Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Tag: Sophia Hembeck

Everything you say has water under it

Der Klee auf dem Fensterbrett erinnert mich jeden Morgen an eine Frisur, durch die eine unsichtbare Hand fährt.

Ich hab gesehen, wie er mich umarmen wollte, seine Arme haben kurz gezuckt, seine Augen gegrinst, auf der Schaukel, aber er hat sich zurückgehalten, er weiß, er darf das nicht. Und ich frage mich, in welchen Facetten man spürt, wie einem das Leben davonrinnt, während man in diesem kleinen Garten auf und ab geht, um den Rasensprenger herum, mit festen Essenzeiten, mit dem immer selben Ausblick, wie steckt man diese Gewöhnung ab als das, was jetzt für immer ist?

Am Halleschen Tor liegt ein Mann auf dem Boden, eine Polizistin und ein Polizist knien über ihm, ich höre die Polizeisirenen, ein großes und ein kleines Polizeiauto halten vorne an der Ecke zur Wilhelmstraße und es springen vielleicht acht bis zehn Beamt_innen heraus und rennen in eine Richtung, ich bekomme Gänsehaut, drehe mich um, sehe nur noch die dunklen, rennenden Hosen und den Mann nicht mehr. Die Ampel schaltet auf Grün, die Autos fahren los, ich halte an der Seite und schiebe ein Stück.

Als ich mit S. vor dem Café sitze, stellen wir im Gespräch fest, über wie viel es immer noch entsetzt zu sein gilt und sich zu empören. Man wird so müde davon, aber noch träger wird alles, wenn wir damit aufhören. Wenn wir es nicht mehr besser machen wollen als die vor und neben uns. Ich bemerke in den kleinen Momenten immer wieder die Schieflagen, über die großen kann man sich gebührend laut auslassen, knifflig wird es dort, wo wir mit Gefühlen argumentieren und mit einer Erfahrungswelt, die zum Beispiel Männer häufig nicht nachvollziehen können, weil sie bestimmte Dinge einfach nie erlebt oder nicht einmal gesehen haben. An der Stelle muss man sich immer wieder selbst überwinden und hintragen zu dem Punkt, an dem man trotzdem etwas sagt, nachfragt, erforscht, was passiert, wenn man anspricht, was man evtl. nicht mit siebenhundert Fakten belegen, aber dennoch mit einem unguten Gefühl bezeugen kann. Denn so, glaube ich, funktioniert die Annäherung an etwas, das sich ändern muss, und an das Ziel dieser Änderung. Meine Erfahrung ist, dass ich mich besonders an die Momente und Begegnungen erinnere, in denen ich Unbehagen geäußert habe und es angenommen wurde, von manchen sogar umarmt, also die Äußerung und die damit verbundenen Konsequenzen. „Dabei sollte das doch eigentlich normal sein“, sagte K. neulich auf meinem Sofa, aber das ist eben noch nicht. Die gleichberechtigte Aufteilung, die Augenhöhe, der Raum, den zwei Menschen zwischen sich ausmachen und immer wieder neu verhandeln müssen, um das Vertrauen sanft zu jonglieren, das ist anstrengend, aber wenn man einmal damit angefangen hat, ist es auch schwer, wieder damit aufzuhören und wegzusehen, weil die Dinge, die geschafft wurden, so wertvoll sind und die Lebens- und Beziehungsqualität dramatisch verbessern, auch wenn sich vielleicht alle erst einmal dran gewöhnen müssen und Muster verlernen. Deswegen empfehle ich Patricias Buch auch kinderlosen Menschen in Beziehungen und familienähnlichen Konstrukten, Menschen, die in enger Verbindung mit anderen leben. Wir denken ja häufig, sowas betrifft uns doch nicht. Wir haben häufig unrecht.

I could make plans. I can make plans. Again. Cautious little ones, that are flexible like the Scottish weather. But still all in all plans. Visions of future days. Buying a new bathing suit or a hammock for my garden. I can allow myself to long for things. To yearn. To miss.“ Lest Sophias Newsletter „The Muse“.

Ich finde es immer noch erstaunlich, dass sich „Boxer“ von The National als Album für bestimmte Tage, eher für die grauen, immer noch nicht abgenutzt hat. Wenn ich es lange nicht gehört habe, sehe ich es an wie etwas, dass man vor Benutzung erst einmal abstauben muss (was meistens nicht stimmt, da man eingestaubte Dinge meistens auch benutzen kann ohne sie zuvor zu reinigen). Und wenn ich es dann höre, vergesse ich auf der Stelle jeden Grund, den es geben könnte, es wieder so lange liegen zu lassen, weil es sich wie ein bestimmter Lichteinfall sofort über alles legt, sodass ich mich wieder zurechtfinde.

