Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Tag: Trauer

C’est par ici.

In den jungen, rauschenden Jahren denkt man bei jedem großen Verlust, mitunter bei jedem Tod, der einem begegnet: „Das erlebe nur ich“. Eine Dekade später fragt man sich: Wie kann denn jemand das noch nie erlebt haben? Nun werden die Unversehrten zur Ausnahme. Was sich darin spiegelt: ihre Einsamkeit. Und direkt daneben der Trost einer gemeinsamen Schmerzerfahrung, die zwar nicht gemeinsam erlebt, aber dennoch gemeinsam erinnert und verarbeitet wurde, der Trost, den man sich früher nicht hatte vorstellen können, im Leben nicht. Diejenigen mit den Brüchen erkennen einander. Man begreift sich in den ersten Minuten einer Begegnung.

Der Wendepunkt jedoch, der von hier zu da, von Abgrenzung zu Umarmung, von deiner zu unserer Biografie ist nur schwer auszumachen. Es könnte sein, dass es ihn gar nicht gibt und man unterwegs in den Kurven nur den Split von der Straße fegt, der sich unten im Tal zu einem Hügel zusammenrollt. Niemand weiß, wer das war und wann und mit wem. Aber das Grundstück ist schon verkauft, deswegen interessiert es niemanden mehr und die zukünftigen Besitzer werden es nicht besser gewusst haben, die kennen kein früher, und wenn, dann nur eines von vergilbtem Papier oder Dateien ohne Namen. Die Lebhaftigkeit von Interesse und Vorstellungskraft, wenn einem jemand so etwas zeigt (meist auch mit sichtbarer Erwartung in den Augenbrauen), hält sich in Grenzen.

In diesem Alter dann, wenn man das erste oder zweite Mal darüber nachdenkt, ob es eine realistische Option wäre, eine Immobilie zu erwerben, versteht man auch, dass es nur sehr selten im Leben um einen Abschluss geht, um ein wirkliches Hintersichlassen (man wird auch in diesem Alter die korrekte Schreibweise des Ausdrucks noch nicht kennen), sondern dass es in den meisten Fällen um ein Weitermachen trotz aller Umstände geht. Als wir durch den Wald am Wannsee spazieren gehen, es ist Sonntag, sagt P.: „Nichts ist sicher. Das war noch nie der Fall. Man vergisst das nur ab und an.“ Das mit dem Vergessen kann also passieren. In den meisten Fällen tauchen die Dinge, Erinnertes, die wichtigen Sätze dann irgendwann an anderer Stelle wieder auf (ob man sie wiedererkennt, wird hier offengelassen). Das Erlebte zu internalisieren, einen Ort dafür zu finden, der einem nicht zu nahe liegt, also trotz allem, und dann weiterzumachen, immer noch und wieder, das ist die Aufgabe. Nicht Auflösung. Erlebtes verdunstet nicht oder zerfällt.

Antrag auf Verlängerung

„Dieses Gefühl ist bei uns nicht gemeldet.“
– „Ich weiß, aber es verschwindet nicht und ich dachte, ich frage mal, ob Sie vielleicht wissen…“
„Ich? Woher soll ich das denn wissen? Aber warten Sie, lassen Sie mich mal nachschauen.“
– „Was schauen Sie denn?“
„Na, wie wir das kategorisieren können. Sonst gibt’s keinen Antrag.“
– „Antrag?“
„Na auf Einbürgerung.“
– „Äh.“
„Oder isset nur auf Urlaub?“
– „Ich weiß nicht so recht. Gerade sieht es nicht so aus. Es hat schon seine Sachen ausgepackt, die liegen überall rum.“
„Ah ja, dit hilft ja schon mal. Sonst habense keine weiteren Hintergrundinformationen?“
– „Nicht so wirklich.
„Glaubense, dit is Wut?“
– „Manchmal.“
„Manchmal manchmal, ’n Formular für manchmal ham wa leider nich.“
– „Entschuldigung. Vielleicht gehen wir dann doch einfach besser wieder.“
„Nee nee, jetzt hauense ma nich ab, das Gefühl bleibt hier schön sitzen, wir haben uns das ja noch gar nicht genau angesehen.“
– „Okay.“
„Hat auch wat von Traurigkeit. Guckense ma.“
– „Schon.“
„Jetzt guckense halt hin.“
– „ICH GUCK DOCH, ICH MACHE NICHTS ANDERES DEN GANZEN TAG.“
„Nun werdense ma nich frech. Ich glaube, dat is Gefühl 47b.“
– „Kann das was?“
„Na sagen wa ma so. Wenn dat übermorgen noch da is, müssense nochmal kommen. Ansonsten erledigt sich das von selbst.“
– „Aber wieso sollte es gerade jetzt verschw-“
„Ich würde mal sagen, ich schicke Sie jetzt damit zu meiner Kollegin, die kann Ihnen bestimmt helfen, 47b ist nun wirklich nicht meine Abteilung, dafür bin ich nicht zuständig. Alles Changierende machen Sie bitte mit meiner Kollegin aus.“
– „Aber die hat mich doch zu Ihnen gesch-“
„Die Nächste bitte.“

Was man in Trauer lernt: Gefühlsbürokratie aushalten.