Die Sache ist ja die, dass es so viele Sachen sind.

Thema: Einem die Schuhe aus

Blutorangen

Ich sitze auf der Treppe und warte auf Achim. Es ist das zweite Mal in drei Wochen und ich glaube, Achim hat mich am Telefon wiedererkannt, schließlich habe ich nach ihm gefragt, nachdem ich erst in meinem Telefon nach der Nummer gesucht habe, letzte Anrufe, vor drei Wochen, die Liste ist lang, Mama nicht, Papa nicht, die 0800er-Nummer auch nicht, vom Datum her passte nur die eine und ich kam direkt durch. Aber dass Achim nicht am Telefon war, erkannte ich sofort, aber der Typ sagte was mit Schlüsseldienst und ich fragte nach Achim, denn Achim hatte das vor drei Wochen sehr gut gemacht, nicht nur das mit der Tür, sondern auch das mit mir. Er hatte das im Hausflur herumliegende Obst ignoriert, das ich noch nicht wieder eingesammelt hatte, als er kam, obwohl ich mir das kurz nach dem Toben fest vorgenommen hatte. Ich wollte nur kurz ausruhen, man muss sich ausruhen, wenn man sich sehr feste aufgeregt hat mit Haut und Haaren und Füßen und allem, was man so dabei hat, außer dem Schlüssel halt, dem ganzen anderen Scheiß, der Tasche, dem Obst, dem Joghurt, den habe ich nicht geworfen, aber der Tag war halt scheiße gewesen und dann war der Schlüssel am Ende weg und ich dachte erst und dann rief ich es auch, das kann doch jetzt nicht wahr sein. War aber wahr. Wenn ich eine Definition von wahrhaftig aufschreiben müsste, das wäre sie gewesen, wahrhaftige Scheiße, aber so poetisch denkt in so einem Moment ja kein Mensch. Oder nur sehr komische Menschen, Menschen, die so reden, wie ich in Aufsätzen schreibe, wenn ich meiner Lehrerin gefallen will, sind mir unheimlich, so unheimlich, dass ich ihnen aus dem Weg gehe, wenn ich kann, weil ich sie jedes Mal schütteln will, wenn sie den Mund aufmachen, weil ich glaube, dass das nicht sein kann, dass alle Gedanken so aus einem herauskommen, als hätte sie ein kleines Männlein oder Fräulein im Kopf noch einmal in seine oder ihre warmen Hände genommen und in Form geknetet wie so eine hässliche Tonfigur, die man im Kindergarten stolz auf das Brett gelegt, ein bisschen darauf herumgedrückt und dann „Fertig!“ gesagt hat, freudestrahlend natürlich. Und dann kam jemand, der schon erwachsen war und hat „hier noch mal die Nase ein bisschen weiter raus“ oder „guck mal, ein Lächeln für den Drachen“ hinein modelliert und dann sah es plötzlich wirklich aus wie etwas und nicht nur wie eine Ahnung davon oder halt mehrere Dinge auf einmal. Mich gruseln diese Menschen, die so reden, obwohl ich gar nicht weiß, ob sie ein kleines Menschlein im Kopf oder einfach nur einen an der Waffel haben, jedenfalls war Achim nicht so ein Mensch und das beruhigte mich ungemein, als ich unter den Briefkästen neben einer Blutorange saß und den Tag hasste und meine Blödheit, ja eigentlich vor allem meine Blödheit, denn mein Kopf, der schafft es selten, alles beieinander zu behalten, die Schule und das Einkaufen und die Hausaufgaben und das Putzen und das Bescheidgeben und das Ausfüllen des Haushaltsbuches und vor allem das, was dazu geführt hat, dass ich das jetzt machen muss, vor allem das. Aber das sagt man ja nicht, wenn jemand nach dem Grund für irgendwas fragt, „Bist du scheiße drauf?