Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Tag: Frühling

Dile que sí

Als ich vom Sport komme, leuchtet einer der gar nicht so kleinen Vorgärten komplett in Lila, alles Krokusse. Es ist noch nicht einmal März. Als am Halleschen Tor alle nur noch über den einen Eingang in die U-Bahn gelangen, bei der sie den gesamten Platz umrunden müssen, sehen viele von ihnen die kleinen Geschäfte in dem Rundhaus zum ersten Mal, das Kaffee, die Büros, die vielen Arztpraxen, den kleinen türkischen Supermarkt. Am Knauf der Tür zu einem der Räume hinter den blauen Wänden der U-Bahn-Station hängt eine Plastiktüte mit Brötchen und einer Dose Thunfisch. Am Abend laufe ich noch ein Stück am Fluss entlang, weil man manchmal Luft braucht, wenn man den ganzen Tag nicht draußen war. Aus dem einen Restaurant tritt eine Frau, vermutlich eine Kellnerin, sie ist ganz in Schwarz gekleidet. In ihren Händen hält sie einen großen Teller Miesmuscheln. Sie tritt aus der Tür, schaut sich auf dem Bürgersteig um, geht zielstrebig zur Hausecke und wird dann von einem großen, schwarzen Hund abgelenkt, der an der Ecke herumschnüffelt. Sie bleibt stehen, ihre Augen kleben auf dem Tier, als hätte sie plötzlich ein altes Gefühl in sich wiedergefunden, ein schönes. Die Frau am anderen Ende der Hundeleine fragt neugierig: „Kann ich helfen?“ Eine Woche lang sagt der Wetterbericht im U-Bahn-Fernseher jeden Morgen: „Windig und frostfrei!“

„She is weirdly with me“, sagt sie über ihre Therapeutin, zu der sie schon seit einer Weile nicht mehr geht. Sie ist die Frau aus einem Film. Und ich erkenne die Gedanken und das „Ach stimmt, genau wie sie gesagt hat“ Jahre später, wenn etwas passiert, dass einem plötzlich nicht mehr einfach nur geschieht, sondern dass man anzusehen und einzuordnen weiß aus einer Art Sicherheitsabstand heraus. Es gibt jetzt Namen für Empfindungen wie das Aliengefühl, den gelernten Impuls, neu programmierte Geduld, die Vernunft, die nicht mehr feindlich stimmt, sondern versöhnlich, die tröstet, die erkennbare Schuld, das wilde Potenzial, und die immerwährende, jedoch ab und an nuschelnde Verantwortung.

„Snow!“ erscheint als Textnachricht auf dem Handy, als ich im Büro am Schreibtisch sitze. Ich hebe den Kopf, sehe aus dem Fenster, es stimmt tatsächlich. Wenn auch nur für ein paar Minuten.

„Sí, dile que sí“ ist der erste Satz auf der Buchseite der Frau, die im überfüllten Bus neben mir steht. Sag ja.

Ich öffne das Fenster und krieche dann unter die große, weiche und vor allem leichte Hotelbettdecke. Das Meer rauscht so laut, dass ich nachts aufwache und mich im tiefen Dunkel kurz frage, wo ich eigentlich bin, bevor es mir wieder einfällt. Am Morgen werde ich wach vom Sonnenaufgang, der alles orange färbt.

Das sind meine Menschen. Die, mit denen ich lebe. Mit denen ich esse und kämpfe, die ich bewundere, die ich kenne. Die, die atmen und heulen, Besorgungen machen, die, die keine Briefe, aber Sprachnachrichten schicken, die die nachtragend sind und so viel vergessen, die schlechte Witze machen, zu früh kommen, zu spät sind, aber da, die im richtigen Moment lachen und keine Zeit mehr haben, die mit den Narben und grauen Haaren und verknoteten Haaren und keinen Haaren und die, die keine Antworten wissen, aber/und/während sie ihre Arme um mich herum falten, wenn ich ihnen sage, ich bin jetzt bereits umarmt zu werden wie ein Kind, eine Frau, eine Freundin, eine Geliebte zur selben Zeit. Das sind meine Menschen, all das. Alle jene. Und alles, was noch kommt.

