Fast 500

Bis jetzt sind es in Deutschland über 19.000 Menschen, die an Corona gestorben sind. Die meisten von ihnen vermutlich allein. An vielen hängt eine Familie, vielleicht Freunde, manchen hinterlassen niemanden, aber dennoch ein Leben. Es macht mich in diesen Tagen abwechselnd sprachlos und in dem Sinne wütend, dass mir die Wut in die Glieder fährt. Eventuell kotze ich dem nächsten, der mir sagt, wir hätten doch noch genügend freie Intensivbetten, einfach vor die Füße. Vielleicht auf die Schuhe. Vielleicht auf den Pullover. Ich will immer sagen, die sollen auch frei bleiben, du willst da nicht hin, Kollege, du willst da wirklich nicht hin, denn wenn du da bist, dann ist es scheiße, nicht nur für dich, sondern für alle Beteiligten, wenn du da bist, ist die Kacke richtig am Dampfen, wenn du da liegst, siehst du das vermutlich anders, aber dann ist es zu spät, denn dann ist dein Bett nicht mehr frei. Mir geht es um den einen Millimeter den man die Seele weiter bewegen muss, aus sich selbst heraus an den Punkt, wo sie das Drumherum berühren kann, dort fühlt man, dass es nicht immer nur um einen selbst geht.

Die Geschichten der Kranken und Sterbenden und Toten werden selten erzählt. Denn die, die sie erzählen könnten, die haben keine Lobby, sondern etwas zu tun. Die versorgen, pflegen, operieren, die sind müde, die können nicht geradeaus gucken, die müssen irgendwie durchhalten, oder sie trauern. Und können dann eben in den meisten Fällen nicht einfach einen erfolgreichen Aufmacher schreiben, der auch noch hübsch bebildert und gut bezahlt ist. Die haben keine Kraft und keinen Nerv für sorgsam aufbereitete Tweets, Anträge, Gespräche, Hotlines, Pitches, die haben kein Publikum, und man stelle sich allein die Ruhe vor, die es braucht, um sich hinzusetzen und die Überwindung zu finden, das Innerste nach Außen zu kehren. Und die, die das gerade können, diejenigen, die Kapazitäten haben, die haben da mitunter eine Extraportion Energie und Lautstärke gefunden, die nicht alle geschickt bekommen. Es schreiben ja nur die, die gerade wirklich können. Und das sind nicht viele.

Is richtig, liest ja auch keiner gern, solche Geschichten. Ist unangenehm. Von Trauernden wendet man sich ab, weil sie einem zeigen, was sein könnte. Weil es weh tut zu sehen, dass jemand aushalten muss, was kaum auszuhalten ist, während man selbst dann auch noch aushalten muss, dass man nichts daran ändern kann. Das ist die schwerste aller Begleitungen. Aber die, die sich viele wünschen. Die, die anerkennt, wie schlimm und scheiße das ist. Die, die neben einem sitzen bleibt ohne auf die Uhr zu sehen. Die, die nicht versucht, das, was ist, zu ändern. Die, die nicht fragt: „Ist’s jetzt vorbei? Können wir weitermachen?“

Diese Geschichten sind oft die, bei denen man sich sagt „Ja, das müsste ich mal lesen, mach ich am Wochenende“ und sie auf den Stapel legt und irgendwann wegwirft. Weil es einem zwischen die Rippen zischen würde, sich zu jeder Ziffer ein Gesicht vorzustellen und einen Namen und ein Bett und ein Umfeld und Wunschlisten und Sockenpaare und Unverträglichkeiten und Sofakissen und eine Cornflakesschüssel und Zimmerpflanzen und Haargummis und Streitereien und Lieblingsbücher und Kühlschränke und Profilbilder und Wollmützen und große und kleine Lieben und Schluckauf.