Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Die Unverletzlichkeit von Briefen

Zürich Hof

Nach den ersten Schritten sieht es beinahe so aus, als hätte der leichte Wind, der aber immer noch stärker ist als sonst, alle Menschen aus der Stadt geweht, als hätte er sie wie Blätter erst in den Rinnstein und später an den Rand der Kellertür getragen, wo sie sich übereinander zusammenfalten und liegen bleiben, denn verkeilt ist nun einmal verkeilt, das funktioniert auch mit minderer Textur. Als wir das Haus verlassen, fährt keines von den Kindern auf den Skateboards vorbei, die in diesen Tagen zu kurze Hosen tragen, um angemessen würdevoll mit dem Hintern auf dem Asphalt zu bremsen, alle sind auf einmal verschwunden, als hätte jemand die Stadt geschüttelt und jedes Teilchen hätte sich an einen anderen Ort gesetzt als wir.

„Hier singen die Bauarbeiter manchmal“, sagt K., als wir durch die Straße mit den schönen Häusern laufen, in Zürich muss man das betonen, da ist vieles schön dem Eindruck nach, aber diese Häuser sind nicht von gebügelter Schönheit, die Pflanzen haben sich über die Jahre um die Balkone geschlängelt, die Menschen, die dort leben, sind nicht gerade erst eingezogen, die wissen, wem sie vertrauen, wem nicht und wann sie Fenster beruhigt offen stehen lassen können, wo die Bobby-Cars gut aufgehoben sind. Die Straße wird neu gemacht, der Rest wird so gelassen, wir laufen durch ein Tor und dann steht da ein Turm neben uns, in dem Turbinen getestet werden. D. weiß es nicht genau, aber das mit dem Turbinen-Test-Turm klingt so schön und wir recherchieren nicht nach. Wirft man oben eine Möhre hinein, kommt unten ein Möhrensalat heraus. Vorne bei der Tram begegnen wir zum ersten Mal seit ein paar Minuten wieder einigen Menschen und je tiefer wir spazieren, umso mehr werden es. Vielleicht sind auch heute alle nur kraftlos den Berg hinab gerollt und am See ist die tiefste Stelle.

Dort sind alle, nicht nur ein paar, wirklich alle. Alle Künstler und Bankangestellten, alle Kinder, und Halbkinder und solche, die keine Kinder mehr sein wollen. Wir haben die andere Seite des Sees irgendwie verpasst, also lassen wir uns durch diese Menschen treiben, deren Stimmen sich auf mich setzen, als würden sie mich anfassen. Zu viele, zu nah, aber weiter. Und dann steht dieses Paar auf von der Bank, in dem Moment, als ich hinsehe, und wir setzen uns und wenn Geräusche einem nur noch im Rücken Theater machen, dann ist es einfacher sie wegzuschieben. Wir schauen auf die ruhige Seite und meine Beine werden immer länger und reichen irgendwann bis zum Springbrunnen drüben. Ein lang gezogener Ton bedeutet, wir bleiben auf Kurs.

Später, wir haben uns zu Starbucks verirrt und finden kaum heraus. „Das ist wie ein Disko“, sagt D. und sieht müde aus, wovon jetzt genau, weiß man nicht, weil Starbucks in der Einflugschneise zu liegen scheint, die Landebahn für den Rest, und auch hier muss man diesen Regeln folgen, die alle kennen, obwohl sie nirgendwo aufgeschrieben stehen. Dort holst du dir deinen Becher, dann malt jemand Kürzel darauf, dann bezahlst du, dort hinten wird gewartet und erst dann erhältst du dein Getränk, vorher wird noch einmal laut durch den Raum gebrüllt, weil alle es tun und wenn man es dann wieder raus geschafft hat ohne umzufallen oder einfach die Schnauze voll zu haben, dann steht man am Limmatquai, und drüben in der Frauen-Badi schwimmen schon die ersten. In der Bahn nach Hause liest die alte Dame mit der roten Bluse einen handgeschriebenen Brief, er wurde zweimal gefaltet, sie packt ihn auf den Knien aus, die Schrift ist ordentlich, als habe jemand vorher mit dem Lineal unsichtbare Linien gezogen, sie liest ihn einmal und noch einmal und dann steigen wir aus, wir haben dieselbe Haarlänge (und ich wünsche mir, ich werde später, wenn ich so aussehe, noch Briefe auseinander falten und lesen und wieder zusammen falten und in ihr Kuvert zurücklegen, ich wünsche mir, dann einen Ort für sie zu haben, eine Schatulle, und diese nicht umsonst zu besitzen, sondern sie immer mal wieder öffnen zu können).

