Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Januar, 2016

Die vierte Woche Jahr

Urbanhafen

Langsam wird es echt. Als wäre jeder Januar so eine Art Bahnhof, alles läuft nur hindurch, niemand bleibt gern, manchmal verpasst man etwas, häufig muss man etwas bezahlen, hat Hunger, aber nichts schmeckt so richtig, meistens hat man zuviel Gepäck dabei, eigentlich immer sind zu viele Leute da, außer nachts und dann ist es gruselig, ständig fährt einem jemand über den Fuß, und obwohl man sich hier eigentlich gut auskennt, wundert man sich immer wieder, dass die Melancholie jedes Jahr eine andere ist, keine hysterische. Als hätte man im Dezember den Abschied nicht gut gemacht und müsse das im Januar nachholen, vermutlich sitzt Silvester eh viel zu nah an Weihnachten, da bleibt einem ja kaum Zeit mal zu überlegen und die Hässlichkeit des Januars ist ja auch irgendwie nie zu übersehen, durch den Januar muss man durch, vielleicht kurz winken und dann erst kann man sich in den Sitz fallen lassen.

„Transparent“ geschaut und über Familie nachgedacht. Die einzelnen Figuren drehen sich so sehr um sich selbst, dass ich mich frage, wie sie es hinbekommen, sich dabei gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, sich so wenig zu wundern. Die ganze Zeit passieren tausend irre Sachen und niemand wundert sich. Wenn sie nichts mehr verstehen, brüllen sie sich an oder haben Sex oder springen in irgendeinen Pool, und plötzlich sitzen alle wieder nebeneinander und sind ganz kuschelig und ich frage mich, an welchen Stellen sie einander ab- und die Geschichten aufholen, wo ist dieser Autobahnparkplatz, an dem sie anhalten, um das alles reinzulassen in sich und einen Platz dafür zu finden und warum platzen die nicht permanent vor Kram?

Auch das Eis schmilzt in Schichten, hier und da hält es die Schwäne noch und die auf ihm abgestellten Bücherregal, Bierkisten, abgerissenen Papierkörbe, Bierflaschen, an anderen Stellen sinkt die starre Kälte schon wieder auf den Grund des Kanals. Jetzt gibt es wieder Ostersüßigkeiten und die vertwitterten Frühlingswünsche werden mehr, die ersten Tulpen stehen in den Vasen, aber halten noch nicht lange. Es ist aber auch so, dass mir der Sommer nicht mehr so fern vorkommt, vielleicht vergesse ich weniger, vielleicht habe ich besser abgedichtet, wer weiß das schon, aber Fakt ist, dass ich mich neuerdings im Sommer an den Winter erinnern kann und umgekehrt, also so sehr erinnern, dass man beinahe spürt, was man denkt, es ist nicht mehr so abwegig, wie es früher schien zur selben Zeit, dass es bald wieder warm ist und ich dabei sein kann. Denken „Ich werde das erleben“ und noch ein Stück gehen.

Der Friedhof ist lauter, wenn die Bäume keine Blätter haben.

Nach einer Woche beinahe allein und viel drinnen genieße ich den Blick in fremde Gesichter, genieße ich es, wenn Leute reden oder vor mir straucheln, etwas in ihrer Tasche suchen, inne halten, telefonieren, ich verhalte mich ruhig, damit sie mich nicht bemerken und laufe einfach weiter geradeaus. Wie vielen man begegnet, wenn man es nicht darauf anlegt.

Den Schrank im Büro ausräumen, den Rechner leeren, Menschen umarmen, auf Wiedersehen sagen, den Fahrstuhl nehmen und dann gehen, weil man sich dafür entschieden hat. Auch Abschiedsgefühle halten sich nicht an Terminvereinbarungen.

Die dritte Woche Jahr

Hasenheide

„Es ist niemandem zu trauen, der sein Brot komisch schmiert“, sagt D.

Am richtigen Tag über das Zitat aus Naiv-Super gestolpert: „Lise beruhigt mich. Sie hat eine New-York-Theorie. Sie sagt, zweierlei kann dort passieren, und es liegt an mir, welche von beiden Möglichkeiten eintritt. Einmal kann ich alle Vorbehalte ablegen und einfach alles auf mich wirken lassen. Wie ein Kind. Oder aber ich halte einen gewissen Abstand und beobachte Kleinigkeiten, versuche, Bekanntes zu erkennen. Sortieren und vergleichen. Das Erste kann dazu führen, dass man überfordert wird oder auch einfach überwältigt. Das Zweite möglicherweise zu schönen Beobachtungen, Eindrücken und Spaß. Meint Lise. Außerdem meint sie, überwältigt sein kann auch sein Gutes haben.“ (S.131)

