Wirst du erwachsen, wenn du verlierst, oder kommst du zurück zu dem Kind, das du warst?
Wenn jemand stirbt, sucht man meistens nach den richtigen Worten. Weil man denkt, immer wenn es Irritationen gibt, müsse man etwas sagen. Wir sind das gewöhnt, also dass man etwas sagen muss in den meisten Fällen. Wobei ich glaube, im Verlust ist es am wichtigsten, für einen Moment wortlos und einfach nur zu sein, zu spüren, was fehlt, zu sehen, dass es ein Loch gibt, einen Krater und Nebel. Wenn einem jemand davon stirbt, wenn jemand unwiderruflich geht, kann man oft nicht sprechen, wenn es einem selbst passiert, man kann nur schauen und fühlen und manchmal schreien, aber das sind keine Worte. Im Verlust steckt die ureigene Existenz, weil ja immer noch etwas übrig bleibt, nämlich man selbst, und manchmal auch noch etwas vom anderen, vor allem aber man selbst und nur das.
Und wenn man sieht, wie jemand verliert, einen Verlust durchmacht, denkt man immer, es gäbe etwas zu sagen, man spürt einen Druck und ein Pflichtgefühl, man denkt, es gäbe eine Hilfe, die per Wort zu geben wäre, ja, man hofft sogar, dass Worte etwas besser machen können, weil man in der Beobachtung so hilflos ist, weil man es so schlecht aushält, jemanden leiden zu sehen. Am Ende dient das Wort des Beobachters zuallererst auch der eigenen Erleichterung, denn die Schwierigkeit besteht im Grunde darin, zu schweigen. Auszuhalten, dass man sieht, wie sich jemand quält und leidet und vermisst und Schmerzen hat, auszuhalten, dass es keine Hilfe gibt außer da zu sein und abzuwarten und hier und da zu funktionieren ohne etwas in Frage zu stellen.
Im direkten Verlust gibt es keinen Verstand und keine Logik, es gibt keine Vorstellung davon, wie sich die nächste Minute anfühlen wird und die danach und die danach. Es gibt ein Entsetzen darüber, wie die Welt einfach weitermacht, wie der ganze Rest nichts vermutet von dem, was einem gerade passiert, und plötzlich gibt es ein Unvermögen teilzunehmen, wie man es vor dem Verlust getan hat. Dazu gibt es eine Ahnung davon, dass dies eines der Gefühle ist und diese Tage eine Zeit, an die man sich noch lange erinnern wird. Im unmittelbaren Verlust wird die Veränderung spürbar, denn mit einem passiert etwas, direkt danach weiß man, dass man von nun an Farben anders sieht und Musik anders hört und man bemerkt die klebrigen Erinnerungen, die von nun an grell flimmern.
Es wird eine Weile dauern, sich daran zu gewöhnen. Das Flackern wird nachlassen, aber das weiß man noch nicht.
Kommentare
Ich weiß so so sehr, wovon du sprichst. Leider.
Habe ebenfalls darüber geschrieben, in anderen Worten aber ähnlichen Gedanken. Falls du es lesen magst: http://zerschmetterlinge.blogsport.de/2012/01/30/zerschmettere-die-gegenwart-mit-nur-einem-einzigen-wort/
Ich wünsche dir viel Kraft…
…ich liebe deine bilder!!!
als ich vor dem sarg meiner verstorbenen oma weinte, fragte mich mein 5-jähriger junge besorgt, papa, warum weinst du? ich antwortete ihm, weil ich so traurig bin. nichts hat mich mehr getröstet als seine frage und die sorge, die aus ihr sprach.
worte können kraft und trost spenden und sie tun dies wohl eher als schweigen, wenn es erstarren ist, gestenloses zurückziehen in sprachlosigkeit.
der onkel stirbt und ich umarme den cousin, den ich nach langen stummen jahren am sarg des vaters wieder sehe, lang und wortlos, weil das jahrelange schweigen mich zaghaft machte, wir halten uns lange zeit, er schluchzt und endlich lösen wir uns, als er danke, danke dir sagt. ist gut, ist gut, gebe ich zurück, und wir sind zurück im gemeinsamen leben.
als mein engster freund mich anruft und vor tränen kaum sprechen kann, leo ist gestorben, fahre ich zu ihm. gedanken jagen wirr durch meinen kopf, fetzen, ohne zu sätzen zu werden, was ist passiert, um zu begreifen, dass ein kind gestorben ist, das gestern im karussell noch neben dir saß, dessen lachen noch nachklingt, was braucht es da noch, dieses gehirn in mir? wir sitzen stundenlang, weinen und sprechen, erinnern, hören zu, weinen wieder, es tut weh, und wir sagen das auch, wir schweigen und sprechen, weinen, schweigen, sprechen. und wenn wir heute am friedhofstor vorbeiradeln, winkt er über die mauer
Liebe Elisabeth,
was ich an Deinen Texten schätze: die Zartheit des sich Näherns, das Fragen, die Häufung von kreisenden Gedanken, ohne zu überladen, das Freilegen ohne an ein Ende zu gelangen, zu entblößen und zu präsentieren: hier ist sie: meine einzig wahre Sicht der Dinge.
Diese heutige Text weicht davon ab. Er behauptet. Er zweifelt nicht, er fragt nicht. Er stellt eine Regel auf. Da klingt etwas Uneigentliches, das dumpfe Man hebt den Kopf, das wird bei alten Männern gern zum Zeigefinger.
Es ist gefährlich, vom Schweigen zu sprechen, soll das sprachlich angemessen geschehen, gerät das Sprechen schnell in die Falle der Aporie. Man kann sprechen, man kann schweigen. Ich glaube aber, dass im Verlust das Schweigen einzig hilft, wenn in ihm tausend Worte mitschweigen, das Ungesagte mitgedacht, gefühlt, empfunden wird. Dass Schweigen tröstet, weil aus ihm Sprechen möglich wird. oder?
Ich freu mich auf weitere Fragen.
(Entschuldige die gehaspelten 3 Kommentare, die einer werden sollten, ich schreibe dies morgens, das Gerät hier und die kleinen Tasten rufen Fehler und Fehleingaben hervor.)
Ich lese hier noch nicht lange und nur sporadisch, aber ich moechte trotzdem sagen, dass Sie, sehr geehrte Blog-Inhaberin, um ihre Leser / Kommentatoren zu beneiden sind. Selten habe ich so tiefgehende Gedanken in der Kommentarsparte auflesen koennen.
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