“, dann nennt man eben eines der Dinge aus der Liste und dann wird nicht weiter gestochert und das ist gut, besser jedenfalls als wenn die Fragen weitergehen würden, und Achim, der kam einfach direkt, nachdem ich angerufen hatte, als wäre der auf der Stelle losgefahren, um mir aufzumachen, wahrscheinlich hat er es genauso gemacht, aber das Sprechen im Konjunktiv sichert einen ab, das Denken im Konjunktiv noch viel mehr, falls man sich irrt, das wirkt dann so, als habe man es bereits vorher gewusst. Dass die Möglichkeit eines Irrtums besteht. Davon kriegt man keine Blasen. Achim hatte das Obst bemerkt, das hab ich gesehen, das fällt ja auch auf bei den weißen Fliesen unten im Hausflur, es liegt auch selten einfach Obst herum, das man sich nehmen kann, es sei denn, man sitzt in diesen Räumen bei der Familienberatung, da steht immer Obst auf dem Tisch und Saft in sehr kleinen Flaschen, die keiner anrührt, weil es keinen Öffner gibt und für das Öffnen mit den Zähnen ist eigentlich niemand cool genug. Jedenfalls hat Achim zu dem Obst nichts gesagt und das fand ich nett. „Wo müssen wa’n hin?“, hat er gefragt, kein Hallo, das war fast so, als würden wir uns schon kennen, kannten wir ja auch ein bisschen vom Telefon, aber es war wohl ziemlich offensichtlich, dass ich diejenige war, die angerufen hatte, und auch das gefiel mir. Mir gefällt, wenn was passt. Ich hab den Staub in der Luft gesehen, als ich Achim die Haustür öffnete, damit er rein konnte in den Flur, weil das Licht mit ihm hineinkam, „wie in so nem Film“ hab ich gedacht, aber dann fiel die Tür wieder zu und der Staub war nur noch unsichtbar wie sonst auch immer. „Wie bist’n hier reingekommen?“, fragte Achim dann doch noch, als er hinter mir her die Treppe hinaufging, aber irgendwie so, als müsse ich gar nicht antworten, wir waren ja schon drinnen, jetzt war’s auch egal. „Nachbarin“, sagte ich und versuchte, nicht zu schnaufen, das Obst hatte ich einfach liegengelassen, ich wollte so schnell wie möglich einfach rein, die Orangen konnte ich später aufsammeln, erst mal hoch und die Tür aufmachen, erst mal nicht mehr heulen, obwohl ich schon gar nicht mehr heulte, als Achim kam, aber ich fühlte mich so und ich sah auch so aus, da war ich mir sicher. Mein T-Shirt klebte mir an der Haut, das konnte er nicht sehen, Schweiß rann mir an der Wirbelsäule herab, aber nicht so wie im Badeurlaub, wenn man schwitzt, weil man auf dem Bauch in der Sonne eingeschlafen ist, sondern der kalte piekende Schweiß, der kommt, wenn das Leben gerade kein Badeurlaub ist, sondern aus der Form geraten. Ich hatte auf meine Tür gezeigt und Achim hatte gefragt: „Woher weiß ick denn, dass dit auch deine is?“, und ich wurschtelte mein Portmonee heraus, den Perso hatte ich nicht dabei, aber die Krankenkassenkarte und Achim schaute auf meine Hand mit der Karte, als hätte ich ihm gerade ein seltenes Tier gezeigt, und dann guckte er aufs Klingelschild, wie man eben auf ein Klingelschild guckt und mich irritierte das, aber dann stellte er sein Köfferchen ab, kniete sich hin, holte was raus und ungefähr 30 Sekunden später stand er in dem kleinen Flur, in meinem kleinen Flur, und es war mir nicht unangenehm, das fiel mir erst später auf, aber er meinte, das mache jetzt 150 Euro und ich war neidisch auf diese Kalkulation, ich wusste, ich muss mir einen Beruf suchen, wo ich das auch mal sagen werden kann, „das macht dann 150 Euro“, das klingt angemessen und ernsthaft, als habe man etwas verrichtet, das genau so viel wert ist, als habe man diese Aufgabe erfolgreich bestanden, als hätte man das wirklich verdient. „Ich hab nix hier“, sagte ich zu Achim und Achim seufzte, aber verdrehte nicht die Augen, obwohl das sehr gut gepasst hätte, so ein Augenrollen, ich hätte auch mit den Augen gerollt, wenn ich Achim wäre, aber Achim war anscheinend ein anderer Achim als der, der ich wäre, wenn ich Achim wäre. Er rollte nicht mit den Augen, sondern sagte: „Na dann jehn wa jetzt Jeld holn“ und ich nickte und suchte meinen Schlüssel und als ich ihn gefunden hatte, da klimperte ich damit in der Luft wie in einem schrecklichen Werbespot, „Hallihallo“ wäre so ein Wort, das zu dieser Geste passt, aber auch hier war Achim zauberhaft und schaute mich nur mit erhobenen Augenbrauen an, als würde er sagen „Wird’s bald?