Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: Berlin

Pankow

Bäume

Ich schätze sie auf Mitte 30, sie sieht aus, wie sich Miranda July immer in ihren Filmen inszeniert. Mit diesen kinnlangen Locken und einem Pony dazu, der sich auch lockt, aber nicht so sehr wie die anderen Haare. Sie trägt diese bunten, kurzärmeligen Blusen in Knallfarben mit Motiven drauf, sie kauft immer Milch, wenn ich sie sehe, im Kiezmarkt kauft sie die. So heißt das Ding an der Ecke, da steht es in Orange-Gelb drüber, also Kiezmarkt. Ich fahre immer daran vorbei, wenn er gerade zumacht oder schon zu hat und sie kommt auch immer kurz vor Ladenschluss herausgehetzt, sie läuft selten in Ruhe sondern immer etwas nervös. So viele Milchkartons würden mich auch nervös machen, meistens sucht sie parallel auch noch irgendwas in ihrer Tasche, sodass sie umständlich die Kartons neben ihren Füßen abstellen und in der Tasche wühlen muss, sie trägt Umhängetaschen, meistens A4-formatig. Man möchte ihr immer irgendetwas abnehmen, aber irgendwie vermute ich, dass das nichts helfen würde, mit den Milchkartons und der Tasche kommt sie schon zurecht und das andere kann ich nicht sehen.

Der Hörgeräteakustiker sitzt immer vor der Tür seines Ladens und raucht, genauer gesagt sitzt er auf der Treppe. Beim ersten Mal dachte ich, er sei nur ein Jogger, der sich ausruht, in seinen schwarzen Shorts und mit den bunten Socken in den Turnschuhen, aber so geht er zur Arbeit, er ist immer bereit loszurennen. Ich habe noch nie jemanden im Laden gesehen, aber er sitzt immer dort und raucht und schaut die an der Bushaltestelle sitzenden Rentner von hinten an.

Auf dem Spielplatz sitzen Kinder, die nicht spielen sondern meistens einfach nur sitzen. Sie sitzen auf den Baumstümpfen, auf dem Dach des Spielplatzhäuschens, im Spielplatzhäuschen, auf der Rutsche, unter der Rutsche, neben der Rutsche. Sie brüllen einander Sachen zu, aber bewegen sich selten. Wer in den Penny Markt geht oder gerade herauskommt, kann sie sehen. „Hast du mich lieb?“ fragt das eine Mädchen das andere, als ich mein Fahrrad gerade abstelle. Eine Stimme aus dem Busch sagt: „Ich hab dich nicht lieb.“ Das andere Mädchen: „Aber du hast doch gesagt, du hast mich lieb.“ – „Nee, ich hab gesagt, ich BIN lieb“ sagt der Busch.

Die Frau mit dem Gebrauchtwarenhandel lässt jeden Tag etwas fallen, häufig liegen Scherben vor dem Geschäft, wenn sie die Auslagen vom Bürgersteig schon wieder herein geräumt hat, vielleicht ist es auch gar nicht sie, die das Geschirr fallenlässt, sondern es stoßen Passanten dagegen. Es ist aber so, dass die Zuckerdosen immer an derselben Stelle stehen, die Teller auch, die alten Wasserkocher, alles kommt jeden Tag dorthin, wo es auch am anderen Tag stand, manchmal kommt etwas dazu, das wird dann dazwischen gelegt oder darauf. Ich habe noch nie jemanden etwas kaufen sehen, nur die Scherben, so macht man auch Platz.

Die Croissant hier sehen aus wie Brötchen, denen ernsthaft etwas zugestoßen ist, sie schmecken auch ähnlich, es gibt keine Teigschichten sondern eher eine Masse, von der man vermuten könnte, sie wäre einmal gallertartig gewesen. Die Croissants hier sind vermutlich verunglückte Brötchen, irgendetwas passiert mit ihnen, was sonst oder woanders nicht passiert, man kann es nicht genau sagen, aber sie provozieren spürbar Mitleid. Das fühle ich auch bei den Blumentöpfen, denen irgendjemand Gesichter aufgemalt hat, der das nicht kann, der auch keine Freude an dieser Tätigkeit hatte, sie schauen jedes Mal, als wollten sie einfach bitte und zum Teufel noch einmal überhaupt nicht existieren, als wären sie ernsthaft sauer auf denjenigen, der da einen Kaktus und vertrocknete Orchideen in sie hineingesetzt hat, als wüssten sie gar nicht, wie es überhaupt dazu hat kommen können.

Und im Hof fallen erst die Birnen vom Baum, später dann Pflaumen.

Ich les‘ ja gerne vor.

Lisa liest

Der Sommer ist da, ich glaube fest daran. Man kann rausgehen und wegfahren oder auch einfach in der Stadt bleiben und sich mal hinsetzen und mal zuhören. Damit es was zum Zuhören gibt, lese ich noch einmal in Berlin und Hamburg nächste Woche.

