Zürich VII
Das Licht des Sommeranfangs legt sich auf den See wie eine Hand auf warme Haut, die sie zwar kennt, aber noch nicht ganz so lange. Am frühen Abend noch hell und etwas plötzlich, aber man kann schon ahnen, wann die Nacht kommt, wie sie wird und dass die Stimmen dann kurz noch etwas lauter werden vor Euphorie und Oxytocin. Auf dem Bellevue so viele Hinterköpfe, denn sie übertragen den Rigoletto in neuer Inszenierung, der Herr mit dem grauen Haar vor mir wippt mit und man erkennt an seiner Bewegung, dass er, wäre er allein, vielleicht ausschweifender wäre, vielleicht lauter summen würde. Hier sitzen sie dicht an dicht, die blauen Klappstühle kann man kaufen (sie kommen in handlichen Taschen zum über die Schulter werfen), und so sitzen sie alle und lauschen (sie lauschen wirklich, nur an den Rändern des Platzes, wo man steht, wird geredet zwischendurch, aber auch das leise), manche haben sich Decken mitgebracht, viele Hüte, dazwischen immer wieder ein paar ausgezogene High Heels auf dem Valser Quarzit. Bei der einen Arie bewegt der Herr die Hände in den Hosentaschen, die Fersen hebt er im Takt, ob er dirigiert oder mitspielt oder ob genau so wirkliches Lauschen geht, vermag ich nicht zu sagen.
In Zürich kann man von der einen Sekunde auf die andere allein sein. Aus dem größten Trubel heraus genügen manchmal schon zwei, drei Schritte und alles ist wieder still, niemand bleibt zurück, nur Fensterläden und gelbe Fahrbahnmarkierungen und Malven, überall Malven an den Straßenrändern. Und das helle Chopfab passt in diesen Abend, weil es hinten nach genau diesem Licht schmeckt, das am späteren Abend neben den nackten Füßen und dem Klirren der Gläser liegt. Wir fallen nach dem Spiel aus der Nebenstraße wieder ans Ufer, und hier drüben ist es laut, die Jugend hat sich versammelt und liegt und hockt neben den Wasserpfeifen, es pfeift und lacht und kreischt an jeder Bank, wir laufen Slalom um die kleinen Grüppchen, ich verstehe keine Wort, aber die Gesten kenne ich noch, die zurückgeworfenen Köpfe, die zusammengesteckten, die nach innen gedrehten Füße und die Artikulation, die man dann ja auch noch für sich finden muss neben dem ganzen Rest.
Am Fluss wird um Mitternacht getanzt, die Käfer sammeln sich beim Licht. Die Betonstufen sind noch warm vom Tag und man kann die Augen schließen und kurz aufhören zu existieren zwischen all denen, die sich hier auskennen, die nicht drauf achten müssen, auf etwas zu achten, man kann sitzen und nicht gesehen werden und vielleicht noch ein Bier trinken und sich vorstellen, so könnte der Sommer sein und bleiben, es aber nicht aussprechen sondern nur kurz denken und dann weiter beobachten. Über uns flattern bunte Bänder im Wind, den man erst spürt, wenn man aufsteht, um sich zu strecken und nach Hause zu finden. Am Sonntag gibt vielleicht keinen ruhigeren Ort in der Stadt als die eine Wiese auf dem Friedhof Sihlfeld, und wir laufen neben den geordneten Gräbern, deren Steine alle dieselbe Höhe haben, auch die Kreuze sehen beinahe gleich aus, Quadrat an Quadrat und die verrückteren Steine außer der Norm stehen hinten auf einer eigenen Fläche. Unter manchen Bäumen darf das Gras wachsen, dort legt es sich schräg und man sieht, von wo meistens das Wetter kommt, ein Baby lernt stehen. Was passiert eigentlich mit Namen, wenn sie niemand mehr vergibt?
Als ich zurückkomme nach Berlin, ist es 15 Grad kälter, aber auf der anderen Straßenseite ein paar Meter nach links stehen rosa Malven. Mir fehlt auch das i an den Worten.