Stricken

Ich bin jetzt sieben Jahre älter, als er je geworden ist. Sagt man, „hat Geburtstag“ oder „hatte Geburtstag“, wenn jemand gestorben ist, also danach? Es gibt keine Tradition mehr für diesen Tag. Früher hatte ich eine. Habe mich hingesetzt und Bilder angesehen, viele Gefühle durchgefühlt, manchmal sogar Menschen davon erzählt, aber eher selten, in mir drin lange Gespräche geführt, mit ihm und mir und uns, jetzt wird es leiser. Aber eine Frage, die nicht weggeht, ist: „Was würdest du sagen?“ Die hängt nicht mehr an diesem Tag, die begleitet mich immer und immer wieder, kommt hervorgekrochen in Zeiten der Anspannung, wenn mich etwas herausfordert oder wenn ich sehr sehr müde bin vom Erwachsensein, dann möchte ich fragen „Was würdest du sagen?“ und mich anlehnen oder nur sitzen und Gameboy spielen, während er ein Rösti brät. Es gibt keine Vorstellung von ihm in meinem Alter oder von ihm in noch späteren Jahren, davon, wie wir wohl geworden wären. Manchmal sehe ich Pullover, von denen ich glaube, sie hätten ihm gefallen. Vielleicht hätten wir einander Playlists gebaut, vielleicht hätten wir aber auch alles einfach so gelassen, wie es war, und am Abend Frisbee gespielt auf dem sandigen Weg vom See nach Hause.

S. und ich stehen mittags im Supermarkt um Humus zu kaufen, es ist für meine Vorstellung ungewöhnlich voll, alle schieben sich nervös herum, suchen, beeilen sich, es ist Mittagspausenzeit. S. betrachtet die Antipastiauswahl, während sich ein Junge, ich vermute, so zwischen 13 und 15 Jahre alt, durch den Gang schiebt, hinter ihm ein deutlich älterer Mann mit kinnlangen, grau melierten Haaren. Der Junge fragt ihn, ohne ihn anzusehen: „Was willst’n du jetzt?“. „Ach“, murmelt der Mann, als er auf meiner Höhe ist, neben mir stehend, „inneren Frieden vielleicht.“

A. und ich laufen über das Tempelhofer Feld. Vor uns über dem Rasen schweben ein Astronaut im orangefarbenen Anzug und das blaue Monster aus einem dieser Animationsfilme. Es ist Februar und die ersten sitzen mit Decken auf der Wiese, fahren Fahrrad mit kurzen Hosen immer im Kreis. Der Wurstmann ruft, ob wir denn jetzt nicht mal langsam was kaufen wollen, wo wir ihn doch endlich gefunden hätten. Wir verneinen, grinsen, er winkt. Am Nebenstand hängt ein Schild: „Schwarzkümmel hilft gegen alles, nur nicht gegen den Tod.“ Die Tulpen warten im Auto.

Der Wind ist am Samstag so stark, dass Opa sich auf der Frankfurter Allee umdrehen muss, um voranzukommen. Er hat sich geweigert, feste Schuhe zu tragen, denn der Wind sei nur stark, nicht kalt, und die Sandalen mit den Socken darin, die wären bequemer. Aber Handschuhe wollte er mitnehmen. Er lehnt sich also gegen den Wind, bei mir eingehakt, und dann gehen wir in das italienische Restaurant, weil er wirklich nicht weiterlaufen kann, der Wind drückt ihm die Augen zu und er muss sich schräg dagegen stellen, um nicht umzufallen. Wir trinken also Kaffee im Windschutz neben vier jungen Damen, die nur Sprudelwasser bestellen und über alle lachen, die draußen mit verwehten Haaren kämpfen. Opa erzählt von seinem Großvater, der Zugchef war auf der Strecke von Hof bis Leipzig. Hin und her sei der gefahren und habe für Ordnung gesorgt. Wieder im Heim zeit er mir seinen Rollater: „Das ist mein neues Auto, ich habe sogar Bremsen.“ Vor dem Fenster spielt der Himmel sich auf.

„Wenn es darum geht, etwas haben zu wollen, dann würde es mir reichen, wenn ich ein Haus habe“, sagt der Taxifahrer, „aber eines, das schon abbezahlt ist, weißt du? Das kann auch eine Art Bungalow sein, Hauptsache ein eigenes Grundstück. Mit ’ner kleinen Auffahrt, wo ich mein Auto drauf parken könnte. Das wäre der größte Wunsch meines Lebens. Hinten mit einem kleinen Garten. Vielleicht mit einem kleinen Minipool oder sowas. Das würde mir schon vollkommen reichen, ich wäre der glücklichste Mensch auf der Welt.“

Als wir aus dem Kino treten, vergessen wir, diesen kleinen gelben Kasten an der Ampel zu berühren, von dem ich nicht einmal weiß, wie er heißt und ob er überhaupt einen Namen hat. Man muss entweder die Rundung berühren oder einen kleinen Knopf an der Unterseite finden. An der Rundung kann man die Berührungsfläche besser einschätzen, ich teile Menschen ein in ihre Paranoia vor Keimen an öffentlichen Orten, aber mit dem Pulloverrand zwischen Haut und der Rundung funktioniert das Signal nicht, dann erkennt der gelbe Kasten nicht, dass er berührt wird. Die Menschen, die den Kasten wirklich nicht berühren wollen, wickeln sich die Jacken- oder Pulloverärmel um den Finger und drücken den Knopf unten drunter, was weniger Berührungsfläche bedeutet, aber auch Ungewissheit, denn wer weiß, wie viele Kaugummis da schon kleben, die man von oben nicht sieht. Wir stehen also da und reden und gucken auf die Kreuzung und vergessen, dass sich das ohne unser Zutun vermutlich eine ganze Weile nicht ändern wird. Aber es ist kalt und am Ende drückt P. den Knopf.