Dann das Fieber. Als hätte jemand einem eine VR-Brille aufgesetzt, und im Kino läuft das Innere eines Eimers. Ganz ohne Glitzer, sondern einfach schwarz und mit Echo und vor allen Dingen so, dass man die Orientierung verliert. Wie sich kurz vor 40° die Gedanken nicht mehr aneinander hängen, eigentlich ein ganz guter Zustand, in dem man dem Hirn beim Versuch des Denkens zusehen kann, alle Bilder kriechen heran, stellen sich vor und kriechen dann weiter. Völlig zusammenhangslos. Täte der Rest nicht so weh, es wäre völlig genießbar, wie einfach alles nur anwesend ist und dann wieder fortgeht, nur Farben und bröckeliger, gesprochener Unsinn, ich weiß noch von Bowie und dem Bücherregal, das ich auf einem Berg aufbaute, von zwei kleinen Dackeln und alten riesigen Teppichen, darunter verborgener Eiscreme und einem Tipi aus riesigen Mikadostäbchen, in dessen Inneren eine Treppe in den plötzlich goldenen Keller der alten Lieblingsbar führte. Auf einem Thron dort sitzend: ein lila Plüschbär. Keine weiteren Fragen.

„Wie alles nur beliebig sein kann, wenn man aus Angst vor Misserfolgen nicht unterscheiden will.“ (Peter Breuer)

Gegen halb vier sieht man das gute Licht und wie es Punkte auf der Fassade hinterlässt. Der Nachbar hustet durch die Wand mit, wir werden nicht dazu kommen, uns als Ensemble eintragen zu lassen, not in it for the money, just in it for the thrill.

Der Großvater kommt vorbei, ich habe nichts zu erzählen, also halten wir einen Mittagsschlaf, er am Ende des Sofas aufrecht und blinzelnd, ich liegend am anderen Ende unter der Decke, er sagt, schlafen konnte er noch nie gut.

Irgendwo dazwischen verabschiede ich mich von anderthalb Jahren, das ist ja nichts, das man tut und dann ist es vorbei, das trägt man mit sich herum wie eine kleine Melancholie oder Kastanie und irgendwann fällt es einem aus der Tasche, das merkt man aber in den seltensten Fällen direkt, weil es nicht fest genug ist für ein lautes Geräusch beim Aufprall.

Die Straße zum Arzt sieht immer noch aus, als wäre gestern erst Silvester gewesen, die großen Batterien, das viele Streu, all die Scherben. Dabei ist das Jahr schon drei Wochen alt, die Nabelwunden sind verheilt, wenn wir Glück haben.

Die zweite Woche Jahr

Zürisee

Manche Dinge kann man nur in der Dämmerung aufschreiben, weil dann die Welt die Klappe hält, weil man selbst noch nicht so eingestellt ist wie sonst und vielleicht auch so früh am Morgen eher sagt, was man wirklich meint, also dort, wo man es nicht unter Kontrolle hat. Dann noch ein Schläfchen, mit der Decke über allem, was beschützt werden muss.

Das erste Buch 2016 zu Ende gelesen. Auerhaus. Bov Bjerg erzählt darin, wie es ist, mit jemandem zu wohnen (nicht nur in einem Haus, sondern auch in einem Leben), der manchmal leben will und manchmal nicht und davon, wie man es nie ganz kapiert, wenn man selbst nicht weiß, wie es ist, gar nicht mehr leben zu wollen, und wie man sich dreht und wendet und manchmal hofft, im anderen wäre es vorbei gegangen, das mit dem nicht mehr wollen, und wie es dann doch nicht vorbei ist.

Von der Kunst, Einflüsse als solche zuzulassen. Das etwas in dich hinein fließt, aber auch wieder raus kann, etwas, das nicht sofort dein eigenes Bauchgefühl aushebelt, aber auch die Möglichkeit hat, Spuren zu hinterlassen. Kommt vermutlich aber auch auf die Beschaffenheit des Bauchgefühls an. Dennoch: Semipermeabilität war schon immer eine große Aufgabe.

Beobachtet: dieses Ringen um Meinungshoheit von Eltern(sorten). Jochen König darin als spannenden Neuentwurf gehört. Warum haben eigentlich nicht mehr Freunde Kinder miteinander?

Feststellen, besser geworden zu sein im Wissen um den eigenen Radius. Also wie viel Luft es braucht und wie viel Platz und was darin stehen kann und was im Gefüge eher stört. Noch zaghaft, aber (und wäre wankelmütig hier ein passendes Wort, ich würde es verwenden, weil es eigentlich so schön klingt ((wenn man mutig ist und zwar wankt, aber ach)) es ja dann aber doch meistens sowas wie ‚mankelwütig‘ meint im Sinne von irgendetwas mit Unbedachtheit und Wut und Unsinn) im Zentrum der Zaghaftigkeit dann aber spürbar bestimmter als früher, man muss sich ja manchmal erst einmal herantasten an neue Körper- und Lebensformen (die eigenen vor allem). Jedenfalls laufe ich die ganze Zeit mit dem Zollstock in mir selbst herum und denke „Oh“ und „Ah“ und „Achso“ und „Na hätten wir das mal früher gewusst“. Aber das haben wir ja nicht, deswegen vermessen wir erneut. Mit neuen Daten können wir arbeiten.

