Die neunte Woche Jahr

Tulpen

Nach dem Theater drückt mir die Mutter ein kleines Geschenk in die Hand, und lacht: „Wenn du es doof findest, verstehe ich das. Es war nur ein Gag.“ Ich zupfe das Serviettenpapier ab, zum Vorschein kommt ein Jüngling aus brauner Schokolade, mit einer Badehose aus weißer Schokolade, die mit Herzen aus roter Schokolade verziert ist. Das sind die Geschenke, die man mit über 30 bekommt von der Familie. Und Vitaminpräparate. Beides esse ich zu Hause auf.

Quallen sind organisiertes Wasser, lerne ich im Aquarium von einem Schild. Wir beobachten eine Ameisenfarm. Manchmal klettert eine Ameise durch den Lüftungsschacht nach draußen in den Raum, wo nur Sägespäne sind und noch zwei drei andere Ausbrecher. Die echte Welt wartet hinter noch dickerem Glas. Man muss ja nicht immer vom großen Glück sprechen, manchmal genügt das kleine vollkommen und für immer. Die Skalen sind für jeden anders, auch das lerne ich, vielerlei Maß.

„For the first time the blending of two shades is colour of the year“. Das könnte man jetzt auch wieder auf alles drauflegen, auf die Welt und den Journalismus und die Krisen und die Wünsche und ach. Aber damit fangen wir gar nicht erst an. „Your aura is really fantastic, it’s this beautiful purple color“, schrie diese eine Frau damals in „Almost Famous“.

Manche Tage haben einen Knick. Nicht einmal einen Riss, nur eine äußerst sichtbare Delle. Als habe man sich zu unvorsichtig an einen Gedanken gelehnt, das muss ja nicht einmal von Dauer gewesen sein.

Wie gern ich die „Was schön war“-Texte von Anke Gröner lese. Es gehört zu den guten Dingen, habe ich auch festgestellt, einen Zettel dabei zu haben und abends zu notieren, was schön war. Nicht weil man eine Liste braucht, das ist Quatsch, aber so ein Zettel und ein Vorhaben markieren ja gerne mal einen Moment, den man sich sonst nicht nehmen würde.

An der Friedrichstraße trommelt an dem einen Abend dieser Mann auf dem Mülleimer mit zwei Stücken, das macht er mittags und dann später am Abend steht er immer noch da, in derselben Haltung, ein wenig vornüber gebeugt und mit geschlossenen Augen, und alle anderen, die vorbeilaufen, können nicht anders als zu grinsen, weil er das so gut macht und vom ganzen, dreckigen Rest nichts mehr mitzubekommen scheint. Später im Bahnhof funktioniert „No Care“ von Daughter ganz wundervoll als Abstandhalter und Scheuklappe. Sich bewegen ohne Geräusch.

„We sometimes hope against the evidence.“ – Aus Just One Last Swirl Around The Bowl

Eine halbe Stunde bei einer Podiumsdiskussion zusehen, vier Männer auf der Bühne, zwei Frauen. Die erste Frage des Moderators richtet sich an die anwesende stellvertretende Chefredakteurin: „Sie als Frau…“ – es folgt eine sanftmütig verhornte Frage à la „Wie haben Sie das denn geschafft, sagen Sie mal, hatten Sie Glück?“. Ich erwarte Empörung, vielleicht ein lautes Lachen, eine Rückgabe dieser dusseligen Frage, eine spitze Bemerkung, doch alles, was folgt, ist ein leises Lächeln, eine völlig defensive Haltung, die letztlich in der Antwort „Ja, ich hatte auch Glück“ mündet. Die zweite Frau auf dem Podium, Geschäftsführerin, wird danach ähnliches gefragt ““ und auch sie macht sich klein, duckt sich weg und vor allem – sie verteidigt sich nicht. Wieso antwortet keine der beiden mit „Das war kein Glück, ich habe mir das erarbeitet“?

Bei der Buchpremiere von Benedict Wells spielt seine musikalische Begleitung eine Coverversion von Elliott Smiths „Between the bars“ und ich bin wieder achtzehn und die Hosen zu weit und die Augen ganz groß und die Gänsehaut irgendwo in der Kniekehle.

Nach Oh Wonder im Postbahnhof und erneuter Entzückung in der Kälte an der Eastside Gallery entlang laufen, durch eine große Menge Sarah-Connor-Fans, die sich beim Warten an der Ampel die Videos vom Konzert ansehen. Vor der Mauer steht jetzt ein Bauzaun, der da lustlos entlang drapiert wurde, so macht Berlin das häufiger, vorgeben sich zu kümmern, aber worum genau hat es vergessen und auch, wie man das so richtig macht. Aber Hauptsache leuchten. Und das neue Wohnhaus am Ufer steht genau so, dass man den Fernsehturm von der Brücke nur noch sehen kann, wenn man sich Mühe gibt und an der richtigen Stelle steht, man muss die Magie der Aussicht jetzt suchen, alles wird weniger offensichtlich und zugestellt. Falsch verschriebene Beschäftigungstherapie, oder Fahrlässigkeit.

Brian Frankes „Im Grunde sind wir untröstlich“ wiedergefunden. Mich lange nicht mehr so sehr über eine Buchseite gefreut wie über die fünfte von hinten.