Libelle

Zürich

Es gibt Menschen, die schalten an anderen Orten sofort Musik an, ich kenne nicht viele von ihnen, aber ich kenne ein paar. Sie setzen sich, sobald sie gelandet sind, Kopfhörer auf und folgen nur noch Buchstaben, die ihnen den Weg zeigen. Ich glaube häufig, mir würde das schwerfallen. Als würde ich die Fremde negieren, indem ich Vertrautes auflege, etwas drüber decke. Allein das Aufsetzen der Kopfhörer würde mir simulieren, ich hätte eine Ahnung, alles sei wie immer oder es bliebe zumindest ein Rest davon, als wüsste ich, wo ich bin oder wäre hier schon einmal gewesen. Und selbst wenn das stimmt, scheint mein Körper einige Minuten zu brauchen, um sich einzustellen auf den neuen Pegel, als hieße es, mich neu zu kalibrieren, neue Stimmfarben, andere Luft, verschobenes Grundrauschen. Ich brauche das sogar, wenn ich nur in Potsdam aussteige, manchmal genügt sogar ein anderer Bezirk. Als gehöre das zur Rüstung, die sich zurechtschiebt, sobald ich einen neuen U-Bahnhof verlasse. In Zügen, Bahnen, Bussen ist das anders, aber sobald der Raum weit ist und ohne Türen, sobald ich selbst gehen muss, sperrt mein Körper alle Poren auf, lässt das Neue hinein und richtet sich dann aus. Dieser Vorgang kann ein paar Minuten dauern, bitte brechen Sie ihn nicht ab.

Segeln gehen

Kaffee

„Gibst du mir mal die Milch?“, fragt K. und ich reiche ihr den kleinen Krug. „Ich mag es, wenn die Milch im Kaffee flockt“, sagt sie einige Zeit später, als ich gerade das Ei auf dem Brot in viele kleine Stücke zerteile, wobei es nicht auf dem Brot bleibt, obwohl genau das der Plan gewesen war. „Die meisten Leute können das nicht aushalten“, sagt K. und ich denke wieder, ich hätte nicht genau zugehört, einen Satz davor verpasst, vielleicht zwei, also sage ich gar nichts und schaue sie an, sie sieht über die Veranda hinaus bis hinter den Zaun, wo das andere Gras beginnt, das breitere, das mit dem Wind geht und nicht nur verloren darin herumsteht. Sie rührt in ihrem Kaffee und schaut in die Tasse und ich habe schon den ganzen Morgen das Gefühl, vielleicht kommt ein Sturm, vielleicht kommt wirklich einer, aber die Wetterstation sagt nichts und vielleicht brauchen wir mehr davon für Wetter und Witterung und die Dinge dazwischen. „Zumindest schauen die Leute meistens angewidert weg“, sagt K. und schaut von der Tasse auf, die sie in beide Hände nimmt jetzt. „Ausflockung habe ich immer als neues Universum gesehen, schon als Kind. Ich saß davor und habe beobachtet, wie sich die Stückchen erst verteilen, dann schwimmen und sich dann irgendwann doch mit dem Kaffee verbinden, als bräuchten sie für alles ein bisschen länger. Mein Großvater ermahnte mich stets.“ ““ „Warum“, frage ich. Am Horizont tauchen die ersten dunkleren Schlieren auf. „Vielleicht hatte er Angst, ich würde sein Getränk mit bloßen Blicken verschütten, dabei habe ich nur zugesehen und biss vor Spannung beinahe in die Tischkante. Ich konnte es ja auch nicht erklären, also was ich sah und was ich damit wollte, was ich zu entdecken versuchte, ich versuchte es eben und die Erwachsenen rührten meistens viel zu schnell um.“

April in Schöneberg.

