Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Tag: Sommer

Rollsplit

Gordi singt, während vor meinem Fenster das Wasser vom Himmel fällt, als ginge es um was. Alle Fenster auf und sich mittenrein stellen. Ich merke, das ist eines dieser Dinge, die mir in den letzten drei bis vier Monaten immer mehr fehlen, das sich mittenrein stellen, weil alles so mit Vorsicht belegt ist und Zweifeln und Verantwortung, aber mir fehlt der situative Überschwang, ich brauche das nicht ständig, nicht mehr so wie früher, aber es gibt diesen Moment im Bauch, den man meistens erst hinterher realisiert, in dem man sich entscheidet vollkommen loszulassen, in dem es nicht knackt, sondern rollt, der Fuckitmoment, der Isallesegalmoment, ich vermisse dieses Gefühl wie jemanden, der gerade erst weggezogen ist und von dem man sich einredet, dass man ihn ja noch gar nicht vermissen kann, weil man sich vorgestern ja erst gesehen und angemessen verabschiedet hat und sowieso sei man doch jetzt erwachsen und man könne sich ja anrufen und schreiben, aber für manche Begegnung gibt es kein Substitut und für den Jetztoderniemoment eben auch nicht. (And I am lying about leaking here.)

Es ist ein guter Tag. Ich weiß das schon, als ich ihn von weitem auf der Bank sitzen sehe, er hat sich eine kurze Hose angezogen, seine Hemden sind ihm mittlerweile viel zu lang. Aber heute sind seine Augen wacher, heute benutzt er seine Hände beim Reden, er schaut sich um und sieht nicht aus, als würde er jede Sekunde einschlafen, er isst die Erdbeeren, die ich ihm mitgebracht habe, mit den Fingern direkt aus dem Glas. Kleine roten Flecken an seiner Maske, auf seinem Hemd, auf seiner Hose, aber die interessieren uns nicht. Er regt sich nicht auf, als der Hausmeister den Rasensprenger so stellt, dass wir kurz nass werden, er lacht sogar mit ihm, das passiert mittlerweile nur noch selten. Es ist auch ein Tag, an dem er Fragen stellt. Unser Abschied verläuft in Etappen, heute rasten wir.

„Wie weit entfernt ist nah genug?“ (Thomas Pletzinger, The Great Nowitzki, S. 55)

Das Geräusch der Simson schubst mich für ein paar Ampelphasen in meine Kindheit zurück, aufs Land und den Geruch von trockenem Gras und dem Appetit auf Schnitzel, mir ging damals jedes Zeitgefühl verloren, auch in größerem Umfang, mir schlief schon damals auf dem Roller der Hintern ein, ich wusste nicht mehr, als dass Ferien waren und irgendwann Ende Zwanzig kam dieses Gefühl zurück, ich brauchte nicht mehr tagelang, um die Arbeit und den Alltag loszulassen, mittlerweile kann ich das innerhalb weniger Minuten, in einem Zug, in einem Auto, auf einem Roller, in einer S-Bahn. Mich ausschütteln und bemerken, wie der Wind riecht, und die Augen nach gestreiften Markisen offenhalten, nach Imbissschildern und Vogelstimmen und Falten in fremden Gesichtern, sich erst nach und nach raus bewegen und dann raus sein. Die Stelle am See ist noch fast leer, als wir ankommen, das Ufer ein bisschen schlammig, aber sobald man im Wasser ist, sieht man nur noch die Bäume am anderen Ufer und den Himmel und zwei drei Anleger, der Wald riecht bis hinaus aufs Wasser, sonst sieht man nichts, unter Wasser ist es ganz still und dunkelgrün und hellbraun, kühl und genau richtig und schon beinahe Ende Juni. Danach grabe ich die Füße in den Sand, schließe die Augen und höre Badestellengeräusche, Kinderstimmen, sanftes Stapfen, Plätschern und der Wind schiebt die Bäume hin und her wie alte Bekannte, die Konstante aller Sommer. Am Baum lehnt eine aufblasbare Brezel. Auf dem Rückweg fallen die ersten Tropfen, als wir an der Ampel stehen und kurz darauf biegen wir rechts auf einen kurzgeschorenen Rasen vor einem Kiosk, wir bestellen Pommes und Cola und Fanta. Dann kommt das Gewitter.