“, aber sagte es nicht und ich schob ihn aus der Tür und schloss ab und fühlte beim Runtergehen noch zweimal nach, ob ich den Schlüssel auch wirklich nicht vergessen hatte, und dann gingen wir vorbei an den vier Blutorangen und zwei Äpfeln, die am nächsten Tag braune Stellen hatten, raus auf die Straße und Achim hob wieder die Augenbrauen und ich erschrak fast und dann fiel es mir ein, „ach ja, da lang“. Ich hielt den Schlüssel den ganzen Weg in der Faust in der Tasche meiner Jeansjacke und in der anderen Hand das Portmonee und ich fragte mich, ob Mama das bezahlen würde, oder Papa, aber eigentlich, dachte ich, müssen die das bezahlen, sonst kann ich nix essen die nächsten drei Wochen, das machen die schon, und als Achim und ich vor der Bank angekommen waren, ging ich rein und hielt Achim die Tür auf, aber der wartete draußen mit seinem Köfferchen und murmelte nur „nee nee“. Ich ging also rein und holte Geld und kurz nachdem der Automat meine Karte verschluckt hatte, da dauert es immer einen Moment zu lange, ich frag mich jedes Mal, was der Automat in der Zeit eigentlich macht, guckte ich raus und sah Achim mit seiner blauen Wollmütze und dachte „Der sieht so glatt aus“, aber nicht komisch glatt, sondern so glatt, wie Leute es sind, denen irgendwas passendes in die Lücke gefallen ist, und dann schloss ich die Augen, als mein Kontostand angezeigt wurde und steckte die Scheine nicht ein, sondern nahm sie in die Faust mit dem Schlüssel, schob die Tür mit der Schulter auf und hielt Achim erst nur meine Faust entgegen, bevor ich bemerkte, dass man das nicht so macht. Man zählt ja das Geld im besten Falle dem anderen direkt in die Hand, nicht wahr, damit der sieht, dass das die richtige Summe ist, dass man ihn nicht bescheißen will, also fing ich an, Achim mein Geld entgegen zu zählen und er winkte ab und sagte: „Dit passt schon, brauchste ne Quittung?“. Quittungen sind gut, das sagt mein Vater immer, „Quittungen sind ein Beweis, lass dir immer alles unterschreiben“, also sagte ich „ja“ und nahm die Faust mit dem Geld wieder zurück in meine Tasche, während Achim einen Quittungsblock hervorzog und auf seinem Oberschenkel ausfüllte. Der Zettel flatterte im Wind, als er ihn mir entgegen hielt und Achim grinste und dann grinste ich auch und das war vielleicht das erste Mal an diesem Tag, so fühlte es sich an, vielleicht war es aber auch einfach nur sehr kalt oder meine Durchblutung angeregt von der Wärme in der stinkenden Bank, jedenfalls war es gut und ich verabschiedete mich mit „Tschüß und danke“ und ging los und dann ging Achim aber noch ein paar Schritte neben mir her. Wahrscheinlich guckte ich ihn so an, dass er meinte, beinahe verteidigend sagen zu müssen „Mein Auto steht in deiner Straße“. Also gingen wir nebeneinander den Weg zurück und sagten nichts und das war eigentlich das Schönste daran und auch, dass ich den Schlüssel noch in der Faust hatte, und ich dachte „Mensch, Ulli, wie so Erwachsene, da passiert was und dann ruft man jemanden an und bezahlt ihn dafür, dass er das regelt“, aber fühlte es eher, als es wirklich zu denken, und als wir an meinem Haus angekommen waren, blieb ich stehen und sammelte den Schlüssel aus meinen schwitzenden Fingern. Achim ging weiter und sagte noch „Mach’s jut“ und ich sagte „Du auch“ und dann stand ich wieder im Hausflur und das Obst war noch immer dort, wo es vorher hingerollt war. Heute kommt Achim spät, er müsste längst da sein.