Blüten

Du bist zu früh dran, will ich dem Jahr sagen, ich bin noch nicht so weit, will ich der Ampel sagen, ich mag deine Stimme nicht, will ich der Karten-App sagen, als mein Blick auf die Manufactum-Lampe fällt, die auch in jeder zweiten Altbauwohnung hier hängt, auch in Mitte, alle haben dieselbe Manufactum-Lampe und abends noch das große Licht an. Frag ich mich auch immer, wer so macht, abends das große Licht an, „aus aus aus“, sagt A. auch immer, wenn es zu hell ist (nur morgens nicht, da ruft er „Essen essen essen“), da sind wir uns einig (in beidem). Neulich stand er vor einer Galerie, das war nicht in Schöneberg, aber die Fenster waren auf seiner Höhe, noch passiert das selten, und dann steht er und schaut und in dem Moment rief er: „Bilder! Laden! Bilderladen!“, und ich dachte, dass das in unserem Kapitalismus wahrscheinlich so funktioniert, dass die Kinder lernen, dass dort, wo die großen, offenen Fenster sind, gekauft wird. Alle anderen ziehen die Gardinen zu.

Überm Spielsalon hängt keine Manufactum-Lampe, da sprießt etwas unter der Decke entlang, das aussieht wie Efeu. Ich habe gelesen, Efeu stünde für das Ewige und ich frag mich, ob man das im Wohnzimmer haben will, also immer über einem drüber, wenn man Tee trinkt zum Beispiel oder die Füße hochlegt oder sich wieder einmal an irgendetwas verhebt. Als ich um die Ecke fahre, steht da plötzlich das Gasometer, irgendwo zwischen Gleisen, Zaun und Gebüsch kifft jemand, das Licht legt sich langsam hin, man kann zusehen, wie es immer tiefer rutscht und irgendwann weg döst. S. sagt, die Menschen hier hätten schon Bock auf Bürgerlichkeit, „aber die faken das nicht und ziehen ihren Kindern keine Band-T-Shirts an“.

Irgendwo zwischen Rosé und Kräutertee taucht dann auch noch ein Regenbogen auf, und man möchte eigentlich sofort aufs Gasometer klettern. Vorn an der Ecke sitzt eine Frau mit pinkem Haargummi und raucht die Ampel an. Sie wartet auf niemanden, ich glaube, sie denkt nicht einmal irgendwas, sie sitzt nur da und raucht und die blaue Stunde kriecht an ihren nackten Schienbeinen hinauf, ohne sich in ihren Schnürsenkeln zu verheddern, weiter vorne hat jemand verschiedenfarbige Flaschen auf dem Bürgersteig zerdeppert und es sieht aus, als wäre ein Stück aus dem Regenbogen gebrochen und runtergekracht, keine Verletzten. Langsam wanken die letzten aus dem Park am Gleisdreieck, vor dem die neuen roten Absperrungen stehen wie zu groß geratene Zähne, hier kommst du nicht durch, jedenfalls nicht mit derselben Geschwindigkeit, dahinter kommt durchs Halbdunkel ein Skateboarder gerollt, alle sehen aus, als würden sie jetzt wirklich nach Hause fahren (oder das zumindest für in Ordnung halten).

