Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Monat: Juni, 2014

Zürich VII

Idaplatz

Das Licht des Sommeranfangs legt sich auf den See wie eine Hand auf warme Haut, die sie zwar kennt, aber noch nicht ganz so lange. Am frühen Abend noch hell und etwas plötzlich, aber man kann schon ahnen, wann die Nacht kommt, wie sie wird und dass die Stimmen dann kurz noch etwas lauter werden vor Euphorie und Oxytocin. Auf dem Bellevue so viele Hinterköpfe, denn sie übertragen den Rigoletto in neuer Inszenierung, der Herr mit dem grauen Haar vor mir wippt mit und man erkennt an seiner Bewegung, dass er, wäre er allein, vielleicht ausschweifender wäre, vielleicht lauter summen würde. Hier sitzen sie dicht an dicht, die blauen Klappstühle kann man kaufen (sie kommen in handlichen Taschen zum über die Schulter werfen), und so sitzen sie alle und lauschen (sie lauschen wirklich, nur an den Rändern des Platzes, wo man steht, wird geredet zwischendurch, aber auch das leise), manche haben sich Decken mitgebracht, viele Hüte, dazwischen immer wieder ein paar ausgezogene High Heels auf dem Valser Quarzit. Bei der einen Arie bewegt der Herr die Hände in den Hosentaschen, die Fersen hebt er im Takt, ob er dirigiert oder mitspielt oder ob genau so wirkliches Lauschen geht, vermag ich nicht zu sagen.

In Zürich kann man von der einen Sekunde auf die andere allein sein. Aus dem größten Trubel heraus genügen manchmal schon zwei, drei Schritte und alles ist wieder still, niemand bleibt zurück, nur Fensterläden und gelbe Fahrbahnmarkierungen und Malven, überall Malven an den Straßenrändern. Und das helle Chopfab passt in diesen Abend, weil es hinten nach genau diesem Licht schmeckt, das am späteren Abend neben den nackten Füßen und dem Klirren der Gläser liegt. Wir fallen nach dem Spiel aus der Nebenstraße wieder ans Ufer, und hier drüben ist es laut, die Jugend hat sich versammelt und liegt und hockt neben den Wasserpfeifen, es pfeift und lacht und kreischt an jeder Bank, wir laufen Slalom um die kleinen Grüppchen, ich verstehe keine Wort, aber die Gesten kenne ich noch, die zurückgeworfenen Köpfe, die zusammengesteckten, die nach innen gedrehten Füße und die Artikulation, die man dann ja auch noch für sich finden muss neben dem ganzen Rest.

Am Fluss wird um Mitternacht getanzt, die Käfer sammeln sich beim Licht. Die Betonstufen sind noch warm vom Tag und man kann die Augen schließen und kurz aufhören zu existieren zwischen all denen, die sich hier auskennen, die nicht drauf achten müssen, auf etwas zu achten, man kann sitzen und nicht gesehen werden und vielleicht noch ein Bier trinken und sich vorstellen, so könnte der Sommer sein und bleiben, es aber nicht aussprechen sondern nur kurz denken und dann weiter beobachten. Über uns flattern bunte Bänder im Wind, den man erst spürt, wenn man aufsteht, um sich zu strecken und nach Hause zu finden. Am Sonntag gibt vielleicht keinen ruhigeren Ort in der Stadt als die eine Wiese auf dem Friedhof Sihlfeld, und wir laufen neben den geordneten Gräbern, deren Steine alle dieselbe Höhe haben, auch die Kreuze sehen beinahe gleich aus, Quadrat an Quadrat und die verrückteren Steine außer der Norm stehen hinten auf einer eigenen Fläche. Unter manchen Bäumen darf das Gras wachsen, dort legt es sich schräg und man sieht, von wo meistens das Wetter kommt, ein Baby lernt stehen. Was passiert eigentlich mit Namen, wenn sie niemand mehr vergibt?

Als ich zurückkomme nach Berlin, ist es 15 Grad kälter, aber auf der anderen Straßenseite ein paar Meter nach links stehen rosa Malven. Mir fehlt auch das i an den Worten.

