Die zwanzigste Woche Jahr

Neukölln

Ich vergesse es wieder und wieder. Aber plötzlich versucht ein Mechaniker direkt um die Ecke, die Schwenkbraterei in Gang zu bringen, während sich zwei andere Monteure über einem Generator in die nicht vorhandenen Haare kriegen. Die Autofahrer, die aus irgendwelchen Gründen, durch genau diese Gegend fahren müssen, hupen sich in regenbogenfarbene Rage, den Stau interessiert das allerdings herzlich wenig. Es scheint eher, als gefiele er sich in der Rolle des aufgebrachten Orchesters, und verweilt noch etwas. Das Karussell heißt „Kindertaumler“, ich wünsche mir leise, dass der Mechaniker nicht nur bei der Schwenkbraterei, sondern auch hier mal einen Gang hochschaltet. Vor der Bibliothek stehen bunte Zelte, dazwischen sitzt ein sehr traurig aussehender Mann, und es besteht eine reelle Chance, dass wir uns beide gerade dasselbe fragen. Zwei Tage später hüpft die frierende, aber tanzende Meute mit roten Sparkassen-Ballons über die Gneisenaustraße. „Gut“ steht in weißer Schrift darauf. Das genügt den meisten schon. Sie trinken gegen die Kälte und die seltsame Stimmung, manchmal drängelt sich ein Krankenwagen mit Sirene hindurch. „Willst du was?“ grinst uns ein junges Mädchen an und quietscht ein bisschen zu laut. „Was denn?“, fragen wir. „Kein MDMA. Nur Aphrodisiakum!“ Wir lehnen dankend ab, aber fragen, ob’s schon wirkt. „Ich bin ein rolliger Rollmops“, brüllt sie und hüpft dem Metal-Karaoke-Wagen hinterher. Aus der Wohnung über der Apotheke wummert der Beat, die Tanzenden werfen Konfetti nach unten, die, die nicht mehr hinein passen, warten unten und frieren und gucken oder knutschen oder müssen irgendwohin oder rufen Standorte in Mobiltelefone. Im Späti tragen die Verkäufer Headsets, um sich über die Bassbox hinweg verständigen zu können, die Becher mit den Redbull-Dosen sind schon vorbereitet, die Preise wurden mit Edding draufgeschrieben. Man will nicht zuviel reden müssen. Im Bulli schläft ein Polizist. Am nächsten Morgen sehen die Bürgersteige aus, als wäre dreimal Silvester gewesen. Der junge Mann im Bananenoutfit schafft es nicht, von der einen Seite des Klettergerüsts auf die andere zu springen, aber das macht nichts.

Ich kannte das kleine Stück Wiese nicht im hinteren Neukölln. Und auch den Hof mit der alten Zapfsäule nicht. Steht man drin, ist die Stadt ganz weit weg. Die Wege sind ein bisschen zu gerade und zu sauber, um den guten Willen zu vergessen, aber vielleicht muss man das gar nicht, hier wächst ganz schön viel Zeug auf ziemlich wenig Platz. Und die, deren Balkon hier rüber zeigt, benutzen ihn auch. Nur über den Zaun klettern ist verboten, das dürfen nur Kinder, die bekommen auch eine Trittleiter, wir sind jetzt erwachsen, wir müssen außen herumgehen, das ist schon in Ordnung. Man putzt hier ja schließlich noch eigenhändig das Graffiti von den Wänden.

In a strange turn of events, texting has evolved to become almost as awkward as the phone calls it made obsolete“, schreibtJenna Wortham darüber, wie Text das Telefonat ablöste und nun durch Apps wie Snapchat wieder nicht-schriftlicher Ausdruck von Emotion in digitale Konversation Einzug hält. Dieser Text ist auch so schön, weil er einordnet, anstatt sich augenrollend abzuwenden. Ich muss immer lachen, wenn Erwachsene ihre Überheblichkeit gegenüber jugendlichen Lebensstils an Apps wie Snapchat abarbeiten. Als müsse irgendetwas in dieser Lebensphase Sinn machen. Als hätten sie damals nicht von Albernheit, Momentum und zu süßen Limonaden gelebt. Als würde man in diesen Jahren irgendetwas anderes atmen als die Luft zwischen „Alles ist möglich“ und „Ich bin nur ein Atom“. Als hätte niemand früher die eigene Wirkung in Mikrozirkeln ausprobiert, Selbstdarstellung geübt, Lautstärken moduliert. Schön auch auf der Schiene daneben der Text von Nils Markwardt: „Bisweilen wirkt es so, als ob die Kulturkritik sich derart in Reflexen eingerichtet hat, dass sie sich für jene gesellschaftlichen Mikrokosmen, die sie zu beschreiben versucht, eigentlich nicht mehr wirklich interessiert. Würde sie das tun, müsste sie nämlich eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen anerkennen, also akzeptieren, dass ihre Gegenstände ambivalent sein können, dass nicht hinter jeder Abseitigkeit gleich ein „falsches Bewusstsein“ lauert“.

Wir sitzen in Neukölln auf einer dieser selbstgebauten Baumbeetumrandungen aus Holz, wir lachen laut und drücken uns die Nase an Peppis Schaufenster platt. Mäuse in einem Käsegeschäft ist auch beinahe zu comic-esk, um wahr zu sein. Aber wir sehen sie flitzen und sitzen gerade wieder, als es neben uns knallt. Erst vermuten wir, jemand habe die kleine Cointreau-Flasche geworfen, die neben uns im Rinnstein liegt, doch die hätte den Sturz nicht überlebt. Als wir aufstehen, um zu gehen, sehen wir das zerklatschte Ei auf dem Autodach.

Geoff Farina spielt in dem Zimmer in einem Haus irgendwo im Wedding. Die blaue Stunde zieht vorbei und während Mock als Vorband spielen, betrachte ich noch das Publikum. Jeden zweiten davon könnte man vor zehn Jahren schon einmal gesehen haben, wir sind alle mitgewachsen. Die T-Shirts leicht verblichen, wir tragen auch alle immer noch dieselben Schuhe. Als würden wir in den Sommern immer noch in Scheunen fahren auf dem Land, um in Ruhe im Feld zu sitzen oder Musik zu machen, als könnte das jederzeit wieder passieren, dass wir uns Hals über Kopf in das Wasser werfen, von dem uns die Temperatur egal ist, einfach um nachher zittern zu können, weil wir doch in dem Alter waren, in dem wir alles zumindest einmal gefühlt haben wollten. Geoff singt jetzt Melodien, die nicht mehr zögern, sondern sich eingerichtet haben, unter uns gibt es Fans. Manch andere sind nur da, weil sie ihn noch mal sehen wollten, der alten Zeiten wegen.