T. schickt dieses Lied, das mich ein paar Tage lang begleitet, manchmal weiß man ja auch nicht, welcher Ton das ist, den manches in einem anschlägt.

Als ich den Kaffeeladen betrete, läuft Blister von Jimmy Eat World und der Kaffeemann singt unter seiner Maske mit, ich grinse unter meiner. Wir waren 17 und neben der Razzmatazz von Pale waren die Give Up von The Postal Service und die Clarity unser Soundtrack für die Landstraßen zu den Festivals, für die Abende neben den S-Bahn-Gleisen, für den einen Moment, wenn man sich nur kurz ansah und dann aus verschiedenen Ecken auf die Tanzfläche strömte, für die Nächte, in denen keine Bahn mehr fuhr und man einfach ein, zwei Stunden zu Fuß nach Hause lief ohne zu murren, weil man hatte ja Kopfhörer dabei und Ersatzbatterien, wir hörten diese drei Platten am Rand des Fußballfelds und vor und nach den ersten Katastrophen, die man auch wirklich als solche bezeichnen konnte.

Dieses Jahr schlenkert. Ich spüre, wie sehr ich gefragt bin, mich umzustellen und zu justieren, alle paar Tage neu, vielleicht hat es gar nichts mit dem Gefühl zu tun, sich auf nur wenig verlassen zu können, vielleicht verwechsle ich das manchmal und es geht eigentlich darum, vor allem Erwartungen zurückzuschrauben und dort zu werkeln, wo man kann, und nicht, wo man könnte, vor allem im Heute. Frauenmagazine und Ratgeber propagieren ja gerne, dass man aus jeder Niederlage etwas lernt und schwere Zeiten könnten auch reinigend sein, und in mir sträubt sich dann noch immer meistens etwas, das sagt, jetzt gesteht doch mal Leuten zu, dass es einfach mal scheiße ist, dass nicht alles auf seinen Wert für später hin abgeklopft werden muss und dass Erschöpfung und Angst und Konflikt und Traurigkeit nicht immer auszuwringen sind. Und gleichzeitig empfinde ich Mitgefühl mit jenen, die genau das nicht anerkennen können, weil es vermutlich zu dunkel wäre, weil Aufgeben ja meistens das Schwerste ist, also anzuerkennen, dass etwas wirklich nur um seiner selbst willen und manchmal sogar umsonst existiert, dass es keinen weiteren Sinn hat als beschissen zu sein oder unangenehm oder ermüdend, und woher kommt eigentlich die Erwartung, sowas existiere nicht? Sich in die Kurven legen, während auf meinem Fensterbrett der Mohn blüht.

„Hope is a vulnerable place.“ (The High/Low)

Ich liege auf der Decke, die Kinder klatschen mit ihren nassen Bäuchen auf die Plane und lachen sich kaputt, der Himmel wird erst hellblau, dann dunkelblau, dann gelb an den Rändern, orange und später marmoriert er sich pink. Über uns summen die ersten Nachtinsekten, Flaschen klirren, in den Hochhäusern hinter den Bäumen öffnen sich die ersten Fenster in den Abend, und wie so oft, wenn ich irgendwo bin, wo ich mich vollkommen losgelöst und wohl und geborgen fühle, fällt er mir ein. Ich hätte ihm wirklich gern von alldem erzählt.