Zürich VI

Café Lang

Allein wegen der Tapeten sollte man die Toilette im Café Lang einmal besuchen, vielleicht auch wegen dem großen Spiegel und dem gedämmten Licht, vielleicht einfach weil man ganz kurz in irgendeine verwegene Zwischenzeit katapultiert wird, die auch noch anhält, wenn man die Stufen wieder hinauf durch den Raum mit der dunklen Holzvertäfelung zurück in den Raum mit dem hellen Holz geht und sich dorthin setzt, wo man zu gleichen Teilen den Gastraum sowie das Geschehen hinter der Bar beobachten kann, wo die Gläser schon mit Orange und Eis vorbereitet werden, wo man sich die Hände an der kleinen blau-weiß-karierten Schürze abwischt, die zweimal um den Bauch gebunden wird. Das kleine Milchkännchen hat einen Sprung am Ausguss, wäre ich alt und hätte ich Platz und zu viel Zeit, ich würde vielleicht Kännchen sammeln aus aller Herren Länder. Die Blumen sind frisch, wir stehen auf und überqueren die Straße vorbei an den Wartenden auf dem Limmatplatz, es riecht hier selten nach Essen fällt mir auf, vielleicht haben sie andere Lüftungen, aber es riecht immer irgendwie eher nach Wasser oder Wind und vielleicht ist das einfach stärker als stehendes Fett.

Durch den Tunnel Richtung Langstraße, ein anderes Zürich, mehr Kabel, mehr Menschen, mehr flackernde Schilder, alle ziehen etwas an Geschwindigkeit an, aber immer noch nicht laut, erst am späten Nachmittag wird gehupt und im Weg herum gestanden, meist aus Versehen, aber dann verheddern sich Autos und Spuren und das nach Hause Wollen aller. Die Tische vor der Sport Bar sind alle besetzt, dann kommt einer herein, ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt, Spanisch sprechend, nicht mehr ganz so viele Zähne, er lacht so, dass man ihn sich merkt. Der Schokoladenkuchen kommt ohne Mehl aus, noch ein Kaffee und den Blick rausgeworfen auf das gute Licht der Stunde, gleißend und doch ganz langsam setzt es sich zwischen den Ästen der Bäume hindurch auf den Asphalt und bleibt dort einfach liegen, als könne man sich alles nehmen, was man wolle. Von allem ein bisschen.

Durch die kleinen Knoten dann wieder zurück, im Krokodil gibt es spanische Spezialitäten, hinter dem Tunnel links. Auf dem Asphalt haben sie ordentlich fünfmal hintereinander das Wort Besucher in die Spur geschrieben, wir haben es jetzt verstanden, hier ist mehr Schatten. Auf dem Röntgenplatz sitzen zwei ältere Herren auf der hölzernen Sitzgelegenheit und schauen jeden an, der auf den Platz kommt, sie lächeln, ohne zu lächeln, Kinder kommen nun von der Schule nach Hause, die Beete vor den Häusern sind alle gepflegt. In manchen Erdgeschosswohnungen stapelt man, was man nicht braucht, auf dem Fensterbrett wie eine Gardine. Zum Licht kommen hier Kreidefiguren. Wenn man langsam und ohne Hast durch das Industrieviertel läuft, wird man angeschaut. Hier will niemand sein, alle wollen irgendwohin und müssen hier durch. Aus der Versicherung kommt der Mann im Anzug gelaufen und zischt „Ach scheiße“, bevor er ins Auto steigt, ich schaue ihn an und er hebt entschuldigend die Hände, beinahe hätte ich geflüstert, sag’s nochmal.

Die alten Schienen führen noch in den Bauch vom Schiffswerk, man kann dort jetzt essen unter großen Schirmen, auch hier fallen verwunderte Blicke auf einen, wenn man schlendert statt auf die Uhr zu sehen, wenn man sich nach links und rechts umdreht und sich alles genau ansieht, das scheint man hier nicht gewohnt zu sein. Im Schatten dann noch einmal zum guten Buchladen und dort ausschnaufen, die Sonne brennt, der Fluss ist heute schneller als am Dienstag, zwei Schlauchboote wackeln unter der Brücke hindurch. Dort drüben am Ufer in dem kleinen Häuschen hinter dem Spielplatz könne man sich Hamster leasen, hat N. gesagt. Die kleine Frau im weißen Kleid fragt, ob sie mir helfen könne, ich danke und sage, die Auswahl der Bücher hier sei schon Hilfe genug, sie lacht und meint: „Wenn das doch immer so einfach wäre.“ Am Dienstag liefen The National, als wir den Laden betraten, heute spielt man Bon Iver. Pour a little salt.

