Faro III
C. ist 40, oder Anfang 40. Ihre Haut sieht aus wie ein frisch gegossener Teller. Sie ist klein und schmal und ihre Haare, von denen man nicht weiß, welche grau und welche blond sind, weil sie so gut zueinander passen, liegen auf ihrem Kopf wie zu einem Schläfchen. „Derzeit habe ich keine Wohnung, ich lebe als Nomadin“ sagt sie und N. und ich sind so perplex, dass wir vergessen, die richtigen, anschließenden Fragen zu stellen. Sie benutzt Begriffe wie „here and there“ and „back then“, sie besucht ihre Mutter und wir werden nicht herausfinden, wie genau sie ihren Tag verbringt, nur dass sie manchmal auch abends, wenn wir am großen Tisch sitzen und auf den Telefonen lesen und schreiben, still neben uns steht und dasselbe tut. Das einzige Mal, dass ich sie sitzen sehe, ist an diesem Abend auf der weißen Treppe, die vom Hof in die zweite Etage führt. Sie sagt etwas, das ich mir merken will und dennoch vergesse, aber ich erinnere mich genau an das Gefühl danach, in dem ich dachte: Irgendwas hat sie, irgendeinen Knick, und ich wüsste gern, woher der kommt. Einmal steht sie im Hof neben der großen Palme und wischt mit einem gelben Lappen die Drähte des Wäscheständers ab.
Der Grünstreifen vor dem ‚N Coisas‘ wird jeden Morgen von denselben Hunden besucht. N. sagt, R. könne das besonders gut, die Gedanken von Hunden lesen. Manchmal übersetze er für sie, wenn sie in Berlin einem Hund begegnen. Wir können das nicht, aber jeden Morgen kommt der kleine graue mit der lockigen Frisur und schnüffelt um den pinkfarbenen Strauch herum, danach besucht uns der schmale, dünne, der nur oben auf dem Kopf ein Büschel Haare hat und setzt ebenfalls eine Marke. So geht das mehrmals hintereinander. Jede Snackbar hat ihren eigenen, struppigen Bewacher. Ich verliebe mich alle zehn Meter neu.
Quiosque ist mein Lieblingswort. Handgeschrieben sieht es wunderschön aus, ausgesprochen auch. Später sehe ich vom Bus aus dieses riesige Plakat: Rent an emotion. Autovermietungswerbung. Auf dem Kreisverkehr kurz vor dem Flughafen stehen weiße, kastige Figuren. Mehrere Personen, die in die Luft schauen. Vielleicht aus Stein geschlagen, vielleicht aus Holz. Ihre Körperhaltungen sind so authentisch und echt, dass ich aussteigen und mich dazwischen legen möchte, ihre Blicken rühren mich so, dass ich schlucken muss, dabei haben sie nicht einmal richtige Augen.
Am Strand dann 50 shades of blue. Ich erinnere mich wieder, warum Blau meine Lieblingsfarbe geworden ist, früher war es Grün, vielleicht wird Blau es bleiben. N. sagt, in der chinesischen Medizin habe man sogar Deutungen für die Farbe von Kleidung, die man in bestimmten Zeiträumen kauft. Letztes Jahr vor allem Dunkelblau. Dieses Jahr Schwarz. Ich weiß nicht, ob ich diese Deutungen kenne möchte und bleibe innerlich lieber bei meiner ausgestreckten Hand. Manchmal, wenn ich länger in die Sonne schaue, flimmert es danach in blauen Blitzen in meinem Blickfeld, ich genieße jedes einzelne Mal. Sowieso sauge ich das Licht hier auf, als hätte ich jahrelang keines bekommen. Hinlegen, warten, warten, warten, warten, spüren, wie Schweiß sich bildet, warten, warten, warten, wie er austritt, warten, warten, wie er rinnt. In diesem Moment gibt es kaum Schöneres. Dagegen das Wasser. Strömung spüren, Wellen spüren, tauchen, nicht zu tief, aber tauchen, durch die Wellen hindurch und dazwischen. Anfangs direkt hineingehen, obwohl es arschkalt ist, einfach weiterlaufen, nicht zögern, keinen Moment, einfach laufen, das hält man schon aus, die Kälte, die Wucht. Wenn man sich nicht umdreht, ist überall Horizont.
Wenn man Regener und Cole parallel liest, vermischen sich New York und Bremen zu einem wunderlichen Brei, in dem kleine Klumpen schwimmen. Zweimal erschrecke ich über Parallelen. Die eine zum Wehrdienst und dass Verweigerer wohl zum Dilemma des Pazifisten gefragt werden, was sie täten, wenn jemand ihre Eltern mit einer Waffe bedrohen würde und sie selbst eine in der Hand hätten. Und in beiden Büchern werden Protagonisten zu gutmütigen Kümmersachen, zu Charity-Arbeit, überredet von Menschen, die ihnen irgendwie nahe stehen. Dabei haben sie dann Begegnungen, an die sie sich später erinnern. V allein kommen sie nicht auf die Idee, sich zu engagieren, das Drängen dazu übernehmen die Randfiguren für sie.
Wir essen frischen Fisch mit Zitrone und viel Knoblauch, die Sonne steht tief. Als wir zum Bus gehen, steht hinter der Brücke ein alter Fischer allein in seinen Gummischuhen, er fängt nichts, die Strömung ist schnell. Im Bus dann Halbstarke. Der eine hängt sich ein Handtuch über den Kopf, während er ganz laut über sein Handy Guns N‘ Roses hört. Runterkommen mit Axl Rose. Ich erkläre N. den Unterschied zwischen ‚Trottel‘ und ‚Tollpatsch‘. Der erste vergeigt’s mit dem Kopf, der zweite mit dem Körper. Im Quiosque kaufen wir Schokolade, spielen dann Backgammon im Hof. Die Wangen glühen nach.