An Sonntagabenden muss man nicht viel sagen, alle summen lautlos, „du weißt, ich würde sterben für dich, um dir ein gutes Leben zu garantieren“. Die Schaufenster der Likörfabrik sind so beleuchtet, als gäbe es ein Morgen und als wäre es ratsam, sich deswegen zu betrinken. „Wir kennen die Stellen, an denen Sachen geschahen, und wir kennen die Gerüche und wir kennen die Gegenstände. Und wir können spüren, wie sie die Form verlieren. Fahr, fahr.“

Kiesbett

Strand

„Man kann sich nicht einfach umdrehen, weil es beim Menschen ja nicht einmal so ein richtiges Oben und Unten gibt, man kann sich nicht einfach andersherum legen, damit heraus läuft, was wie ein Steinchen in einem herumschwimmt, weil in einem vielleicht das Blut umzieht, aber das Blut nimmt auch nicht immer alles mit, nicht weit genug jedenfalls. Man kann sich nicht einfach umkrempeln, man wird auch nicht einfach so zu einem Grobstrickpullover, durch den alles fällt, Regen und Wind und Fluggeschwindigkeit und eben diese Steinchen, die nebeneinander so aussehen, als dürfe nie eine Welle kommen oder der Plastikeimer einer Urlaubsfamilie, ein Rentner mit einem besonderen Hobby oder einfach nur ein alter Hund. Wenn man sie einzeln findet später in Jackentaschen, nachdem sie durch das nicht mehr warme Jahr getragen wurden, wenn man sie dann findet, glänzen sie nicht mehr, die sind eher völlig stumpf dann, haben andere Farben und kleben einem unsouverän in der Handfalte, es ist nichts anders und eben doch alles, die wurden nicht einmal abgeschmirgelt, denn Taschentücher und Kaugummipapier und Schlüsselbänder sind relativ untalentiert, was das angeht, also die Schmirgelei von Strandgut, meine ich, und das Strandgut hat sich nicht verändert, aber wurde verkrümelt und diese Verkrümelung macht wirklich nur bei Teigwaren Sinn und dort ist sie zumindest meistens von wirklich kurzer Dauer. (…) Ich bin sogar noch einmal hingefahren, weißt du, ich habe versucht, alles zurückzubringen dorthin, wo alles richtig war, aber ich hab nichts mehr wiedergefunden, nur einen zerfledderten Zettel, eine Fahrkarte und eine Ahnung. Ich bin im Krebsgang über den scheiß Strand gerobbt und hab versucht, alles wiederzuerkennen, der Stein in der Tasche und der in der Faust sind nicht einmal beim Kopfstand an den richtigen Platz gefallen, obwohl ich reichlich dämlich mit den Beinen gestrampelt habe und mir Sand aus den Schuhen ins Nasenloch gerieselt ist, stundenlang hab ich da gestanden und mir lief das Meer in die unteren Wimpern hinein, oder halt das, was der Wind vom Meer rüberträgt, und später irgendwann klebten mir die getrockneten schwarzen Algen in den Hautrillen unter dem Knie. Es bringt halt auch nichts sich umzudrehen und zu schütteln, das habe ich ja kapiert jetzt, also auch, dass es ein Irrglaube ist, dorthin zurückzufinden, wo einen der Zufall ausgespuckt hat. Konnte der ja nicht wissen, dass das was bedeutet. Konnte der ja nicht wissen, dass ich doch noch einmal dorthin zurück will, haha, ich bin jedenfalls wirklich noch einmal hingefahren, aber ich hab die Stelle nicht gefunden, an der wir saßen, als alles richtig war, also habe ich mir den Kiesel in den Mund gesteckt, ich hab mich nicht getraut zu schlucken, aber ich wollte ihn aufbewahren, man soll sich ja auch aus Versehen oder mit Absicht abgeschnittene Finger in den Mund stecken, wenn man vorhat, sie wieder anzunähen oder annähen zu lassen, ich hab den Kiesel also unter der Zunge vergraben und dann war er irgendwann weg und ich hab gedacht, voll gut, einfach verschwunden, soll es ja geben, ist mir zwar noch nie passiert, aber soll es ja geben und selbst wenn man die Hoffnung an sowas schon aufgegeben hat, weiß man ja noch, wie sie aussah und schwups glaubt man wieder dran. Jedenfalls dachte ich erst: Soll es ja geben, der Stein ist weg! Aber er ist nur diffundiert, denn später als ich am Ufer saß, konnte ich ihn in meinem Ohrläppchen spüren, ich saß am Wasser, weißt du, und hab gedacht, das kann ja jetzt nicht sein, dass der einfach verschwunden ist, aber gut, manche Sachen will man ja auch gar nicht in Frage stellen und dann merkte ich, wie das warm wurde und fasste mit der Hand hin und da hab ich ihn gespürt und der ist nicht mehr weggegangen seitdem und jetzt steh ich da und bin die Frau mit dem Stein im Blut, der wandert in mir herum wie son Weißnichtwas und manchmal merke ich ihn besonders, wenn er in die Fingerkuppe rutscht, er reagiert nicht magnetisch, aber wenn ich ihn morgen zu nah an den Fön halte, den Finger, dann pulsiert die Kuppe mit dem Stein und das ist dann wie damals, ich weiß noch die Sonne und ich weiß, wie lächerlich es ist, wenn ich morgens zu spät komme wegen einem scheiß Fön, ich weiß, wie sehr mein Nachbar das hasst, ich weiß, er schläft lang, aber da muss er durch, der Nachbar, weißt du, manchmal spüre ich noch, wo der Stein ist, der schwimmt ja auch rum, und ich bin froh, wenn er im Finger sitzt, ich will den da am liebsten festketten, weil dann rutscht er mir nicht in die Lunge oder so, nicht unter die Fußsohle, ich will, dass der da bleibt, das sage ich ihm jedes Mal, wenn ich ihn erwische, aber er bleibt da nicht, er wandert rum, als würde er immer noch suchen ““ aber jetzt wo ich ihn verschluckt hab, immer mitnehme, ich werd den ja nicht mehr los, weißt du, jetzt muss wenigstens ich das nicht mehr.“

