Nuancen als Maßband
Die Mohnblüten sind größer als meine Hand. Sie stehen in einem der Vorgärten, die die bunten Blumen nach vorne raus pflanzen, damit es für jene gut aussieht, die den Weg entlang gehen. Den Weg benutzen die wenigsten, jedenfalls zu Fuß. Man fährt den Weg bis zu seinem Grundstück, dann steigt man aus und geht über zurechtgelegte Bodenplatten zu einer streng gefegten Terrasse, auf der man erst eine Weile sitzen und später die Ränder sauber zupfen wird. Unkraut mögen sie nicht. Auch wenn sie gar nicht genau wissen, was das ist, das Unkraut. Bei Opa wächst alles ineinander. Später sitzt er stöhnend zwischen den Kürbispflanzen, um zu kontrollieren, ob ich die Pflanzen in der richtigen Höhe in die Erde gesetzt, die Klammern auch sicher an die Pflanzen geklemmt und die Erde richtig festgedrückt habe. Ich schneide ihm die Haare und er sagt, er bekäme dabei so ein komisches Gefühl im Arm, als würde er einschlafen; und dann lasse ich mir mehr Zeit, als ich bräuchte. Sein Arm schläft nicht ein, er wird einfach nicht mehr so häufig berührt. Auf der Rückfahrt schauen zwei Katzen und ein Marder direkt ins Licht. Es gibt diese Stelle an der Straße, an der so viele leuchtende Fahrbahnbegrenzungen angebracht sind, dass es aussieht wie ein Bonuslevel bei Grand Theft Auto. Oder eine Landebahn. Wir müssen öfter wiederkommen, ich will sehen, wie hoch der Fingerhut es schafft.
Ich halte das Glas Gin Tonic über das Geländer und es ist einer dieser Momente, in denen man sieht, was passieren könnte, eine Sekunde in zweien. Und sich dann fühlt, als habe man alles im Griff, weil man das Glas eben nicht fallen lässt, sondern fest umschließt, nicht wegsieht, obwohl es so blendet, nichts sagt, obwohl man könnte, sich einfach nicht bewegt, obwohl es von allen Seiten zieht, die Häuser nicht zählt und den Weg nach Hause ein bisschen langsamer fährt.
Die Vögel im Hof sind zurück. Man sieht sie nicht, aber wenn man morgens aufwacht und das Fenster sowie die Tür zum Bad offen lässt, kann ich sie hören. Manchmal wache ich von ihnen auf. Die Geräusche werden sich verschieben, wenn die Ampel kommt. Sie steht schon, aber es hat sie noch niemand angeschaltet.
Wir fahren unter das Dach der Tankstelle, hinter uns fährt ein dunkelgrüner Oldtimer, aus dem Jugendliche steigen, die aussehen wie aus einem Werbespot mit diesen Barbiefrisuren, die immer sitzen, egal wie sehr sich die Menschen darunter bewegen, es bewegt sich kein einziges Haar. Nichts schwingt mit. Bis der Wind kommt und den Schwarm an Pollen aufwirbelt, die plötzlich überall sind, als würden sie sich sekündlich verdoppeln, irgendwann ist alles weiß und der eine Junge, es ist der, der fahren darf, neben seinem Wagen steht und aussieht, als sei er grau geworden, weil sich die Sporen an seinem klebrigen Haar festsetzen. Man ahnt plötzlich, wie er aussehen wird in zehn oder zwanzig Jahren. Am See fällt die Sonne in Fetzen an den Blättern vorbei auf den Boden, als müsse sie jemand einsammeln und zusammensetzen, und direkt über uns in dem blauen Stück kreuzen sich die Spuren von zwei Flugzeugen.
„Ich darf ja nichts sagen, ich gehe schließlich jetzt nach Hause und halte mich beim Schlafen an einer Glühbirne fest.“ Wenn sie alt ist, werde ich ihr noch einmal davon erzählen, obwohl sie es nicht vergessen haben wird, mir zuliebe wird sie dennoch so lächeln, als wisse sie es nicht mehr ganz so genau. Sie weiß immer.
Man kann nur neben manchen Menschen wirklich gut sitzen. Und dann ist plötzlich Juni.