Too much pretense here

Abends als ich nach Mitternacht über die leere Wilhelmstraße unter dem vollen Grießbreimond nach Hause fahre, der Sommer ist da, er legt sich mit schwitzenden Armen auf unsere Schultern, als ich da fahre, wünsche ich mir wieder, ich wäre besser, disziplinierter im Auswendiglernen, denn dieses Lied von Kate Tempest ist eines der wenigen Lieder seit langen, das mich jedes Mal beim Hören, also dem richtigen Hören, in dem man nicht viel anderes tut, in dem die Worte und das Klavier der Motor sind und man sich fahren lässt, es ist also eines der wenigen Lieder, das mich zu Tränen rührt. Das Klavier ist gleichzeitig schwer und tragend, fordernd ohne zu drängelnd, selbstbewusst mit genug Raum für die Worte und es legt sich nicht wie der Sommer auf mich drauf, sondern unter mich, unter die Füße, unter die langsamen Schritte, unter das Vorderrad, unter meine Hände, die alles tun, was sie können derzeit, unter meine Augenlider ohne mir Licht zu klauen, ohne die Nacht zu stören, dieses Lied ist alles, was dieser Sommer ist, nicht das, was er sein könnte. Wann hast du das letzte Mal gedacht und in den Handgelenken gespürt, dass das hier unangenehm ist, aber nötig, dass hier anstrengend ist, aber ein dich dehnender Schritt, eine so dringliche Veränderung, die du wahrscheinlich irgendwann, aber erst einmal nicht vergessen wirst, weil sie sich in deine Fasern setzt und nur langsam abgebaut wird? Dieser Sommer will viel und er wird es bekommen, dieser Sommer knarzt, aber so, dass man sich ihm erneut und immer wieder zuwendet, er macht einen Punkt und ich interessiere mich für die Person, die ich sein werde, wenn er vorüber ist. „The days are not days but strange symptoms“.

My word for it.

Home

Und dann machst du an diesem Montag das neue Angus & Julia Stone Album an und musst es fast, aber nur fast wieder ausmachen, weil es dir beinahe, aber nur beinahe die eh zur Zeit im Bauch sitzende Sprache verschlägt, nicht einmal die Töne an sich sondern wie alles zusammen kommt und passt, also diese Lieder zu diesem Sommer, in meinem Ohr klingen sie, als würden sie versuchen, etwas abzuschütteln, einen Fuß vom Boden zu bekommen (und nicht drauf, so wie die meisten, es geht ja immer um Bodenhaftung, aber manchmal, das muss ich euch sagen, da geht es vor allem darum, hoch zu kommen, mit der Wange vom Boden hoch und mit der Hüfte vom Boden hoch und mit dem Fußrücken vom Boden hoch, weil sich das Parkett sonst eindrückt, also jahrelang und wenn man gar kein Tattoo haben will, also wenn man seine Haut, wie sie ist, eigentlich gerne mag, dann ist das nichts Gutes, dort über Monate zu liegen, und dann hängt das eigene Überleben davon ab, nicht mehr liegen zu bleiben, den Rücken rund zu machen, damit der Stein hinunter rollt und zwar über die Seite und nicht in die Kniekehle, denn die Kniekehle hat eh schon genug mitgemacht, der reicht es langsam, die gilt es zu schonen, ist auch mal gut jetzt, deswegen über die Seite und dann hoch, irgendwie aufstehen, das ist die Rettung, nicht irgendeine sondern deine, jeder darf heulen dabei, jederzeit).

Und dann stehst du zur blauen Stunde am offenen Fenster, das man heute zum ersten Mal seit Tagen wirklich wieder öffnen kann, weil es kühler und nicht noch wärmer wird dadurch im Zimmer, und es läuft ‚Wherever you are‘ und du legst dir selbst die eine Hand auf die andere, weil es sein muss, dass man sich hält, meine ich, das darf nichts Fremdes sein, man darf sich nichts Fremdes sein, jedenfalls nicht zu lange, jedenfalls nicht zu oft.

Hauptsache etwas spüren, anti-cool sein, anti-abgefucked, also nicht tot. Sich jeden Tag für Leben entscheiden. Nicht genug Angst haben, um damit aufzuhören; viel zu viel Angst haben, damit aufzuhören.