Es gibt nur wenig richtige Düfte für einen Brief.

Flugmodus

Unser Flugzeug fährt langsam an gefrorenem Gras vorbei. An hellgrauen Fasern vor Schwarz. Dazwischen ein wenig besprenkeltes Beige der Start- und Landebahn, oder dem Zubringer. Ich glaube, wir sind noch auf dem Zubringer, wie der korrekt heißt, weiß ich nicht, aber ich halte Ausschau nach kleinen Mäuseaugen. Ich höre immer dasselbe Lied, seitdem ich wieder fliegen kann. Zum Start und zur Landung. Manchmal, wenn das Lied zufällig gespielt wird und ich mich nicht in einem Flugzeug befinde, bilde ich mir ein die Vibration zu spüren, den Druck hinter der Stirn. Fake Empire von The National. Als die Panik noch da war, versuchte ich, mich mit dem Nachahmen des Klaviers abzulenken. Es ist ja so, dass 55% der Passagiere angeblich während eines Flugs stärkere Gefühle erleben als außerhalb eines Flugzeugs. So sagt es zumindest die Auswertung einer Studie von United Airlines. Die eine Begründung liegt im verminderten Sauerstoffgehalt in der Luft, damit schwinde das Urteilsvermögen. Die anderen sagen, es habe mit der Flughöhe, dem begrenzten Raum und den darin befindlichen fremden Menschen zu tun.

Bei Fake Empire spielt jede Hand einen anderen Takt, Dreiviertel gegen Vierviertel. Aber auch ohne Panik und mit wenig Übung wird man davon auf Dauer verrückt und wenn jemand im Flugzeug neben einem sitzt und sieht, wie man sich selbst auf den Oberschenkeln herum drückt, während man seltsam atmet, wird Panik mitunter ansteckend und Panik in Startsituationen bei mehr als einer anwesenden Person kann niemand gebrauchen. Ich fliege gern, seitdem die Panik weg ist. Am liebsten nachts. Auch wenn es immer ein bisschen zu warm ist. Wenn der Horizont sich schief legt, setzt das Schlagzeug ein, unter uns die Glühwürmchenstadt, ein paar Raketen fliegen schon, den Rest brennen sie in zwei Stunden ab, ich fliege so früh, wie ich muss und so spät, wie ich kann. We’re half awake in a fake empire.

Mittlerweile kann ich in der Luft sehr gut schreiben: Abhandlungen, Vorträge, Gebrauchsanleitungen für Dinge, die keine Gebrauchsanleitung haben, Packungsbeilagen, Liebesbriefe, Randnotizen. Es ist ganz gleich, was man mir aufträgt, hier oben, nachts, da geht’s, in diesem verdrehten Licht, in dem die Menschen sich halbwegs leise ihre Aufregung weg- und die roten Wangen antrinken. Es ist der 31. Dezember. Die meisten hier haben Pläne, da ist der Weg nur der Weg und kein Ziel. Die beste Zeit ist, wenn sie dann irgendwann schlafen, das flugbegleitende Personal schnauft durch, schaut sich mit entspannteren Blicken an, legt sich selbst und die Gesten kurz ab. Man kommt meistens nicht drumherum den Menschen hier oben beim Schlafen zuzusehen, dennoch versuche ich, den Blick zu senken, niemand wird gern im Schlaf beobachtet, das ist auch so eine unrealistische Sache aus Filmen, da schauen die einen den anderen beim Schlafen zu und beide finden das meistens super, die Zuschauenden lächeln debil, diejenigen, die beobachtet werden, wachen auf und finden es nicht seltsam angestarrt zu werden, selten erschrickt jemand, die im Film Schlafenden wachen meistens sanft auf, niemand schreckt hoch, sie schauen wenig verdrießlich in die Welt und das Gesicht ihres Bettnachbarn hinein.

Ich schlafe außerhalb des Flugzeugs gern auf dem Bauch, das macht es schwerer beobachtet zu werden, der Welt den Rücken kehren und dann mit Kopfkissenstreifen im Gesicht aufwachen, es dauert meist ein paar Stunden, bis die Haut sich in den ursprünglichen Zustand zurückgeplustert hat. Die Kopfkissenstreifen auf der Wange sind auch im Flugzeug sehr kleidsam, ich mag, wenn man Menschen ansieht, dass sie sich gerade erst entfaltet haben. Als würde der Tag sich langsam in den Wangen ausbreiten, sich den Platz verschaffen, den er in der Nacht nicht gebraucht hat.

