Jalousie
Im Wartezimmer sitzt mir gegenüber eine ältere Frau. Sie wurde gebracht, ihr hilft ein junger Mann, ich vermute, Anfang 20, vermutlich macht er gerade Zivildienst. Sie hat die gleiche Frisur wie meine Uroma damals. Von vorne sieht es aus, als hätte sie einen Zopf, doch wenn man sie von der Seite anschaut, bemerkt, dass die kürzeren grauen Haare so nach hinten gekämmt wurden, dass es nur den Anschein eines Zopfes macht. Diese Frisur bekommen Frauen, wenn sie zu alt sind oder zu gebrechlich, um sich selbst die langen Haare zu waschen, zu kämmen und zu flechten. Meine Uroma hatte einen Zopf bis zu den Pogrübchen, der unten immer dünner wurde und jeden Tag geflochten und dann zu einem Dutt gesteckt wurde. Das war Omas erste Niederlage, als der Zopf abgeschnitten wurde. Sie war unglücklich darüber, ich erinnere mich noch.
Die Dame im Wartezimmer hat sich schick gemacht, ein wenig. Eine rosa Strickjacke über dem naturweißen Wolloberteil, Slipper in Schlangenlederoptik. Oder ist es Krokodil? Irgendein Tier jedenfalls, und die Handtasche beinahe passend. Und Hosen. Hosen hat die Uroma auch immer getragen, aber nur im Winter. Wenn Oma die Hosen trug, wusste man, kälter wird’s nicht mehr. Sonst trug sie immer Röcke mit Strumpfhosen.
Als die Frau vom Zivi hineingebracht wird, mache ich ihr den Platz neben der Tür frei, damit sie nicht quer durchs ganze Wartezimmer wackeln muss. Sie bedankt sich und sitzt nun in der Sonne, aber die ist ihr zu hell, sodass sie sich auf die Lehne und in den Schatten stützt. Sie schaut nur. Beinahe eine Stunde. Und sieht müde aus. Der junge Mann zockt auf dem Handy, ich lese das Buch von Nina Kunz, das N. mir zu Weihnachten geschenkt hat. Die Dame schaut nur, in die Gegend, ins Nichts. Manchmal fallen ihr die Augen zu. Sie ist blass. Durch ihre Haut sieht man die dunklen Adern auf den Händen, im Gesicht. Die Handtasche hat sie die ganze Zeit auf dem Schoß, die lässt sie nicht los. Aber sie hat darauf bestanden, dass der Mantel aufgehängt wird, ordentlich.
Der Himmel hinter den Jalousien ist blau und wolkenlos. An der Wand hängt eine Illustration von vier Palmen. Visit Miami. Wir geben uns alle Mühe. Wir tragen alle FFP2-Masken. Im Nebenzimmer soll jemand Buchstaben von einer Tafel ablesen, die immer kleiner werden. Im Wartezimmer sieht man immer genau, wie die Zeit vergeht, weil das Licht wandert von Mensch zu Mensch und aus dem Fenster wieder raus.
Kommentare
Seit Monaten, eigentlich seit Jahren habe ich hier nicht hereingeschaut. Twitter abgemeldet, nun wende ich mich vielleicht wieder mehr Blogs zu.
Und ich sehe, auch bei dir hat die Zeit viel verändert, du hast wenig geschrieben. Doch man liest immer noch deine genaue Beobachtungsgabe und deine Zuwendung zur Welt. Ich würde mich freuen, wieder mehr von dir zu lesen!