierkörbe, Bierflaschen, an anderen Stellen sinkt die starre Kälte schon wieder auf den Grund des Kanals. Jetzt gibt es wieder Ostersüßigkeiten und die vertwitterten Frühlingswünsche werden mehr, die ersten Tulpen stehen in den Vasen, aber halten noch nicht lange. Es ist aber auch so, dass mir der Sommer nicht mehr so fern vorkommt, vielleicht vergesse ich weniger, vielleicht habe ich besser abgedichtet, wer weiß das schon, aber Fakt ist, dass ich mich neuerdings im Sommer an den Winter erinnern kann und umgekehrt, also so sehr erinnern, dass man beinahe spürt, was man denkt, es ist nicht mehr so abwegig, wie es früher schien zur selben Zeit, dass es bald wieder warm ist und ich dabei sein kann. Denken „Ich werde das erleben“ und noch ein Stück gehen.

Der Friedhof ist lauter, wenn die Bäume keine Blätter haben.

Nach einer Woche beinahe allein und viel drinnen genieße ich den Blick in fremde Gesichter, genieße ich es, wenn Leute reden oder vor mir straucheln, etwas in ihrer Tasche suchen, inne halten, telefonieren, ich verhalte mich ruhig, damit sie mich nicht bemerken und laufe einfach weiter geradeaus. Wie vielen man begegnet, wenn man es nicht darauf anlegt.

Den Schrank im Büro ausräumen, den Rechner leeren, Menschen umarmen, auf Wiedersehen sagen, den Fahrstuhl nehmen und dann gehen, weil man sich dafür entschieden hat. Auch Abschiedsgefühle halten sich nicht an Terminvereinbarungen.

Die dritte Woche Jahr

Hasenheide

„Es ist niemandem zu trauen, der sein Brot komisch schmiert“, sagt D.

Am richtigen Tag über das Zitat aus Naiv-Super gestolpert: „Lise beruhigt mich. Sie hat eine New-York-Theorie. Sie sagt, zweierlei kann dort passieren, und es liegt an mir, welche von beiden Möglichkeiten eintritt. Einmal kann ich alle Vorbehalte ablegen und einfach alles auf mich wirken lassen. Wie ein Kind. Oder aber ich halte einen gewissen Abstand und beobachte Kleinigkeiten, versuche, Bekanntes zu erkennen. Sortieren und vergleichen. Das Erste kann dazu führen, dass man überfordert wird oder auch einfach überwältigt. Das Zweite möglicherweise zu schönen Beobachtungen, Eindrücken und Spaß. Meint Lise. Außerdem meint sie, überwältigt sein kann auch sein Gutes haben.“ (S.131)

Dann das Fieber. Als hätte jemand einem eine VR-Brille aufgesetzt, und im Kino läuft das Innere eines Eimers. Ganz ohne Glitzer, sondern einfach schwarz und mit Echo und vor allen Dingen so, dass man die Orientierung verliert. Wie sich kurz vor 40° die Gedanken nicht mehr aneinander hängen, eigentlich ein ganz guter Zustand, in dem man dem Hirn beim Versuch des Denkens zusehen kann, alle Bilder kriechen heran, stellen sich vor und kriechen dann weiter. Völlig zusammenhangslos. Täte der Rest nicht so weh, es wäre völlig genießbar, wie einfach alles nur anwesend ist und dann wieder fortgeht, nur Farben und bröckeliger, gesprochener Unsinn, ich weiß noch von Bowie und dem Bücherregal, das ich auf einem Berg aufbaute, von zwei kleinen Dackeln und alten riesigen Teppichen, darunter verborgener Eiscreme und einem Tipi aus riesigen Mikadostäbchen, in dessen Inneren eine Treppe in den plötzlich goldenen Keller der alten Lieblingsbar führte. Auf einem Thron dort sitzend: ein lila Plüschbär. Keine weiteren Fragen.

„Wie alles nur beliebig sein kann, wenn man aus Angst vor Misserfolgen nicht unterscheiden will.“ (Peter Breuer)

Gegen halb vier sieht man das gute Licht und wie es Punkte auf der Fassade hinterlässt. Der Nachbar hustet durch die Wand mit, wir werden nicht dazu kommen, uns als Ensemble eintragen zu lassen, not in it for the money, just in it for the thrill.

Der Großvater kommt vorbei, ich habe nichts zu erzählen, also halten wir einen Mittagsschlaf, er am Ende des Sofas aufrecht und blinzelnd, ich liegend am anderen Ende unter der Decke, er sagt, schlafen konnte er noch nie gut.

Irgendwo dazwischen verabschiede ich mich von anderthalb Jahren, das ist ja nichts, das man tut und dann ist es vorbei, das trägt man mit sich herum wie eine kleine Melancholie oder Kastanie und irgendwann fällt es einem aus der Tasche, das merkt man aber in den seltensten Fällen direkt, weil es nicht fest genug ist für ein lautes Geräusch beim Aufprall.

Die Straße zum Arzt sieht immer noch aus, als wäre gestern erst Silvester gewesen, die großen Batterien, das viele Streu, all die Scherben. Dabei ist das Jahr schon drei Wochen alt, die Nabelwunden sind verheilt, wenn wir Glück haben.