Golgata
Ob sie auch mal etwas sagen dürfe, fragt sie, als wir da um den Tisch in dem kahlen Raum sitzen. Nur das Kreuz an der Wand und zwei, drei Bilder, ihnen genügt das, manchmal treffen sich hier die Anonymen Alkoholiker. Sie hat eine lederne Tasche über der Schulter, die nimmt sie die ganze Zeit nicht ab, als klebe sie an ihr, auch die Jacke zieht sie nicht aus, darunter trägt sei ein Blumenshirt aus Samt, das ihr die ganze Zeit über den Bauch rutscht, sie scheint das nicht zu bemerken, vielleicht aber doch, ich bin mir nicht sicher. Den Kaffee, der ihr angeboten wurde, den hat sie dankbar angenommen, eigentlich sei sie nur gekommen, um sich die Kirche anzuschauen, sie sei hier schon ein paar Mal vorbeigelaufen, im Wedding wohne sie, manchmal spaziere sie hier rüber nach Mitte. Wenn sie spricht, sieht man die Neuropathie und die Schmerzen, die sie macht, es ist, als sei eine Seite ihres Gesichtes einfach etwas schwächer als die andere. Es sei wirklich leicht rauszufallen, sagt sie leise und schaut dabei auf ihre Hände, die Finger ineinander verschränkt, die dunklen Haare fallen ihr ins Gesicht, eine Dauerwelle, die schon eine Weile her ist. Wenn sie die Kaffeetasse nimmt, zittert sie ganz leicht, verschüttet nichts, aber braucht einen Moment, um im richtigen Winkel anzusetzen. Wenn sie spricht, hört man den Alkohol, aber auch, dass es besser ist, wenn sie sich konzentriert und nicht unterbrochen wird, vor allem von sich selbst nicht. Immer wieder rutscht sie aus ihren Sätzen, schaut auf einen Gegenstand im Raum und kämpft sich irgendwann zurück, manchmal an eine andere Stelle in der Geschichte, an der wir anderen noch nicht angelangt sind. Sie habe in der Pflege gearbeitet, dann kam der erste Unfall, danach erst einmal arbeitsunfähig. „Jetzt kommen die Roboter“, sagt sie, „die werden unsere Arbeit machen und dann braucht man uns noch weniger.“ Die ehemalige Krankenschwester der Runde lacht, das sei doch unmöglich, Roboter, so ein Unsinn, jeder Hintern sei schließlich anders, das könnten Roboter gar nicht machen. Doch sie ist nicht abzubringen, und wer kurz hinhört und den Satz auf dem Tisch liegen lässt, der versteht, dass die Roboter in ihrem Kopf nur Angstvertreter sind, dass sie sich an ihnen abarbeitet, weil die Roboter nicht widersprechen. Das sei im Fernsehen gelaufen, das könnten wir ruhig glauben, sagt sie und schaut einem dann doch mal in die Augen, „ich glaube dir“, sage ich und meine vor allem das, was sie sich nicht traut zu sagen. „Die Computer verstehe ich nicht, dann ist man auch raus, heute läuft ja alles darüber, auch Anträge, wissen Sie, und wenn man dann nicht den richtigen Knopf findet oder was falsches drückt, das hat dann Auswirkungen darauf, was man am Ende rausbekommt“, sagt sie, es ist ihr unangenehm. Dass sie nicht mithalten kann mit dem Tempo, dass alles weitergeht, man hört ihre Scham und ihre Wut, auf wen genau, hört man nicht, aber es helfe nichts, sagt sie, wenn man denen, die vom Alkohol nicht loskommen, noch Restriktionen auferlege, und dann sagt sie noch: „Eine Hand bringt viel mehr, die einen einfach nicht loslässt, wissen Sie? Das ist was anderes als Briefe vom Amt.“ Dann verheddert sie sich wieder, erzählt von den zwei Ladenbesitzern, die sich hätten umbringen wollen, weil ihnen die Miete um 2500 Euro angehoben worden sie, sie hätte unten gestanden und nichts aufmunterndes sagen können, weil sie sie ja verstehen könne. Sie verabschiedet sich über zehnmal, und setzt immer wieder neu an, es klingt, als habe sie all diese Sachen so oft von links nach rechts getragen, dass sie nicht mehr weiß, was eigentlich wohin gehört. „Wir sind nicht alle gleich“, sagt sie, bevor sie dann doch aus der Tür geht.