Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: September, 2016

Die neununddreißigste Woche Jahr

Güstrow

Die älteren Damen tragen gern Taschen mit Tiermustern. In Güstrow kann man Gladiolen vom Straßenrand kaufen, daneben der Penny samt lila Bäcker. Über dem Gewerbegebiet ständig Schwärme von Vögeln. Dahinter Felder und Wald und Gärten mit Zierbrunnen, Gartenzwergen, Tüchern in den Fenstern, die für alkoholische Getränke werben, Campari und sowas, der Druck ist verrutscht, man verwendet vor allem Lila, das sieht modern aus. Hat der Bäcker auch verstanden. Im Dorf dann eine Kirche, die renoviert wird, die Lücken werden mit alten Feldsteinen gefüllt, auf dem Friedhof ist noch viel Platz. Der Bus kommt an Schultagen einmal morgens, einmal am Nachmittag, donnerstags kommt ein Sonderbus. Auf der Koppel stehen drei Stuten mit ihren Fohlen und eigentlich ist immer Wind, soviel Wind, als käme hinter der nächsten Kurve oder Baumreihe das Meer. An der Tankstelle fragen, ob es in den umliegenden Dörfern einen Bäcker gibt. Gibt es nicht. Der nächste ist in Güstrow. Die Dame hinter der Verkaufstheke schaut entschuldigend, enttäuscht, vielleicht traurig. Es habe mal einen gegeben, aber das sei eine ganze Weile her. Vor der Tür stehen die Motorradmänner beisammen, einer trägt ein gebatiktes T-Shirt in Regenbogenfarben. Sie reichen eine Flasche Mineralwasser herum und rülpsen dann nacheinander in ihren Kreis.

Später kommen uns drei ältere, viereckige Herren auf ihren Simsons entgegen, sie gucken grimmig und sitzen auf den kleinen Maschinen, als täten sie das bereits seit vierzig Jahren. Es besteht eine reelle Chance, dass Hosenstoff und Sitzüberzug bereits ein wenig miteinander verwachsen sind. Am Morgen steht immer mal ein Reh im Garten, sie kommen immer allein, fressen die heruntergefallenen Äpfel und Birnen, zupfen an den Sträuchern, mümmeln das hohe Gras. Als der Marder auf die Terrasse hüpft, schaut das Reh beinahe empört. Man kennt sich, vielleicht. Der Bodenleger im Ort hat das „Parkett“ auf seinem Schild im Vorgarten durchgestrichen, das will hier keiner mehr. Laminat und PVC macht er noch. Das Gemeindezentrum steht ohne Aufgabe herum, dahinter parkt nur noch das große weiße Wohnmobil. Mitten im Ort hängt ein CDU-Plakat: „Herz. Heimat. Heiko.“ Heiko ist von Beruf lachender Schornsteinfeger. „Vermutlich das fröhlichste CDU-Plakat der ganzen Bundesrepublik“, sagt F. Dahinter steht die Pumpe, die nicht einmal mehr einen Abfluss hat. Der Briefkasten, die Bushaltestelle, ein Parkplatzhinweisschild, das um Aufgabe bettelt. Als gäbe es hier nicht genug Platz, doch jeder braucht eine Aufgabe, auch das Schild. An dem großen Scheunentor hängen keine Plakate mehr, aber noch all die Klammern aus anderen Zeiten.

Die Äpfel sind sauer, aber man kann sie verbacken und trinken. Am Morgen spielen wir auf der Eingangstreppe Backgammon, man muss immer dort sitzen, wo die Sonne ist. Am Abend fahren manche noch aufs Feld und holen den Mais rein, die Ränder erwischen sie immer nicht ganz. Hinter den Hecken wird die ganze Zeit gerödelt, man hört die Menschen ständig Dinge tun. Wenn die Gärten offen sind, bewegt sich nichts. Im Penny fragt ein Junge in Begleitung seiner Mutter nach einem Praktikumsplatz, es scheint ihn Überwindung zu kosten, sie stehen neben den Konserven nahe der Kassenschlange. Die Angestellte lacht und aus ihrem Mund ploppt eine Absage, als wären die Worte ein Kaugummi, der nicht mehr schmeckt. „Machen wir nicht mehr“, sagt sie und zieht die Augenbrauen nach oben, als hätte man das wissen müssen. Die Schultern des Jungen hingen schon vorher, aber sein Blick schleift nun auf dem Boden.