Dann beginnt der März und junge Frauen laufen durch den Wedding bis nach Mitte, um für ihre Rechte und die anderer zu demonstrieren, sie schenken einander Tampons, sie entschuldigen sich bei jedem, den sie aus Versehen anrempelt, sie applaudieren einander. Sie winken denen, die aus den umliegenden Häusern verwundert auf sie herab schauen. Später stehen wir in der kleinen Bar, in der es immer sehr eng und verraucht, aber selten zu laut ist und wir summen das eine Lied, das der Barkeeper niemals auswählen würde, das wir aber von der ersten bis zur letzten Strophe mitsingen können, der D. und ich, wir singen gegen den coolen Jazz und auch noch draußen auf der Straße und an der Kreuzung und als wir auf seine Mitfahrgelegenheit warten wie erwachsene Leute.

Der Vollmond steht hinter Milchschleiern über der Friedrichstraße, hinter den Bäumen neben der Kirche, wie Grießbrei, in den jemand einen Löffel hat fallen lassen. Mir kommt jemand in kurzer Hose entgegen, dahinter eine Frau mit Atemmaske. Am Abend liegt der nervöse schwarze Hund für siebzehn Minuten auf meinem Schoß und schnarcht leise, meine Hand auf der Stelle zwischen seinem pochenden Bauch und seinem Hals.

„I can’t sleep at night. I have dreams about those people. Faces floating up in the waves, bodies washing up on the beach. Beach by my house.“ (Quirk, The Laundromat)

Light Years

Am Abend einen Einfall spüren, der innerhalb von kürzester Zeit immer größer wird, nicht mehr weg zu ignorieren. Und am Bauchgefühl merken, dass das ein guter Einfall ist. Am Morgen beantrage ich den Urlaub, am Abend buche ich den Zug. „Irgendwann hab ich angefangen, damit aufzuhören“, vielleicht höre ich jetzt auf damit Sachen eher aufzuschieben oder zu denken, das sei etwas für später. Und dann fallen mir die Flaming Lips wieder ein, die M. damals in mein Leben brachte neben dem Fotoautomaten am anderen Ende der Stadt. Komisch, nicht wahr, wenn man gerade mit der einen Körperhälfte lernt abzuwarten, und im gleichen Moment mit der anderen lernt, loszugehen. Vielleicht hat das auch nichts mit Körperhälften, sondern eher Körperteilen zu tun. Head over heart. Heart over pelvis.

Der Nachbar gegenüber mit den langen Haaren spielt jetzt wieder bei offenem Fenster Klavier, und das auch sehr ausladend. Er beugt sich und kämpft, man könnt meinen mit den Tasten. Aber man hört ihn nicht. Man hört wirklich gar nichts, ich habe es eine Weile versucht, dann wurde es kalt und ich musste mein Fenster schließen. Was, denke ich, wenn ihm ein totes Wiesel auf den Saiten liegt oder ein verbummelter Schlafsack und er weiß das gar nicht, vielleicht ist das schon immer so.

Am Abend nach dem Essen, es ist dunkel, aber mild, komme ich an diesem Magnolienbusch (oder ist es ein Baum?) vorbei und die Blüten leuchten, auch um diese Uhrzeit noch, als hätte jemand Glühbirnchen in ihnen versteckt. Dass ich stehengeblieben bin, um zu gucken, merke ich erst, als sich die zwei Frauen an mir vorbei drücken und mich verwundert ansehen.

Da vor dem Weinladen ist der einzige Platz, an den am Abend noch Sonne fällt. Auf der kleinen Bank vor dem Baum sitzen zwei ältere Herren mit Hut und betrachten den Wein in ihren Gläsern mit ausgestreckten Armen im Gegenlicht. Sie grinsen und murmeln, man versteht sie nicht. Der Verkäufer erkennt mich wieder, ich sehe das an seinen Augenbrauen, es ist eine ganze Weile her, aber mittlerweile kann ich behaupten, ich komme seit Jahren. Drumherum holen die Menschen ihre Kinder von irgendetwas ab, bringen sie irgendwohin, einer in der Konstellation zieht immer den anderen, zu meinen Füßen liegen Beutel, die Blumen werden diese zwanzig Minuten aushalten. Eigentlich fand ich es immer gut, Gesprächen von Fremden zu lauschen, mich nur kurz in Gedanken einzumischen, aber meinem Gesicht nichts anmerken zu lassen. Dieser Tage ist es besser zu schweigen, Musik zu hören, alles sieht dabei aus wie ein deutsche Fernsehfilm, der Boden ist vielleicht ein bisschen zu dreckig für einen deutschen Fernsehfilm und der Soundtrack zu gut. Ein Film ohne Gespräche, aber mit Abläufen, Gesten, einem Lächeln hier und da. Man wird auch beäugt, wenn man nur so sitzt und auf niemanden wartet.

