Die achtzehnte Woche Jahr

Warnemünde

Wir fahren ans Meer. Wir spielen das Spiel: Wer einen Hochsitz sieht, muss trinken. Die Biere kommen schneller zu einem Ende als die Hochsitze, mir ist das vorher noch nie aufgefallen. Aber das Wetter macht mit und die Kinder daneben schlafen schnell ein und am Ende hatten viele, also wirklich sehr viele die Idee am Samstag nach Warnemünde zu fahren. Auf dem Pier ist es voll, viele Menschen in beiger Kleidung, die Akzente vermischen sich, das Beige ist bei allen gleich. Oder hellblau. Am Strand findet irgendein Fest statt, die Eisschwimmer beenden ihre Saison und gehen ins Meer, das uns noch beinahe unter den Nägeln gefriert. Sie haben einen schwimmenden Grill mitgenommen, es gibt einen älteren, leicht eingeschrumpelten Neptun mit langen grauen Haaren und einem Dreizack, seiner Frau ist das Wasser zu kalt, sie wartet an Land und reicht ihm später ein Handtuch. Von unserem Fenster aus können wir den orangenen aufgepusteten Papagei beobachten, der für Stunden in der Luft schwebt. Von der Sauna mit den großen Fenstern aus kann man den Sonnenuntergang sehen, der eigentlich nur ein blutroter Streifen zwischen zwei dunkelblauen Streifen ist. Es regnet erst, als wir schon drinnen sitzen und Negroni trinken. Ich träume von dem Bild, das im Zimmer hängt, zwei Mädchen fliegen in flatterigen Kleidern über einen Strand. Am nächsten Tag laufen wir den Waldweg einmal hin und einmal zurück. Im Zug höre ich eine Stimme berlinern: „Also son Profiler könnte dir aus dem Müll, den die dahin schmeißen, ’ne Charakteranalyse machen. Kann ick och: Dit sind Idioten.“ Mit dem Auto in Berlin einfahren, ist immer schöner, ich weiß gar nicht, warum, man hat Zeit und eine Knautschzone bis vor die Haustür, der Zug spuckt einen meistens schon viel zu früh raus und der Rest wird dann anstrengend. Ich öffne alle Fenster und höre den Mai. Wie die Haare quietschen, wenn man den ganzen Tag durch Seewind gelaufen ist.


„Um nicht weiter aufzufallen, machen wir ab jetzt die ernsten Augen, so wie wir es geübt haben.“ – „Ernste Augen und dazu einen heiteren, aber nicht zu heiteren Mund.“ (Saša Staniši?, Fallensteller, S.40)

Saša liest. Und diejenigen, die gekommen sind und nicht Fußball schauen, lachen auch. Saša liest immer so, als wäre da noch etwas anderes, nicht nur das Buch und das, was er vor einer Weile schrieb, sondern jedes Mal etwas Neues, von dem Tag, der gerade war, davon, wie er sich fühlt, von den Leuten, die da sind. Und Saša schreibt so, dass ich mich auf die Sätze legen will wie der Hund in der Bahn, der noch etwas jünger nicht genau weiß, wie er sich auf dem Rucksack positionieren soll, der neben der Bank steht, jede Haltung scheint unangemessen, aber loslassen will er den Rucksack nicht, eine Pfote oder die Schnauze oder gar der halbe Hund berühren den Rucksack die ganze Zeit von Station zu Station, und am Ende, weil junge Hunde mit einem Auge ja immer schauen müssen, was gerade passiert, und der junge Hund weiß das, am Ende legt er sich mit dem Gesicht zur Wand unter der Bank auf den Rucksack drauf, alle Viere von sich gestreckt, damit er nicht mehr abgelenkt wird und endlich nur noch bei dem Rucksack sein kann.

Manchmal fühlt es sich in diesem Zimmer an morgens, als sei die Welt stehengeblieben, weil sich erst etwas bewegt, wenn ich in die Küche gehe und der Spatz im Blumentopf sitzt, manchmal ist es auch die Amsel. Mittlerweile springen sie nicht mehr bei der kleinsten Regung ins Nichts, sondern bleiben manchmal zumindest regungslos sitzen. Und gucken. Und fliegen dann erst. Wieder gesehen, wie das ist mit einem Baum vor dem Fenster, dessen Schatten an den Vorhängen zuppelt. Als klopfe jemand, um zu sagen, dass er da ist, aber kein „Herein“ hören will. Als lautloses „Ich bin hier drüben, du kannst weiterschlafen, danach bin ich immer noch da“.