Am 18. Juli lese ich um 20 Uhr im Café Tasso, dem etwas anderen Antiquariat in Berlin. Wir nehmen keinen Eintritt, aber Spenden sind herzlich willkommen.

Am 20. Juli lese ich in Hamburg im Rahmen der „Feels like home“ Tour im Knust und am 21. Juli im Heimathafen Berlin. Mit dabei sind auch Steve Moakler und Echorev. Tickets gibt’s hier für Hamburg und hier für Berlin. Alle Einnahmen gehen an ein soziales Projekt.


Für die „Feels like home“ Tour könnt ihr nun 5×2 Gästelistenplätze für jede Stadt gewinnen. Gästeliste bedeutet hier ermäßigter Eintritt von 7 Euro, damit wir dennoch Spenden generieren. Um eine Chance auf einen der Plätze zu haben, schreibt einen Kommentar mit der Stadt, für die ihr gewinnen möchtet, und achtet dabei auf die Angabe einer gültigen E-Mail-Adresse (die nicht veröffentlicht wird). Zeit habt ihr dafür bis Dienstag, den 16. Juli, um 20 Uhr.

Silberkarausche

Silberkarausche

„Entschuldigen Sie? Darf ich Sie etwas fragen? Essen Sie Fisch? Ich hätte da einen 50cm langen Giebel, den habe ich in meiner Badewanne, der lebt auch noch, also naja, fast. Aber mein Sohn hat heute zehn davon rausgezogen und die kann ich nicht alle allein essen, das verstehen Sie, oder? Es ist wirklich ein toller Fisch, sooo groß, essen Sie Fisch? Ich wohne gleich um die Ecke in der Schivelbeiner, für fünf Euro ist er ihrer.“ sagte der ältere Herr in seiner beigen Allwetterjacke. Er trug einen Hut und sah ein bisschen aus wie Loriot, wie er da vor der roten Kirche stand.

I think they are like Braille for those who can see but can’t feel.

Birds

Nichts von einer kleinen Melancholie.

Ich habe schon öfter Texte über’s das Zuhausegefühl geschrieben, das Wiederkommen aus dem Urlaub, die Rückkehr von innerer geistiger Abwesenheit. Das hat alles zugenommen, die Sicht auf dieses Gefühl, sie hat ihren Horizont verbreitert, weil ich jetzt woanders lebe, den Wohnort gewechselt habe und ein bisschen wechselt man ja auch das Drumherum, weil man schaut, wer da so wohnt, und das Alte mehr und einen anderen Aufwand bedeutet als früher.

Und dann sitze ich im Zug, bekomme im Großraumabteil kostenlos einmal Röntgen und Grippeimpfung ohne Pieken, denke eine Sekunde an die, die ich in den nächsten Tagen treffen werde, und spüre den Faden, der mich mit dieser Stadt verbindet, wie eine Brandwunde. Berlin ist die Tätowierung, mit der ich schon geboren wurde, und ich werde sie nie bereuen. Und das Gefühl jetzt hat nichts mit einer kleinen Melancholie zu tun, das ist das breite Grinsen, wenn man weiß, dass man sich nicht verliert. Egal, was und wie viel und wer kommt. Mir genügen schon Bruchstücke an Erinnerung und alles baut sich wieder auf, die alten Fassaden, das Klirren der Saftflaschen, die hohe Stufe vor dem Konsum, ich weiß, wo ich eine halbe Stunde mit der Gitarre stand, weil ich wissen wollte, wie das ist für all die Straßensänger. Und ich weiß, wie das Haus gegenüber aussah, als ich verkündete, jetzt aufzuhören, weil man Kindern ja eh nichts geben würde, da könne ich nichts dafür, das wäre eine Einstellungssache von Erwachsenen. Ich kann dir sagen, wie viele Supermärkte schon auf der Ecke standen, an der du jetzt dein Büro vermutest. Ich weiß noch von dem Geruch des ersten Spielzeugladens meines Lebens, der war im Westen, ich weiß den Weg zum Spielplatz mit dem Trampolin aus dem Kopf, auch wenn es ihn nicht mehr gibt, den Weg, meine ich. Auch wenn die Stadt den Mauerstreifen an Hotelbauer verkauft, auch wenn irgendwann der Fernsehturm umfällt. Ich weiß ihn noch, und die Farben der Eiskugeln im Café, das sich dreht. Wo man klingeln musste, wenn man zu spät nach Hause kam, das Geräusch vom Parkett, der Stein, an dem ich mir das Nasenbein angebrochen habe, wurde längst verbaut, aber ich seh ihn jedes Mal in grauem Schimmer auf dem Weg zur Autobahn. Das geht nicht weg.