„Mit Zynismus konnte Jetti nicht umgehen. Nach Zynismus musste sie Musik hören, um wieder dorthin zurückzukehren, wo der Mensch anfängt.“ (Michael Köhlmeier, Bruder und Schwester Lenobel)

„Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer“

Der späte Februar und der beginnende März waren schon letztes Jahr eine Zeit, in der man abends kurz nach sieben noch tippend am geöffneten Fenster sitzen konnte ohne zu frieren, jedenfalls für ein paar Minuten, ein paar mehr. Eine Zeit, in der der Wind eine Atempause macht, die Tage so zukunftsgewandt, dass man bei der Vergangenheit wieder rauskommt. Der kleine Pathos, wenn es abends schon nach Sonne riecht und die Nacht nur langsam drüber klettert, wenn man Fahrradfahren kann, ohne dass einem die Wangen zerrupft werden von der Eisluft oder die Finger abfallen. Wenn die Haut sich schon windet, weil sie weiß, was kommen wird, aber noch nicht da ist, und auch diese Ahnung funktioniert ja nur im Abgleich, die funktioniert nur, weil wir das schon einmal erlebt haben (nicht nur einmal, die meisten von uns mehrfach), und weil wir die Bilder kennen. Wir können uns ja selten angemessen nach etwas sehnen, was wir noch nie gehabt haben, in diesen Fällen ist es relativ wahrscheinlich, dass die Vorstellung, an der die Sehnsucht hängt, schlenkert und an der Realität vorbei schrammt. Marion Brasch sagt im Interview, ihr Bruder Thomas sei einer von diesen liebens- und hassenswerten Menschen gewesen, „das macht eben solche Charaktere auch aus, dass sie nicht nur die Menschen auf ihre Seite ziehen, weil sie so toll sind, sondern auch weil sie sie absorbieren, er war so jemand, der auch Menschen getrunken hat“.

Mehr ein- als ausatmen. Der Frühling ist der erste Herbst des Jahres. Er riecht nach Pfannkuchen.

Á eftir vetrinum kemur vorið.

Frühling in Berlin

Man schimpft jetzt über das Wetter, das macht man ja immer so, das gehört dazu wie das Schimpfen über den öffentlichen Nahverkehr, das Schimpfen über Menschen, die zu langsam laufen, und Autos, die zu schnell fahren. Man schimpft eben über das Wetter, weil das Wetter es einem nicht recht machen kann. Dabei ist er nun einmal so, der Frühling. Er war ja nie anders. Er war immer unstet und kalt und warm und regnerisch und sonnig. Und wenn er nicht so war, dann war es nicht der Frühling. Sondern was anderes. Ein euphorischer Sommer, ein geduldiger Winter. Aber Frühling ist so, da kannst du dich auf den Kopf stellen, du wirst trotzdem nass. Frühling ist Übergang und darüber schimpft man eben, weil Übergang Unklarheit bedeutet und Überraschung und Unvorhergesehenes und Abschied und auch mal Enttäuschung, aber eben auch Anfang und Sortieren und Loslassen und Sähen und Putzen und nicht mehr so viele Pullover, jedenfalls nicht jeden Tag. Übergang ist immer herumwurschteln und aus dem Bett fallen und sich gewöhnen. Darüber schimpfen Menschen, aber der Frühling versucht nicht mehr, ihrem Wunschbild zu entsprechen, das kann er nicht einlösen. Er kommt einfach jedes Jahr wieder, er wird nicht aufhören damit. Vielleicht bleibt er nicht so lang, aber er kommt wieder. Man wird das Wie nicht ändern können, auch mit Tiraden nicht, das bestimmt nur er selbst. (Menschen glauben so oft, sie wüssten, wie es sein muss. Und vergessen dabei zu sehen, wie es einfach ist.)