Die siebenunddreißigste Woche Jahr

Drops

So lange die Dinge nicht aufgeschrieben, jedenfalls nicht hier. Wenn sich die Zeiten ändern und mit neuen Dingen füllen, ändert sich häufig auch irgendein Format. Man sortiert anders ein. Wenn die Welt an einem vorbeirauscht und man keine Zeit hat, dem einen oder anderen dabei zuzusehen, sich zu setzen, wirklich anzukommen. Dann ist auch das ein guter Zustand. Jetzt ist der September da, die ersten Kastanien lagen heute auf dem Boden, vielleicht wird es jetzt ruhiger. In meinem Kopf spielen die letzten Wochen Flipper, das war vermutlich das, was man einen guten Sommer nennt. (Also der im engen Umkreis, da draußen steht die Welt in Flammen ständig.)

Und dieser innere Sommer ist vollgestopft mit Sachen. Mit Sprachlosigkeit nach diesem Dokumentarfilm über die Atombombe, den Mogwai live vertonten. Ich glaube, ich habe erst nach einer Stunde wieder wirklich ausatmen können, der Rest war eine einzige Verkrampfung in der Lautstärke, weil Augen und Ohren so angestrengt wurden, dass Nase und Mund überhaupt nichts mehr mitbekommen haben, keinerlei Bedürfnis ohne Restwelt. Erst stapelten sich die Besucher die Friedrichstraße hinunter, ich mochte das Lächeln all jener, die sich daran vorbeikämpften und wussten, da warten welche auf etwas. Und ich mochte die Aufregung der anderen, die wirklich warteten auf den Lärm und diese körperliche Erfahrung, die Mogwai immer sind.

Und dann war da noch Amerika, das hat sich noch immer nicht gesetzt, diese Reise und die vielen Stunden auf der Rückbank zwischen quietschenden Pressspahn und Motorengeräusch und dem Blick nach draußen, und sowieso die Bestätigung all dieser filmischen Bilder, die ich immer so im Kopf hatte in diesen zehn Jahren, in denen ich nicht im Land war, man möchte sofort eine eigene Serie schreiben eigentlich in diesem Camper, weil man darin gezwungen ist, sich alles dreimal zu überlegen, bevor man es macht, weil man sowieso gezwungen ist zu überlegen, wenn man fährt. Gibt es eigentlich eine Roadtrip-Serie?

Und weil jetzt September ist, und man in diesen Texten, die ein Versuch sind, wieder ins Schreiben zu kommen nach all dem Tun, jeden Satz mit Und beginnt, denkt man plötzlich nicht mehr voraus, sondern schon wieder zurück. In jedem Jahr geht es mir so, dass mir mein eigener Blick in der zweiten Hälfte eher nach hinten fällt. Und dieses Mal gibt es so viel zu sehen, das sich noch nicht gesetzt hat in meinem Schneekugelkopf. Da war noch Kroatien, auch eine der besten Wochen dieses Jahres, jetzt schon, das weiß ich. Es könnte eh sein, dass ich später sagen werde, das war so ein Reisejahr. Weniger schreiben, mehr tun, um dann wieder mehr zu schreiben. Was anders ist als früher: die Dinge brauchen mehr Zeit, um einen Platz in mir zu finden. Der Anspruch an Vollständigkeit ist nicht mehr so wichtig.

Und dann ist da noch eine Form neuer Geschmeidigkeit, die ich zu schätzen weiß.

Heute morgen lief D. vor mir über die Straße an der Ampel. Ich erkannte ihn von schräg hinten an seinem Gang, ich lese seine Texte, wir sind Nachbarn, wenn man so sagen mag, glaube ich, aber wir haben noch nie miteinander gesprochen. Seine Bücher stehen in meinem Schrank, heute morgen dachte ich: Da hüpft die Literatur. Die Blätter fallen einem ja jetzt beim Fahrradfahren wieder in den Schoß, die Notwendigkeit einer Jacke habe ich noch nicht akzeptiert. Noch sitzen wir abends und spielen Backgammon und hören den Menschen beim Quietschen zu. Um acht ist es dunkel, aber was soll’s.


Lieblingsdings diese Woche
Sue hat ein neues Format für sich entdeckt, den Newsletter. Man kann sich anmelden, dann schreibt sie einem E-Mails.