Wahre Liebe, voll optimiert.

Tinder

Mit Kati Krause habe ich einen Text über die Erwartung an Dating-Apps, die Suche nach der großen Liebe und Missverständnisse in der Kommunikation für WIRED Germany geschrieben. Das Heft gibt es noch bis zum 27. April am Kiosk. Online gibt es den Text hier.

What you see is what you see.

Hearts

Morgens stand ich vor dem Spiegel, vorher kein besonderer Tag, und ich könnte nun nachschauen im Buch, weil ich ihn danach im Kalender markierte, aber das war ein Morgen wie immer, danach auch noch und trotz Markierung, und dann sah ich das weiße Haar. Ich bin jetzt 30 und dies ist mein erstes. Es war relativ kurz und richtete sich manchmal auf und um es mir genauer anzusehen, rupfte ich es aus. Vielleicht auch einfach aus Reflex, weil man das so beigebracht bekommt, jedenfalls bereute ich es ein paar Sekunden später schon wieder, als es auf meiner Handfläche lag und ich nicht wusste, wohin damit. Schmeißt man weg, so ein graues Haar, aber auch das erste? Die Babyhaare heben wir auf. Ich jedoch eigentlich nicht, weil sich in mir irgendetwas gegen das Sammeln und Verpacken in Boxen von Körperextensionen wehrt. Schon die Aufbewahrung der Milchzähne war nur so mittel meins, was ich merkte, als mir einer davon mal in der Hand zerfiel und damit auch jegliche Vorstellung seiner Beschaffenheit. (Für Konsistenz hat man immer wenig Gefühl, bis man sie am eigenen Leib spürt, die Vorstellung von Konsistenz ist meistens so vage, dass es möglich ist, sie an den Rand des Schlimmstmöglichen zu treiben.) Am Ende lag der Zahn zerfallen auf meiner Lebenslinie, viele Jahre später spürte ich noch einmal einen Milchzahn direkt in meinem Mund brechen. Auch so ein Konsistenzmoment, den man nicht mehr vergisst. Aber das hier war nur ein Haar, ein schneeweißes, ein paar Zentimeter langes Haar. Ich warf es weg. Notgedrungen. Fingernägel hebe ich auch nicht auf. Aber dieses Haar hätte ich dann doch lieber einfach dort gelassen, wo es gewachsen war. Auf der rechten Scheitelseite, vordere Mitte.