Zürich V

See

Am Hafen Enge gibt es diesen Streifen aus Beton im Wasser, den man über den kleinen Steg erreichen kann, vermutlich schützt er die dort liegenden Boote vor den Wellen der größeren Schiffe. Man kann darauf sitzen und herumlaufen und wenn man also sitzt und die Beine herunter hängen lässt, dann kommen bald ein paar Enten vorbei, gestern also wirklich ein Paar, die vor den Füßen desjenigen immer wieder einen Moment auf der Stelle schwimmen und herauf schauen, manchmal quaken sogar, damit man vielleicht doch ein paar Krumen wirft. Ich habe keine Krumen sondern Kuhlbrodt und Rothmann dabei, die sich gut machen neben dem Rauschen der Fontäne weiter rechts. Und irgendwann reißt die Wolkendecke auf, die Sonne schaut erst gar nicht und dann plötzlich brennt sie einem beinahe Löcher in die Haut, völlig unvermittelt. Das Ziepen in den Zellen kann man auch genießen, wie lange schafft man’s, wie lange hält man’s aus, das ist Sommer, so fühlt sich Sommer an, meistens plötzlich und blitzschnell und dann muss man einfach sitzen bleiben, sonst hat man ihn womöglich schon wieder verpasst.

Die Stockenten haben dieses blau-weiße Band an der Seite, das bei den Erpeln sofort glänzt und sich einfügt, sie schwimmen zu dieser Zeit im Prachtkleid, der Kopf ist grün, der Schnabel hell und dann noch das leuchtende Blau. Die Stockentenweibchen sind unauffälliger, aber den blauen Flügelspiegel haben sie auch, es scheint nur, eher versteckt wie ein heimlich gestochenes Tattoo, das man erst entdecken muss. Weiter rechts sitzt ein Mann, dessen Pullover zu den Köpfen der Erpel passt, er heut auf einem Ohr Musik und winkt, sobald ich in Richtung Fontäne schaue kurz, um den Blick auszuruhen und die Sätze nachklingen zu lassen. Er winkt jedes Mal, ich sehe ihn nicht an, irgendwann setzt sich jemand zwischen uns, später geht er und winkt vom Ende des Stegs noch einmal, ich sehe ihn aus dem Augenwinkel und schaue dann wieder auf die Fontäne, auf die gerade zwei in Badehose klettern und lachen, so laut lachen, wie man es nur kann, wenn man wirklich lachen muss, ohne Kontrolle und aus dem Bauch heraus, ich denke die ganze Zeit, gleich haut’s ihn weg, den einen. Aber keinen haut’s weg, sie sitzen auf dem Rand und hinter ihnen schießt das Wasser in die Höhe.

Kuhlbrodt schreibt von dem Kreuzberg, in dem ich jetzt wohne, aus einer Zeit, in der ich noch am anderen Ende der Stadt lebte, und ich versuche mich zu erinnern, wie diese Jahre waren, 2007, 2008, wo ich meine Tage verbrachte, wen ich gesehen hab. Jetzt beginnt das Alter, in dem man sortieren muss und nicht sofort sagen kann, dieses und jenes passierte dann und dann, das Leben häuft und stapelt sich vor allem nach seiner eigenen Façon, aber so muss es ja auch. Mich gruseln Menschen ja dann doch, die immer alles so ganz genau wissen, die alles ablegen und vermerkt haben. Sowieso ‚vermerkt‘, das Wort allein ist schon so ein Grund sich kurz zu schütteln, als habe man sich beim eigentlichen Erinnern vertan. Am Abend soll es Regen geben, aber der kommt nicht. Stattdessen die goldenen Laternen vor dem Dunkelblau der Stadt. In der Berthastraße fragt mich jemand nach dem Weg. Somehow, anyhow.

Zürich IV

Limmat

So sehr wie nie die Zeiten genießen, in denen nicht geredet werden muss. Zürich dabei als Ort, an dem es mir mit am leichtesten fällt, weil der Tag nur mir gehört und es keinen Plan gibt und keine Liste, nur ein Bauchgefühl und wohin die Füße tragen (wollen). Und die Abende sind gefüllt mit Menschen, mit denen man nicht reden muss, aber kann, mit denen auch Stille wie ein gutes Gespräch ist und beides nahtlos ineinander übergeht. Wenn man aus Jahren kommt, in denen man den Tag mit Kommunikation verbracht hat, schriftlich und gesprochen und beinahe auch getanzt, musst man erst wieder lernen, tagelang die Klappe zu halten, lernen das eigene Bedürfnis zu erkennen und milde mit ihm zu sein, den Lärm aussperren, um den eigenen Körper wieder hören zu können, nicht nur das Ticken des Kopfes sondern zum Beispiel, wann Hunger wirklich Hunger ist und wann Durst beginnt und wie weit man noch kann und wie weit man noch will und schlafen, einfach wenn man müde ist und wach sein, wenn man wach ist, alles ohne Zwang und endlich einmal umgedreht, nicht nur Veräußerung sondern vor allem Verinnerlichung.