Segeln gehen

Kaffee

„Gibst du mir mal die Milch?“, fragt K. und ich reiche ihr den kleinen Krug. „Ich mag es, wenn die Milch im Kaffee flockt“, sagt sie einige Zeit später, als ich gerade das Ei auf dem Brot in viele kleine Stücke zerteile, wobei es nicht auf dem Brot bleibt, obwohl genau das der Plan gewesen war. „Die meisten Leute können das nicht aushalten“, sagt K. und ich denke wieder, ich hätte nicht genau zugehört, einen Satz davor verpasst, vielleicht zwei, also sage ich gar nichts und schaue sie an, sie sieht über die Veranda hinaus bis hinter den Zaun, wo das andere Gras beginnt, das breitere, das mit dem Wind geht und nicht nur verloren darin herumsteht. Sie rührt in ihrem Kaffee und schaut in die Tasse und ich habe schon den ganzen Morgen das Gefühl, vielleicht kommt ein Sturm, vielleicht kommt wirklich einer, aber die Wetterstation sagt nichts und vielleicht brauchen wir mehr davon für Wetter und Witterung und die Dinge dazwischen. „Zumindest schauen die Leute meistens angewidert weg“, sagt K. und schaut von der Tasse auf, die sie in beide Hände nimmt jetzt. „Ausflockung habe ich immer als neues Universum gesehen, schon als Kind. Ich saß davor und habe beobachtet, wie sich die Stückchen erst verteilen, dann schwimmen und sich dann irgendwann doch mit dem Kaffee verbinden, als bräuchten sie für alles ein bisschen länger. Mein Großvater ermahnte mich stets.“ ““ „Warum“, frage ich. Am Horizont tauchen die ersten dunkleren Schlieren auf. „Vielleicht hatte er Angst, ich würde sein Getränk mit bloßen Blicken verschütten, dabei habe ich nur zugesehen und biss vor Spannung beinahe in die Tischkante. Ich konnte es ja auch nicht erklären, also was ich sah und was ich damit wollte, was ich zu entdecken versuchte, ich versuchte es eben und die Erwachsenen rührten meistens viel zu schnell um.“

Das leichte Zucken nach links und rechts

Galaxy

„Früher als Kind habe ich versucht, den mir entgegen fliegenden Schneeflocken auszuweichen. Wenn Wind war, weißt du, habe ich mir vorgestellt, ich sei ein Raumschiff mit hoher Geschwindigkeit und die Flocken seien Planeten, Kometensplitter, unbekannte Flugobjekte. Und ich habe versucht, mich ihnen aus dem Weg zu ducken. Ich mache das immer noch, nur mein Kopf ist jetzt größer“, flüstert K., doch E. hört sie nicht mehr, er steht schon vorne am Tor und staunt in das Weiß, Schlafanzughosen in Gummistiefeln.

Nichts allein machen

Hutkrempe

„Was man sich merken muss, also dringend, ist, dass man nichts allein macht. Alles, was man tut, hat in unserer heutigen Zeit mit anderen Menschen zu tun, oder hatte zumindest mal mit anderen Menschen zu tun, nicht einmal einen Schluck Wasser kann man mehr allein trinken ““ und das ist nun wirklich beinahe tragisch. Wenn es im gleichen Atemzug nicht auch manchmal so schön wäre. Denn auch wenn man sich manchmal beschissen allein fühlt, weil man physisch nun ja auch manchmal wirklich allein ist, wenn niemand anders in der Wohnung, im Haus oder gar in der gleichen Straße ist (was selten vorkommt, aber manchmal fühlt es sich ja so an, am liebsten manchmal an Sonntagmorgen, aber das ist eine andere Geschichte), wenn man sich so furchtbar allein fühlt, kann man sich manchmal verallgegenwärtigen (Anmerkung des Gedankens drumherum: dieses Wort streicht das Programm rot an, vielleicht gibt es genau dieses Wort gar nicht, was natürlich ein doch ganz lustiger Witz wäre), dass jeder kleine Schritt, jeder Fussel, jedes bisschen Luft, das man einatmet, mit einem anderen Menschen zu tun hat, schon mal an jemand anderem geklebt hat oder gar durch jemand anderen durchgegangen ist. (Das ist manchmal schön, aber nur wenn man nicht zu lange darüber nachdenkt, dann wird es nämlich eklig.) Und so sehr man es sich manchmal wünscht: Nichts ist wirklich ganz sauber. Im Grunde atmen wir den ganzen Tag andere Menschen ein, wir tragen hundertfach andere Leute und Tiere und Geschirr mit uns herum. Und diejenigen, denen öfter mal alles zu viel ist, die sollten das am besten direkt wieder vergessen. Denn auch das kann der Mensch, wenn er es ein bisschen übt. Dachte ich zumindest. Ich wollte vergessen üben. Ich hatte viel Material und ich wollte etwas damit anfangen, es gefiel mir nicht sehr gut, deswegen beschloss ich: Vergessen wir mal. Und dann sehen wir weiter“, sagt K., als sie nach einem Besuch in der Stadt auf die Insel zurückkommt.