Nicht weniger als das

Auf dem Weg zum Wahllokal muss ich erst am Berlin-Marathon vorbei. Die Menschen sind nass, irgendwas zwischen Regen und Schweiß, die Luft ist feucht. Am Rand stehen ein paar Zuschauer. Und wie jedes Mal versuche ich auf dem Weg zum Wahllokal alles wahrzunehmen, den Moment zu nutzen, um nicht nur nebenbei oder routiniert über Privilegien und Errungenschaften nachzudenken, darüber, wie ich mir die Zukunft wünsche, und mit mir wünschen meine ich vor allem, wie ich sie mir vorstelle, eben nicht nur für mich. Und dann warte ich am Straßenrand, während die Menschen vorbei japsen, und man könnte auch das jetzt noch einmal von schräg oben betrachten und direkt ein Symbol daraus machen, aber es ist nicht das Schlechteste, kurz vor dem Wählen noch einmal ein paar Menschen zu sehen, ganz unterschiedliche, und wie sie miteinander vorwärts laufen, während andere am Rand stehen und ihnen Getränke hinhalten, sie umarmen oder anfeuern. Der Rest von Kreuzberg liegt verschlafen in der Gegend herum, das kleine Hinweisschild vor dem Wahllokal ist voller Matsch. Im Hinterhof dann Holzstufen, die nach unten ins Souterrain führen, ein Mensch vom polnischen Radio fängt jene ab, die schon gewählt haben und fragt sie, warum das ein besonderer Tag für Deutschland ist. Daneben warten zwei, Kinder springen herum, man lächelt einander an. Der ältere Herr vor mir beobachtet ganz genau, wer so kommt, und freut sich, tippelt ungeduldig vom einen Bein aufs andere, beginnt Gespräche mit den Wartenden. „Es ist doch so toll, dass wir wählen können“, sagt er und ich wehre mich nicht gegen Gänsehaut. Er bedankt sich auch bei den Wahlhelfern, bei jedem einzelnen, für die Unterstützung. Über dem Eingang zum Wahllokal hängt eine tropfende Girlande aus Wimpeln, eher aus Versehen, drinnen die Berlin-, Deutschland- und Europaflagge.

Am Morgen schickte mir meine Mutter ein Foto, ich bin ungefähr 3 Jahre alt, sie müsste demnach auf dem Bild 21 Jahre alt sein. Und sie hätte dieses Bild von uns beiden an keinem besseren Tag als heute schicken können, weil wir uns nicht nur an Wahltagen beieinander bedanken, fürs Dasein, fürs Durchhalten, aber dann eben auch. Meine Familie lebte in der DDR, ich glücklicherweise nur fünf Jahre lang, eingeschult wurde ich erst nach der Wende. Aber die Repression und Gewalt dieses Staates hatten einen großen Einfluss auf unser Leben, manche Traumata aus dieser Zeit halten bis heute. Ich wünsche uns eine Zukunft, in der Demokratie und Freiheit, Solidarität und Diversität, Respekt, Unterstützung und Solidarität eine große Rolle spielen, eine Zukunft, in der wir anerkennen, was wir haben, und es mit denen teilen, die nicht so privilegiert sind, eine Gesellschaft, in der jeder lieben und leben darf, wen und wie er oder sie will, in der wir integrieren statt auszusortieren, in der wir mit Unterstützung agieren statt Ängste zu schüren, in der wir Kompromisse finden statt zynisch und hart zu werden. Ich wünsche uns eine Gesellschaft, in der wir – statt unsere Hornhaut zu trainieren – weich miteinander bleiben.