Faro I

Farotiles

Es regnet in Berlin, es regnet so sehr, dass man denkt „Jetzt kann ich ja auch gehen“ und das in so einem leicht bockigen Unterton, also ich meine, wenn es Untertöne gibt beim Denken. Ich radle zum Buchladen, kaufe Teju Cole und Sven Regener. Regener eigentlich nur, weil’s so dick ist und ich doch so schnell lese im Urlaub, das weiß ich mittlerweile und das Schlimmste ist, wenn man sich zügeln muss aus Angst, dann nach zwei Tagen dazuliegen und nicht lesen zu können. Der Buchhändler hat soeben eine grüne Trillerpfeife von jemandem geschenkt bekommen, und ich schreibe „jemandem“, weil ich vergessen habe, welchen Begriff er verwendet hat, irgendjemand, der regelmäßig zu ihm kommt und mit dem er geschäftlich zu tun hat. Auch wieder so etwas, ich betrete diesen Buchladen, vor dem ich schon so oft stand, heute zum ersten Mal. „Die schicken öfter mal was, Aufkleber, Postkarten, Sie wissen schon… Aber die Trillerpfeifenidee ist neu“ sagt er und bläst in die kleine grüne Pfeife. „Möchten Sie eine Trillerpfeife?“, er betont das ‚Sie‘ in dem Satz, er hält mir die Pfeife entgegen, ich verneine, aber bedanke mich, wir überlegen kurz, wem man die Pfeife schenken könnte, denn er hat ja nun wirklich keine Verwendung dafür, Kinder, nein, das wäre unfair den Eltern und Nachbarn gegenüber, den Eltern die Pfeife schenken vielleicht, nein, das wäre noch unfairer. Vielleicht, so verbleiben wir, kommt heute noch jemand passendes in den Laden. Er gibt mir eine Plastiktüte für den Weg, „Ihre Jackentaschen sind ja zu klein, nicht wahr“, ja, meine Jackentaschen sind zu klein.

N. hat Angst, dass wir zu früh am Flughafen sind. Ich habe Angst, dass wir zu spät kommen. Damit könnte man jetzt eigentlich einen Roman beginnen und die zwei Charaktere loserzählen, aber das tun wir ja nicht, wir machen ja Urlaub, wir schreiben keinen Roman, jedenfalls nicht jetzt. Wir sind pünktlich, das kann man sagen, und treffen am Flughafen mit dieser stillen Hibbeligkeit ein, die früher noch eine laute Hibbeligkeit war und nun im Daumennagelhautkauen endet. Wir sind jedenfalls so früh, dass wir es schaffen, Verpflegung zu besorgen und sie so an uns zu befestigen, dass wir nur ein Handgepäckstück haben und trotzdem Wasser und Lebensmittel und etwas zu lesen und Kopfhörer und einen Schal und einen Pullover.

Wir bekommen noch einen Sitzplatz im Wartebereich des Gates. Ich habe keinen Computer dabei und übe das Tippen auf dem quergelegten Handy, das ist fummeliger als die Playstation, deren Controller mich auch immer sehr herausfordert, aber die Autokorrektur hat gute Laune und schon nach ein paar Zeilen werde ich besser. Die Menschen sprechen miteinander, die meisten hier haben einen Urlaub vor sich, glaube ich. Die ältere Dame neben mir zischt ein „Pssscht“ in alle Richtungen, weil sie die Durchsage der Flughafenmitarbeiter nicht versteht, ich erkläre ihr, dass sie nichts verpasst hat und auf ihre aufgeregte Frage, wer wann das Flugzeug besteigen dürfe, antworte ich, wir dürfen alle gemeinsam einsteigen. Plötzlich ist sie wieder freundlich und schaut aus dem Fenster. Als wir zum Flugzeug gehen, hat es aufgehört zu regnen und N. summt leise „Guantanamera“.

„Oh hallo!“ sagt der Flugbegleiter etwas überrascht ins Mikrofon und erklärt die Situation. Die Fluglotsen in Frankreich streiken. Das Flugzeug steht also noch eine Stunde in Schönefeld herum, wir sitzen darin und lesen. Es gibt Wasser aus durchsichtigen Plastikbechern. Das Wasser ist umsonst, das sorgt beinahe für helle Aufregung im Flugzeug, „denn bei Easy Jet ist ja wenig umsonst, da muss man ja beinahe noch fürs Reden dürfen bezahlen“. Die Flugbegleiterinnen tragen die Wasserbecher auf einem durchsichtigen Tablett durch den Gang, wie schön es wäre, wenn jetzt eine Tanzemariechenparade durch den Gang käme oder jemand vom Zirkus, also eigentlich wäre das ziemlich schrecklich, aber die Reaktionen wären so schön, wie all jene gucken würden, die eigentlich genervt sind ob des Wartens, sich aber die Genervtheit noch nicht ganz erlauben, weil sie ja jetzt in den Urlaub fahren und am Anfang des Urlaubs hat man sich ja gefälligst zu freuen und schließlich gibt es ja Wasser umsonst, also bitte. Aber es gibt keine Parade. Immer wenn Flugbegleiter die Schwimmweste mit der Pfeife erklären, muss ich unweigerlich an Titanic denken, an die Szene, in der sie alle im Wasser schwimmen und es irgendwo leise trötet. Es ist Trillerpfeifentag, N. sitzt am Fenster und lacht, der Platz zwischen uns ist frei. Jetzt regnet es wieder.