Ich dachte auf dem Weg in die Arbeit darüber nach, über meinen Reflex, das Haar auszureißen, das Gefühl, von dem ich immer eine Vorstellung hatte, über körperliche Veränderung und was man eigentlich erwartet. Ich bin aufgewachsen mit dem Grundgefühl einer Angst vor dem Älterwerden, ich begegnete in Gesprächen und in Magazinen Cellulite und Anti-Falten-Cremes lange bevor ich mich als Zielgruppe dafür eingestuft hätte. Und welche Chance haben wir denn? Über körperliche Veränderung zu reden, wie sie nicht passiert? Ich spüre jetzt, wie groß dieses mediengewordene Unbehagen war, bevor ich es am eigenen Leib erfuhr, wie man reingeredet wird in diese Komplexe, in das Hinterfragen des eigenen Fleisches und ob es die richtige Form und Temperatur hat, wie man nicht bestärkt, sondern vor allem verängstigt wird von Medien, Umfeld und Gesellschaft. Doch nun (ist mir neulich aufgefallen) und mittlerweile vor allem scheine ich von mir als Person ein anderes Bild zu haben als alle Spiegel dieser Welt. Dazu muss man sagen: ich besitze keinen Ganzkörperspiegel. Das war zum einen eine architektonische, zum anderen eine Körpergefühlsentscheidung. Ich wollte mich nicht mehr jeden Tag im Spiegel sehen. Nicht, weil ich den Anblick so schrecklich fand, sondern weil ich mich lieber wieder mehr spüren wollte. Was fühlt sich für mich gut an? Was möchte ich tragen? Und wie egal ist es eigentlich, wie das im Spiegel aussieht? Was daraus geworden ist: der Wunsch, keinen Ganzkörperspiegel mehr zu besitzen, also nie wieder. Und manchmal sehe ich mich in Schaufenstern und erkenne mich nicht. Da steht eine Frau, die, so glaube ich, so alt aussieht, wie sie ist. Eine Frau, die Falten um die Augen hat und Cellulite am Hintern (so sagen die selten besuchten Spiegel in Umkleidekabinen von Klamottenläden, nicht weil ich mich nicht sehen will, sondern weil ich mich von diesem Bild nicht mehr so abhängig machen möchte), eine Frau, die mittlerweile zwei Größen größer kauft als noch vor drei Jahren. Eine Frau, die nicht ganz so aussieht, wie die Frau in meinem Kopf. Sie sieht älter aus. Sie hat mehr Falten. Anscheinend hat sie auch demnächst ein paar graue Haare. Aber sie grinst.

(Und deswegen werde ich immer fragen „Wieso nicht?“, wenn jemand beschämt wegsieht und murmelt. dass er oder sie nicht über sein erstes graues Haar reden möchte. Ich werde es respektieren, aber vielleicht werde ich einfach von meinem erzählen und dann ist es nicht mehr ganz so schlimm. Vielleicht ist es sogar irgendwann einfach normal.)

The blue sky will smother us, believe me.

