Retrospektive Wien: Pläne Crash.
Ich weiß nicht, wann wir es das erste Mal dachten. Als im Taxi zum Flughafen „I swear“ von All 4 One lief. Als ich mein Handy ausschaltete, und nicht mehr in der Lage war, es wieder anzuschalten. Als wir uns entgegen unserer Natur beschwerten. Und das auch noch bei einem Hotelmitarbeiter. Als wir das dritte Zimmer dann einfach nahmen, weil wir müde und alles andere irgendwie kalt und dunkel war. Als wir hungrig auf die Suche nach Nahrung gingen und uns in menschenleeren Kulissenstraßen wiederfanden, ohne eine Chance auf etwas Essbares. Als wir uns am Ende mit schlechtem Gewissen bei McDonalds saßen und Eis aßen, das eher wie Müsli war. Als wir im Morgengrauen nicht wussten, wie man die Heizung abstellt. Als wir in der Sorte Stühle saßen, bei denen man sofort Lust bekommt, einen Haufen Verträge mit einem Füllfederhalter und einer ausladenden Handbewegung zu unterzeichnen. Wir dachten: Die Welt kann froh sein, dass wir nicht permanent Webzugriff haben.
Die Frauen tragen Pelz. So viele tragen Pelz in allen erdenklichen Formen und Farben. Von hinten sehen sie manchmal aus wie dressierte Bären mit ihren schweren Halsketten und den haarlosen Füßen. Wir verlieren uns nachts zwischen den heruntergelassenen Gittern vor den Edelgeschäften, ganze Straßenzüge lang läuft uns niemand über den Weg, nur orange Laternen und der pfeifende Wind. Und manchmal lege ich eine kalte Hand an eine kalte Hauswand, um zu schauen, ob sie nicht aus Pappe ist. Ob sie nicht umfällt, wenn ich mich dagegen lehne. In unserem Hotel findet im Tagungssaal etwas statt, das man mit einem Schild beschreibt, auf dem steht: Politische Kindermedizin.
Im Fahrstuhl läuft Stummfilmmusik. Man möchte sich lautstark und absolut tonlos zu streiten und mit Geschirr zu werfen. Wir laufen herum und versuchen unseren Augen zu vertrauen, den Stadtplan zu meiden, auch weil es so kalt ist und in die Hände kneift, wenn man das Papier zu lange faltet. Wir laufen viele Wege mehrmals, aber frühstücken Marillenpalatschinken und Apfelstrudel. Wir knistern bei angenehm warmem Licht im Cafe Central, ich schaue mich um und sehe nur Touristen. Allein die Damen am Fenster mit den Frisuren aus Miami Vice von letzter Nacht und die Kellner scheinen, sich hier auszukennen, sie taxieren nicht die ganze Zeit und befühlen mit den Fingern nicht das Holz der Tische. In einer Vase steht ein Strauß mit riesigen Tulpen, so riesige Tulpen habe ich noch nie gesehen. Ich lese im Feuilleton den Text über Hegemanns Axolotl Roadkill und ärgere mich, kein Gedicht auswändig zu kennen. Ich glaube, es wäre ein gutes Gefühl, ein paar Zeilen rezitieren zu können, anstatt von der Kaputtheit zu lesen, von der wir schon soviel wissen. (Vielleicht hätte ich Helene gern kurz für ein paar Minuten aus der Zeitung raus und mit in dieses Café genommen. Denn die Kellner behandeln jeden gleich. Das tun die Journalisten nicht.)
Am Stephansdom klebt ein Plakat, das für die Akzeptanz spontaner Natur wirbt. Wir lachen noch Tage später darüber, ich nehme mir vor, das nicht zu vergessen. Bei H&M warte ich vor den Umkleidekabinen, da treffe ich William Fitzsimmons, oder jemanden, der sein Zwillingsbruder sein könnte. Er trägt das Kleid, das ich mir im Sommer von Katinka geliehen habe, als ich bei ihr in Leipzig zu Besuch war. Wir lächeln nicht, jedenfalls nicht so, dass man es sieht.
Wien schwankt. Es gibt Stellen, da wird man umgerannt, überfallen, da schwirrt einem alles, weil es so viele Menschen und Stimmen sind und zwei Straßen weiter hörst du schon nichts mehr. Du machst eine Tür auf und dahinter ist ein anderes Land, diese Stadt hat Grenzen, ständig und überall, so fühlt es sich an. Wir gehen in das Restaurant essen, das Erwin Wurm empfohlen hat, uns wird Brot mit Kräuterbutter in kleinen Töpfen hingestellt, jeder drei Scheiben, später finden wir es auf der Rechnung für beinahe zehn Euro. Aber der Kellner sagt „Die Dame“ und „Der Herr“ und dieser Ton entschädigt für vieles. In der Nacht auf dem Weg zum Veranstaltungsort laufen wir an einem Haus vorbei, auf dem steht: Drahtgitter Holly. Auf der Straße ist niemand, in der Straßenbahn sitzt auch beinahe niemand, zwei Männer trinken Bier in einem erleuchteten Schaufenster neben einer riesigen Eistüte aus Plastik.
In Wien macht man ein Open Air Konzert im Januar und 4000 Leute kaufen alle Karten weg, die es dafür gibt. Man hört Death Reggae And Glitchy Doom Dub sowie Digital Epileptic Breaks Metal. Im Taxi nach Hause läuft „Strangers In The Night“ und der Taxifahrer erklärt uns die Benennung der Bezirke. Ich muss an eine Rosinenschnecke ohne Rosinen denken. Den Sonntag verbringen wir im MuMoK, irgendwann schwirrt mir der Kopf, aber als ich in dem riesigen Raum im Untergeschoss stehe, stockt mir der Atem. Ich wäre gern ein bisschen für immer dort geblieben. Kapitän Strohschneider fliegt uns zurück nach Hamburg. Als ich wieder zuhause bin, erinnere ich mich an das Gefühl von vor ein paar Stunden. Aus „plane crash“ macht das Telefon ohne zu fragen „Pläne Crash“.
Manchmal sind so Kurzreisen wie der Wind, wenn du ohne Jacke über den Museumsplatz läufst. Du frierst und spürst beinahe nichts mehr, so sehr spürst du alles, und dann fragst du dich, was du da eigentlich tust, weil es in diesem Moment natürlich gerade dunkel wird. Und dann kommst du wieder ins Warme. Das ist, wenn du feststellst, dass der Wind es war, der dich wach gemacht hat. Ja, ich bin mir ganz sicher, der kalte Wind war’s.