Kiesbett

Strand

„Man kann sich nicht einfach umdrehen, weil es beim Menschen ja nicht einmal so ein richtiges Oben und Unten gibt, man kann sich nicht einfach andersherum legen, damit heraus läuft, was wie ein Steinchen in einem herumschwimmt, weil in einem vielleicht das Blut umzieht, aber das Blut nimmt auch nicht immer alles mit, nicht weit genug jedenfalls. Man kann sich nicht einfach umkrempeln, man wird auch nicht einfach so zu einem Grobstrickpullover, durch den alles fällt, Regen und Wind und Fluggeschwindigkeit und eben diese Steinchen, die nebeneinander so aussehen, als dürfe nie eine Welle kommen oder der Plastikeimer einer Urlaubsfamilie, ein Rentner mit einem besonderen Hobby oder einfach nur ein alter Hund. Wenn man sie einzeln findet später in Jackentaschen, nachdem sie durch das nicht mehr warme Jahr getragen wurden, wenn man sie dann findet, glänzen sie nicht mehr, die sind eher völlig stumpf dann, haben andere Farben und kleben einem unsouverän in der Handfalte, es ist nichts anders und eben doch alles, die wurden nicht einmal abgeschmirgelt, denn Taschentücher und Kaugummipapier und Schlüsselbänder sind relativ untalentiert, was das angeht, also die Schmirgelei von Strandgut, meine ich, und das Strandgut hat sich nicht verändert, aber wurde verkrümelt und diese Verkrümelung macht wirklich nur bei Teigwaren Sinn und dort ist sie zumindest meistens von wirklich kurzer Dauer. (…) Ich bin sogar noch einmal hingefahren, weißt du, ich habe versucht, alles zurückzubringen dorthin, wo alles richtig war, aber ich hab nichts mehr wiedergefunden, nur einen zerfledderten Zettel, eine Fahrkarte und eine Ahnung. Ich bin im Krebsgang über den scheiß Strand gerobbt und hab versucht, alles wiederzuerkennen, der Stein in der Tasche und der in der Faust sind nicht einmal beim Kopfstand an den richtigen Platz gefallen, obwohl ich reichlich dämlich mit den Beinen gestrampelt habe und mir Sand aus den Schuhen ins Nasenloch gerieselt ist, stundenlang hab ich da gestanden und mir lief das Meer in die unteren Wimpern hinein, oder halt das, was der Wind vom Meer rüberträgt, und später irgendwann klebten mir die getrockneten schwarzen Algen in den Hautrillen unter dem Knie. Es bringt halt auch nichts sich umzudrehen und zu schütteln, das habe ich ja kapiert jetzt, also auch, dass es ein Irrglaube ist, dorthin zurückzufinden, wo einen der Zufall ausgespuckt hat. Konnte der ja nicht wissen, dass das was bedeutet. Konnte der ja nicht wissen, dass ich doch noch einmal dorthin zurück will, haha, ich bin jedenfalls wirklich noch einmal hingefahren, aber ich hab die Stelle nicht gefunden, an der wir saßen, als alles richtig war, also habe ich mir den Kiesel in den Mund gesteckt, ich hab mich nicht getraut zu schlucken, aber ich wollte ihn aufbewahren, man soll sich ja auch aus Versehen oder mit Absicht abgeschnittene Finger in den Mund stecken, wenn man vorhat, sie wieder anzunähen oder annähen zu lassen, ich hab den Kiesel also unter der Zunge vergraben und dann war er irgendwann weg und ich hab gedacht, voll gut, einfach verschwunden, soll es ja geben, ist mir zwar noch nie passiert, aber soll es ja geben und selbst wenn man die Hoffnung an sowas schon aufgegeben hat, weiß man ja noch, wie sie aussah und schwups glaubt man wieder dran. Jedenfalls dachte ich erst: Soll es ja geben, der Stein ist weg! Aber er ist nur diffundiert, denn später als ich am Ufer saß, konnte ich ihn in meinem Ohrläppchen spüren, ich saß am Wasser, weißt du, und hab gedacht, das kann ja jetzt nicht sein, dass der einfach verschwunden ist, aber gut, manche Sachen will man ja auch gar nicht in Frage stellen und dann merkte ich, wie das warm wurde und fasste mit der Hand hin und da hab ich ihn gespürt und der ist nicht mehr weggegangen seitdem und jetzt steh ich da und bin die Frau mit dem Stein im Blut, der wandert in mir herum wie son Weißnichtwas und manchmal merke ich ihn besonders, wenn er in die Fingerkuppe rutscht, er reagiert nicht magnetisch, aber wenn ich ihn morgen zu nah an den Fön halte, den Finger, dann pulsiert die Kuppe mit dem Stein und das ist dann wie damals, ich weiß noch die Sonne und ich weiß, wie lächerlich es ist, wenn ich morgens zu spät komme wegen einem scheiß Fön, ich weiß, wie sehr mein Nachbar das hasst, ich weiß, er schläft lang, aber da muss er durch, der Nachbar, weißt du, manchmal spüre ich noch, wo der Stein ist, der schwimmt ja auch rum, und ich bin froh, wenn er im Finger sitzt, ich will den da am liebsten festketten, weil dann rutscht er mir nicht in die Lunge oder so, nicht unter die Fußsohle, ich will, dass der da bleibt, das sage ich ihm jedes Mal, wenn ich ihn erwische, aber er bleibt da nicht, er wandert rum, als würde er immer noch suchen ““ aber jetzt wo ich ihn verschluckt hab, immer mitnehme, ich werd den ja nicht mehr los, weißt du, jetzt muss wenigstens ich das nicht mehr.“