Um 18:23 Uhr gibt es eine Durchsage vom Kapitän. Wir fliegen über Paris und den Charles-de-Gaulle mit seinen vier Landebahnen, alle Köpfe neigen sich, die Hälfte sieht nichts. Im Gang des Flugzeugs spielen Kinder mit Eimern und Schaufeln. Ich habe die Dummy mit dem Titelthema „Abenteuer“ fertig gelesen, kann jetzt also losgehen. Ein junger Mann sitzt neben uns, dazwischen liegt noch der Gang. Er hat sich ein Glas Kokosöl mitgebracht und löffelt davon mit einem Umrührstäbchen mehrere Portionen in seinen Beutelkaffee. Beutelkaffee ist Kaffee, den man wie Tee aufgießt. Hier oben ist es still, die Sonne scheint. Ich erkläre N., was das Wort „rumpeln“ bedeutet.

Teju Cole im Flugzeug zu lesen, die ersten Seiten der Streifzüge seines Protagonisten durch New York, ist fast, als flöge ich direkt dorthin. Ob das am Strand immer noch da sein wird, das Gefühl, das er jetzt hinbekommt in mir? Das Flugzeugklo stinkt. Eine Familie hat extra einen kleinen Toilettensitz für die Kinder dabei. Alle 30 Minuten holt Papa das Ding aus der grünen Plastiktüte, das er im Gepäckablagefach über sich verstaut hat, und schleppt es samt Kind aufs Klo. Danach wieder einpacken und verstauen, also nur den Deckel. Sind Reisen nicht auch Zeiten, in denen Dinge mal anders sein sollten als Zuhause? Der Kokosölmann programmiert eine Website auf dem Laptop, seine Freundin schläft auf zwei Sitzen. Als er vor dem Start einnickte und sein Kopf nach hinten fiel, faltete sich seine Hinterkopfhaut zu kleinen Rollen an der Kopfstütze zusammen.

In Faro bekommen wir eine Willkommenszeremonie, die örtliche Feuerwehr wäscht das Flugzeug mit einem großen Spritzauto, wir fahren direkt durch den Strahl zum Gate. Die Prozedur wird von einem Regenbogen dekoriert. Wieder sieht die Hälfte der Leute nichts, das ist dann schon dieses Touristendilemma, man hat immer Angst, dass man was verpasst oder falsch steht, den falschen Ausgang nimmt, sich die falsche Uhrzeit gemerkt hat, dass man dies, dass man das. Ein Regenbogen jedenfalls, ein portugiesischer. Es riecht sofort nach Urlaub, als wir aus dem Flugzeug treten, die Luft ist feuchter, die Sonne wärmer, das Licht so grell, dass ich die Augen zusammenkneife. Das ist hier schöner als Zuhause, das Augen zusammenkneifen, bilde ich mir ein. Der erste Taxifahrer erklärt uns sofort ungefragt und freundlich den Bus, er versucht nicht einmal uns zu einer Taxifahrt zu überreden, sondern grinst nur breit. Das Licht so golden, ich kann es gar nicht anders sagen, wir sitzen auf der Bank und gucken in den Himmel, davor die gewellten Dächer des Flughafengeländes, dahinter irgendwo Palmen. Im Bus läuft die Klimaanlage. Neben dem Jumbo Supermarkt tanzen Schülerinnen in roten T-Shirts einem HipHopper auf einer großen Bühne hinterher. Das große Ding daneben ist das Einkaufszentrum, aber das wissen wir noch nicht.

Wir wohnen in einem Haus, dessen Fliesen an der Außenwand wir fotografieren, bevor wir wissen, dass wir in diesem Haus wohnen. Darin lebt T., der man ansieht, dass sie viel gesehen hat, vielleicht ist das nicht gut ausgedrückt, das klingt ja so nach Furchen und Augenringen, aber ich meine eher die Geschichten im Ganzen ohne Wertung. Sie serviert uns Minizwieback und Feigenmarmelade am großen Holztisch im Wohnraum des Hauses, von dem der Flur, die Küche, der kleine Hof und ein Rumpelzimmer abgehen. Wir sind vom Flug so müde und von dem schönen Haus so geplättet, dass wir nur ganz still sitzen und zuhören. Ich starre permanent auf ihre Hände, T. hat nebenan ein Atelier und arbeitet mit Keramik.

Später stehen wir mit in den Nacken gelegten Köpfen vor dem Arco da Vila, auf dessen Türmchen Störche nisten. Die Kakerlake im Bad taufen wir Gimmie und entlassen sie mit Hilfe eines Glases und eines Zugfahrplans in den zweiten, kleinen Hof. Dass T. ihn am liebsten sofort zerstampft hätte, wäre sie dabei gewesen, wissen wir auch noch nicht.