Es schauten nur die Flugblätter der Windräder aus den Wolken heraus. Als seien sie wahnsinnig hoch und es gäbe sonst nichts außer mit ihnen zu schneidende Schlagsahne.

Und dann sangen wir doch noch einmal „Starman“ mit Gänsehaut auf dem Kopf am Ende der Probe, als draußen schon der Barbetrieb losging. Wie so ein Plakat, das man aufhängt, wenn man eigentlich eine Postkarte schreiben will, aber nicht abschicken kann, weil alle Briefkästen der Stadt abgehängt wurden und die Türen unten zu sind.

„Als Kind war ich klüger als jetzt“, sagte Opa und saß in seiner Sofaecke mit dem Kissen hinter dem Rücken, dessen Stoff er damals unter seinem Hintern nach Deutschland geschmuggelt hat aus Zell am See. „Ich wusste immer, ich lebe in einer wahnsinnigen Zeit und ich wollte alles wissen. Und wenn du einmal alles wissen willst, hörst du ja nicht mehr auf.“

Das Dessert lag auf einem goldenen Pappteller in Zürich und ich könnte schwören, um meinen Kopf tanzte Lametta mit Armen und Beinen, als ich hinein biss.

J. verabschiedet. Alles wird anders die ganze Zeit. Wir könnten uns jetzt auch mal dran gewöhnen.

Die erste Woche Jahr

Baltic Sea

Das offene Fenster im Nebenzimmer vergessen und dann eintreten wie in eine andere Landschaft, in der kalte, feuchte Laken über den Feldern liegen, eigentlich ganz schön.

Ich muss das Buch nicht sofort schreiben. Ich lege die Gedanken neben die Seiten in die Schublade und warte einfach ab. Das wollte ich eh schon immer mal machen. Etwas irgendwo vergessen und es dann beim Aufräumen finden und es behalten wollen, mich zugehörig fühlen zu den Gedanken und Worte, sie mir zuschreiben und nicht wie etwas ansehen, in das sich Motten gefressen haben und das man daraufhin in eine Plastiktüte quetscht, die man dann mit dem Müll runterbringt, weil man zu faul ist zum Stopfen, oder es nie gelernt hat.

Gibt es ein Lexikon für Oberflächen, einen Thesaurus für Textur? Ich komme mir ständig vor, als hätte ich nicht richtig begriffen, wie sich Dinge anfühlen können/sollen/müssen, ich würde gern über Konsistenzen lesen, um mir selbst sagen zu können: „Ach das, das ist nur Abscheu, das muss sich so anfühlen, alles richtig, keine Sorge.“

In einem Haus zwischen dichtem Nebel sitzen und froh sein, nichts zu sehen. Einfach nichts außer ein paar Baumspitzen und Reif auf den Gräsern und die Fettstreifen, die Nase und Stirn an der Scheibe hinterlassen. Bis zur Heizung ist, soweit die Füße tragen. Später sich wundern, dass Teleportation immer noch nicht erfunden wurde. Immer. Noch. Nicht. Wie fühlt es sich an, sich aneinander festzuhalten und sich kurz aufzulösen, um woanders wieder zusammengesetzt zu werden? Kann es sein, dass dabei ein Teilchen vertauscht wird? Und dann läuft man für immer mit diesem Teilchen des anderen herum, das anfängt, im eigenen Körper zu funktionieren und Aufgaben zu übernehmen und mitzumachen? Als würde man die Augenfarbe tauschen und vergessen, dass das passiert ist.

In der Kälte fühlt sich Haut nicht mehr wie Haut an, sondern wie irgendwas anderes und für einen Moment ist das auch beruhigend. Also dass man selbst auch splittern kann, ohne sofort kaputt zu gehen.

Sowieso: Ahnungen weniger Gewicht zuschreiben, und den Fokus auf Fakten drehen. Etwas krächzend, aber mit der Übung wird man besser darin. Und drei Kilo leichter. Weniger meinen, mehr wissen. Mehr weggehen oder sich in Ruhe daneben setzen und zuhören. Gefasel ist eh kein gutes Wort.

Jemanden von hinten umarmen ist eine schönere Geste, als ich dachte. Denn der andere hat die Hände und die Augen frei und manchmal braucht man ja genau das und dennoch jemanden im Rücken.