Nachts, wenn hier oben alle schlafen und einander nur anexistieren, bin ich neben einem Büro auch eine sehr gute Beraterin für alle Lebenslagen, ich beantworte im Stillen alle Fragen, die nicht gestellt werden, ich stehe mit Rat und Tat denen zur Seite, die mich nicht brauchen, ich habe keine Aufgabe, ich weiß hier oben wirklich alles, wissen Sie, was ich nicht wirklich wissen muss. Hier oben kann ich jede sein und niemand, es gibt keinen Abgleich, nur vorgegebene Prozedere, geübte Sätze und ein bisschen Überbrückungszeit. Das Flugzeug ist ein guter Ort, um von einem Jahr ins nächste zu kommen, es gibt keine Knaller oder Raketen, sondern nur ein paar nette Worte vom Menschen, der das Flugzeug fliegt, oder dem Menschen daneben. Einer von beiden sagt dann, dass sie alles im Griff haben, das ist ein schöner Satz vor einem neuen Jahr, ein schöner Satz, um sich zu verabschieden, es gibt einen Sekt aufs Haus und fünf Minuten später ist wieder Ruhe.

Niemand sucht ein Taxi, niemand ist enttäuscht, weil irgendjemand nicht pünktlich war oder keine SMS geschrieben hat, oder doch eine SMS geschrieben hat, aber mit den falschen Worten, niemand klaut heimlich die Weintrauben von den Käsespießen, niemand hat zu spät auf den Auslöser gedrückt, niemand kleckert auf den Teppich, niemand reißt sich zusammen aus Komplex, sondern vor allem weil alles andere nicht angemessen wäre. Hier oben fragt niemand, ob man noch was mitbringen soll, wo denn Tina und Martin bleiben, ob es noch ein +1 gibt, ob wir dann jetzt bald mal spielen, ob wir runtergehen oder das Feuerwerk vom Balkon aus anschauen, wo der Handfeger ist. Hier will niemand Drogen kaufen, nur selten sitzt jemand kotzend im Gang, und wenn doch, ist sehr schnell eine Tüte zur Stelle, niemand gießt Blei und erkennt nichts darin, niemand sagt, Wachs sei das neue Blei, niemand hört mit dem Rauchen auf, weil eh keiner rauchen darf, niemand ist um zwölf alleiner als die anderen, niemand kämpft mit den Wunderkerzen und niemand hat Angst, die Kuchenform zu vergessen. Niemand fragt, ob man nicht doch noch was trinken wolle, nur ein Gläschen, ach komm. Niemand tanzt. Niemand bleibt in der Ecke stehen, weil er sich nicht traut zu tanzen. Niemand probiert durchzukommen, niemand schreit ins Telefon, niemand legt auf, auch nicht zu früh.

Das Essen und die Getränke werden in winzigen Gefäßen gereicht, niemand fällt ins Buffet und wenn doch, dann bekommt es niemand mit. Alles hier oben wird auf seine elementare Winzigkeit herunter komprimiert, der Komfort, die Berührungen, die Kommunikation, die Ansprüche. Sitz, Tasche, Fenster, Ablage, alles ist kipp-, verschließ- und klappbar. Die Bibliothek besteht aus einer Anleitung zum Überleben. Es werden Chipstüten mit 15 Gramm Inhalt gereicht, vorne drauf ist das Foto eines Piloten zu sehen, der auch eine Pilotin sein könnte, das ist das Gute am Dämmerlicht, außerdem zu sehen sind ein Hund und ein Segelflugzeug. Irgendwann in ein paar Jahren werden sie die Kartoffelscheiben einzeln laminieren, weil sich irgendjemand nicht die Finger schmutzig machen will an frittiertem Gemüse irgendwo über dem Ozean.

J. erklärte mir neulich, dass wir einander oder die Dinge um uns herum nie berühren, das, was wir spüren, sei nur die Abstoßungskraft der Atome. Die Atome selbst kämen nie in direkten Kontakt. Das macht Sinn, denke ich, und erklärt einiges. Zwischen uns und allem in der Welt ist immer noch Platz, wir können uns nah sein, aber mehr wirklich nie. Ob das den Sekunden und Minuten genauso geht? Dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig. Null Uhr. Null Uhr eins. Unter uns leuchtender Plankton. Alles wie immer.


Dieser Text ist eine neue, längere Version dieses Textes hier. Und ich durfte ihn am 23.04.2019 in der Buchbox in Berlin bei der Buchpräsentation und Lesung von Sophia Hembeck vorlesen, für deren Einladung ich mich auch hier noch einmal sehr herzlich bedanke. Andere Autorinnen neben sich selbst auf eine Bühne zu holen, ist nicht selbstverständlich, aber wunderschön.