Die fünfundvierzigste Woche Jahr

Neukölln

In der großen Brauerei, die jetzt ein Museum wird, kann man einen Film sehen, der 1000 Jahre lang sein soll. Eventuell sein wird. Ein digitaler Nachbau des Olympiastadions wird nach den aktuellen Berliner Wetterdaten von einem Algorithmus zerfressen. Nach und nach. Ein digitaler Bau wird von echtem Wetter digital abgetragen Stück für Stück und man kann ihm dabei zusehen, soweit die eigene Wahrnehmung eben reicht. Das wird nie genug sein, aber genau so ist es erdacht. Auf dem Balkon draußen, nachdem wir Pflastersteine aus Gips und gemalte Flachbildschirme angeschaut haben, fällt mein Blick wieder auf den Fernsehturm und die Stadt leuchtet orange und ich werde dieses Blickes niemals müde sein. Weiter unten tragen vier junge Frauen lachend einen riesigen Buchstaben aus einer Lagerhalle heraus und lassen ihn beinahe fallen, es ist ein C. Auf den Platz davor werden wohl in naher Zukunft Bäume gepflanzt.


Der Montag ist der erste Tag, an dem es stockfinster ist, als ich aus dem Büro komme. Wenn man im Bus steht, sieht man nicht mehr, wo man hinfährt, man muss sich jetzt erst wieder an diese Karten aus Lichtern gewöhnen, die Orientierung neu einstellen, damit man weiß, die Kurve kommt nach dem großen roten Fleck und wenn es dreimal gelb geflackert hat, muss man aussteigen. Man könnte ja auch laufen, man wird auch wieder laufen, aber jeder Weg hat seine Zeit und jeder Tag seinen Weg.


Dieser eine Tag vor sechs Monaten, kurz nachdem ich einfach damit begonnen hatte, vor allem wieder im Jetzt zu leben, nicht mehr im Irgendwann oder im Früher, das ist mir zu häufig passiert in der Vergangenheit. Einige Wochen zuvor hatte ich Lösungsmittel gekauft und großflächig aufgetragen auf bestimmte Sätze und Situationen und alle möglichen Gewichte an diversen Stellen. Wie so eine Comicfigur bin ich rumgelaufen in einem raschelnden Maleranzug und habe mit einem Eimer in der Hand alles angepinselt und mich kurz danach in die Mitte des Raumes gesetzt, zweifelnd und vor allem erschöpft und am nächsten Morgen aber war alles gut, so gut wie lange nicht und dann war alles wieder leichter. Manchmal muss man Dinge tun und sich danach einfach ausruhen und dann ist’s okay. Das Prinzip war eine ganze Weile kaputt, aber zu diesem Zeitpunkt ist es zurückgerutscht in seine Form, in seine Bewegung. Manchmal braucht es Zeit, und ich lernte diese eine Form von Geduld auch erst in den letzten Jahren. Jedenfalls bin ich an dieser Straßenecke dann gestolpert und erst habe ich mich ziemlich erschreckt und jetzt ist es vermutlich das Beste, was mir seit langem passiert ist.


Der Mittwoch war mit dem Sonntag das einzige Sonnenlicht seit langem und ich bin dann morgens gelaufen ins Büro, die Luft war so kalt, ich hatte beinahe vergessen, wie sich das anfühlt, im Laufe der letzten Monate, den diesjährigen Sommer habe ich als so schön lang in Erinnerung, dass der ganze kalte Rest erst jetzt vom Gehirn wieder hervorgeholt wurde, das ist in Ordnung, die Wangen waren rot danach, jetzt quetscht man wieder Handcremetuben und unterhält sich über verschiedenfarbige Fussel.


Ich mache mir seit langem mal wieder Gedanken über Kinderbücher. Sollte man mehr tun. Sich überlegen, was man gut fand, und ob das immer noch Sinn macht oder nicht und was man eigentlich vorlesen und vertreten kann. Ich höre immer noch das Klackern der alten Gasheizung, wenn ich an Astrid Lindgren denke, und ich hatte dieses eine Buch, „Ferien auf Saltkrokan“, auf dem das Foto von dem Mädchen mit den Zöpfen und diesem dicken Hund aufgezogen war. Als ich es bekam, roch es druckfrisch nach Plastik und Farbe und ich dachte damals, so würde es auf Saltkrokan riechen, also ganz anders als zuhause, und später ritzte ich mich mal mit dem Fingernagel aus Versehen einen Kratzer in den Himmel, eine Delle, ich ärgerte mich lange darüber, der Duft aber verging schnell. Ich hatte Angst vor den grauen Männern bei Momo. Ich liebte die Steinbeißer von Michael Ende. Und ich liebte Franz von Christine Nöstlinger, der wegen seiner blonden Locken immer für ein Mädchen gehalten wurde, ich mit meinen kurzen Haaren häufig für einen Jungen. Was ich nicht mehr kann, ist die Bücher einzelnen Jahren zuzuordnen, sie verbinden sich alle zu einem Gefühl, ich weiß noch, wie ich immer in die Bibliothek rannte, um Kassetten und Bücher zu holen, schnell auch selbständig und allein und wie ich zuhause alle Schätze aus dem Rucksack holte und vor mir aufbaute, als wollte ich jederzeit sehen, was nun eine Woche halten musste. Das, und Cornflakesmilch.