Oben

Der Rotwein im Flugzeug setzt sich sofort in die Beine, sinkt langsam herab bis zu den Knöcheln und steht dann dort wankend herum, ich spüre, wie er sich von innen gegen meine Haut lehnt. Walk off von The National, während draußen nur kleine Punkte zu sehen sind, wenn ich meine Stirn an das kühle Fensterplastik presse. Wie viele haben das heute schon einmal getan? Ich habe die Reihe nur für mich. Auf dem Bildschirm oben fliegt das Flugzeug über Grün hinweg, in echt fliegt es durch Schwarz hindurch. In Flugzeugen spüre ich immer alles gleichzeitig, was ist, vielleicht weil der Luftaustausch so begrenzt ist, früher hab ich Panikattacken davon bekommen, mittlerweile schaffe ich es, eher belustigt in mich hineinzusehen. Es gibt Leute, die sagen, in Zeiten von gleichzeitigen Zuständen, die man sonst sicherlich nicht nebeneinander einsortieren würde, sei das Wichtigste Milde und Geduld und Reflexion, vor allem sei das Wichtigste, sagen die Menschen, sich immer wieder zu schütteln und sich nicht mit der erstbesten Antwort zufrieden zu geben, weil das Leben eben so nicht ist, so simpel, das Leben nicht und eben keiner von den Köpfen, kein einziger, es gibt zwar nur eine Antwort, die gilt, aber nie nur einen Grund. (Milde ist das Schwerste beinahe, stimmt’s? Weil es dann kein Ausweichgefühl mehr gibt, sage ich den Leuten, deswegen ist das am Schwersten. Mit sich milde zu sein. Total surrender, das ist die Extended Child’s Pose als Gefühl. Practice forgiveness as a way to keep moving forward.) Walk off and drink from the river. Als würde man beim Landeanflug mal schlucken und plötzlich hört man wieder was. Tut weh, ist zu laut, aber so ist’s normal, also wie nach dem Schlucken, man hatte das nur vergessen, sehr schnell sogar. Zwischen uns und der Stadt liegt Nebel, den man jetzt erst sieht, kurz vorm Boden.

And away with the minutes

The Room

Wir gehen spontan und ein bisschen zufällig dann doch hin und dann gibt es diesen großen Raum mit den Notenblättern an der Wand, meinen Lieblingsraum, ich könnte ewig dort stehen und gucken, wie die Leute gucken, und irgendwas zwischen diesen Notenblättern macht mich ruhig, das nichts mit dem Klavier im Raum zu tun hat, das Klavier ist mir schon beinahe wieder zuviel, aber neben den ganzen Schaukästen, in denen die anderen Exponate stehen, neben den Anordnungen und der Bemühung, allem Raum zu geben, gefällt mir hier, dass einfach alles voll ist mit Noten, aufgeschriebener Musik, kleinen Akzenten, alles sortiert, aufgehängt, fertig, da bleib ich. Im Keller bellen die Hunde, auch noch so ein Kontrast, den ich mag, das Bellen, angeblich 24 Stunden lang aufgenommen, und an der Wand auf den Leisten dann die Kontaktabzüge, winzig und mühsam anzusehen, auch das unruhige Braun der Leisten macht es nicht besser, aber genau so hat es auch was von Zwinger, von der Gegenwart der Hunde, man muss sich anstrengen, man spürt, was es braucht, dabei zu bleiben und nicht abzubrechen, auch weil es so abgetrennt ist vom Rest. Und dann The Room With My Soul Left Out, The Room That Does Not Care. Bekommt mich so sehr, dass ich gar nicht sprechen kann, es ist vermutlich auch mehr der Titel, der mich so rührt, als der Ort an sich. Aber der Titel, meine Güte, alles andere als Gerümpel und ich muss das Exponat, den Raum, die Turnhalle, den Zufall nach kurzer Zeit wieder verlassen, weil Rührung in einer fremden Menschenmasse mir noch nicht bekommt, (aber das wird schon). - „Wenn Ihnen etwas zu nahe kommt, konzentrieren Sie sich auf die Frisuren, Sie werden viel zu tun haben für mehrere Minuten, das macht es leichter, probieren Sie es mal aus, Scheitel, Koteletten und sorgsam geflochtene Zöpfe, aus denen jemand mit höchster Anstrengung Strähnen so gezupft hat, dass es aussieht wie ein Versehen. Reines Seelenheil, dem zuzusehen, wenn es dem Zwerchfell pressiert.“

20. März 2015 – Lesung & Konzert

Lesung

Am 20. März machen Lars und ich, was wir gern einmal im Jahr tun: Lars singt, ich lese. Da dieses Jahr kein neues Buch erscheint, weil man sich ja irgendwann auch mal um sein Leben und den ganzen Rest kümmern muss, lese ich aus den Büchern, die es schon gibt, und aus diesem Notizbuch hier. Lars wird ein paar neue und vielleicht auch alte Lieder spielen. Los geht es um 19:30 Uhr, der Eintritt ist frei.