Die sechzehnte Woche Jahr

Fassade

An der Wand des Restaurants hängen Rennräder und damit verbindet man ja immer schnell so eine sich festsetzende Jugendlichkeit, die nicht merkt, wenn ihr Träger älter wird, wie Mascara, die über den Tag ein wenig verrutscht und irgendwann nicht mehr über, sondern unter dem Auge liegt. Jedenfalls hingen da diese Räder und ich musste grinsen und dann stand J. vor mir und für einen kurzen Moment passte er zu den Rädern, wir kannten uns von früher aus den Zeiten, in denen wir jeden Tag in der Woche ausgingen oder zumindest jeden zweiten und der Schlafmangel keinen Einfluss hatte auf die Restverfassung, das leichte Schwanken wurde eingebaut in den Tag, die anderen dachten, wir tänzeln. Jetzt ist er Vater, jetzt trägt er eine Schürze und kocht und ich trinke Rosé und merke, jetzt ist der Punkt, an dem wir beginnen zu sagen „Weißt du noch, vor zehn Jahren“ und damit nicht meinen, dass wir noch Kinder waren.

Es hat den ganzen Tag geregnet, am Morgen kurz nicht, Kreuzberg wieder leer, nur Jogger und Menschen mit Kindern streunern über die Bürgersteige, immer wieder leichter Niesel, der Wind rüttelt am Kanalwasser. Ich sitze mit A. an der Kreuzung, er drückt sich einen Sesamring quer in den kleinen Mund, ich habe Kopfschmerzen, aber das sage ich ihm nicht, er erzählt, auf der Straße habe es früher eine Grenze gegeben, und ich frage mich, wie man mit dreieinhalb eine Vergangenheit definiert, ich kann mich nämlich nicht mehr erinnern, jedenfalls habe es hier eine Grenze gegeben und die habe man dann eingekauft und nun sei keine Grenze mehr da und man könne die Straße überqueren, das ist der Teil, den ich verstanden habe. Wir zählen Motorräder, schauen zu, wie der Markt aufgebaut wird, dann kommt N. und wir spazieren zum Spielplatz. Keine Kinder, aber nasser Sand, dann Regen. Zu Hause rolle ich mich auf dem Sofa zusammen, weil man daran die ganze Woche denkt und es nicht tun kann, und dann am Wochenende muss Zeit dafür sein und dann nach einem kurzen Schlaf kommt doch die Sonne noch raus einfach so und ich öffne alle Fenster und setze mich auf das Fensterbrett und warte, bis die nächste große Wolke kommt. Dann wieder Regen.

Die Intensivstation erkennt man auch durchs Telefon. Ich bin erleichtert über diese nette Schwester, die mir jede Frage geduldig beantwortet, im Hintergrund piepst es, sie schaut extra noch einmal nach ihm und nimmt den Hörer mit. Allein durch zwei Minuten erklären beruhigt sie den Tag.

An unserem Tisch sitzen noch zwei junge Frauen, die ununterbrochen lästern, sie benutzen Vokabeln, bei denen A. und ich uns erschrocken in Augen sehen. So laut sprechen, dass wir sie nicht mehr hören, können wir nicht, aber noch einen Rosé bestellen und dann die Räder durch die Nacht schieben. Manchmal möchte man dort wohnen, wo dieses Schieben an einem großen Wasser endet. Die Schlachtfelder besprechen und sich dann hinlegen. Wir fahren an den See.

Mit der S-Bahn kurz vor dem Bahnhof Schönholz. Die riesigen Wolken und die Aprilsonne und dann fliegt ein Flugzeug hindurch auf Tegel zu. In Frohnau stehen zwei Männer, die sich nicht kennen, im gleichen Moment von ihren Sitzen auf. Beide ziehen sich eine wetterfeste Jacke an und klappen ihr High-Tech-Klappfahrrad auseinander. Sie sind sehr beschäftigt und sehen nicht, welcher Doppelgänger da neben ihnen steht.

Das Krankenhaus ist immer noch genau so trostlos wie früher. Sagt man nicht sofort am Empfang seinen Namen und zu wem man möchte, wird man angemault, das war damals schon so, aber sie haben neue Stühle, neue Tische in der Cafeteria, jemand kümmert sich um den Garten jetzt, also so, dass man es auch bemerkt. Man hört und sieht nicht viel von Menschen in den beigen Gängen, den Geruch hatte ich schon wieder vergessen und auch das Geräusch von den Desinfektionsmittelspendern. Wir hören ihn von draußen schon schimpfen. Als wir reingehen, begrüße ich ihn, dann öffne ich das Fenster, jetzt hört man die Vögel. Er hört sie auch.

Es wird ein Hörbuch geben.