Und dabei hilft, dass man hier die Gespräche nur versteht, wenn man sie verstehen will, dass es leichter fällt als daheim, abzuschalten, Stimmen nur noch als Rauschen wahrzunehmen, und trotzdem offen zu sein für jedes charmante Wort, das manchmal herausfällt. Nuancen sind hier etwas Gutes und nicht schwer. Wie der Dunst, der gestern zum ersten Mal seit den Besuchen hier über den Bergen hing. In der Sihlfeldstraße plötzlich die hohen Gewächse neben der klassischen Baumbepflanzung bemerken, die hat der Maggi gesät, Borretsch erkenne ich, den habe ich nachgeschlagen, Wegwarte auch, die sehen ja fast aus wie Kornblumen, meine liebsten als Kind. Wenn man weiß, was Sauerampfer ist, sieht man ihn auch plötzlich überall, an den langen Holztischen mit den roten Beinen sitzt am Nachmittag noch niemand, prachtvolle Stengel blühen jetzt in Lila und Pink und Beige mit roten Rändern, beinahe größer als wir. Früher verlief hier die Autobahn. Jetzt springen Kinder in den Brunnen am Bullingerplatz, vor der Apotheke steht ein Minikicker mit einem Schild. Den Ball zum Spielen könne man sich im Laden abholen. Sie haben einen Schirm aufgestellt gegen die Sonne.

Dann die zwei in dem Boot, Weidling genannt (auch das schlage ich nach später), wie sie sich flußaufwärts kämpfen, die Knie in Schoner gepackt stemmen sie sich zu zweit gegen den Steckling, der aussieht wie eine Holzgabel und mit dem sie das Boot schieben und lenken. Zwei grauhaarige Männer, vier Arme, die Strömung. Das Wasser ist flach, man sieht bis auf den Grund, mit den Bojen haben sie eine Strecke abgesteckt, es kommt nicht so richtig in flüssige Bewegung, was sie da tun, sie kämpfen und mühen sich und lachen, die Kurven müssen sie noch üben. Immer wieder bleiben Menschen am Ufer stehen und schauen ihnen zu, die Hand an der Stirn gegen die Sonne oder auch nur das Licht, wenn man schaut, steht man gerne so, dann sehen auch die anderen, dass man schaut und vielleicht nicht gestört werden will dabei. Überall fliegende Käfer.

Milchstraßensystem.

Jet

Entbündelung als Aufgabe erkennen. Nicht einmal als Entwirrung verstehen (denn es muss ja nicht alles ungeordnet und verwirrt sein, was kompakt ineinander liegt). Sondern eher als Prozess des Platz Schaffens betrachten, als Entzerrung und Setzkasten. Ein Akt für mehr Linigkeit (denn ob gerade oder gekreuzt spielt dabei erst einmal keine Rolle, es geht vor allem um den Abstand zwischen den Dingen, um Luft und Bewegungsfreiheit). Wieder (mehr, neue, andere, bestehende) Zusammenhänge identifizieren und damit die Episodenhaftigkeit abschütteln, das Würfeln abschütteln. Und sowieso weniger Sollbruch. Stattdessen: Wollbruch und Prävention.

Alles aufreihen, allem erst einmal Raum lassen und dann schauen, ob es funktioniert, allem einen einzelnen Platz zu geben (denn Platz büßt ja im Gegensatz zu Raum schon irgendwo an Dimensionalität ein und wenn man sich dafür entscheidet, dann soll es doch bitteschön passen, gut aussehen, sich so anfühlen, als wäre es keine Einbuße sondern zumindest ein Gleichbleiben, es muss ja auch nicht sofort alles messbarer Zugewinn sein, die Unveränderlichkeit von Dingen ist so rar geworden, dass man auch sie manchmal ins Museum stellen möchte, aufpieken und in einen Glaskasten legen). Jedenfalls: Allem Raum geben, dem, was war, was ist, was kommen kann. Und dann erst entscheiden, was überdauernd (und noch immer) oder überraschend neu zusammengehört. Denn Zeit vergeht, und mit ihr Perspektiven. Nichts ist ohne Arbeit gültig für immer.