Die sechste Woche Jahr
Stadtteile wechseln wie ein Transportmittel. Der andere ist plötzlich so weit weg, alles sieht anders aus, funktioniert anders, riecht anders, jeder nimmt einen neuen Bus nach Hause. Menschen, die nachts über den Ku’damm stolpern, alle für sich zwischen den hell erleuchteten Schaufenstern, in denen die Puppen mit den Plastikhaaren stehen in ihrer eingefrorenen Zerzausung.
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In einem Chat gemeinsam überlegt, wo eigentlich die Kollegialität im Internet wohnt und wie viel davon wir brauchen, bräuchten dafür, dass es friedlicher wird, nicht diskussionsfreier, aber so, dass man nicht sofort zusammenzuckt, so dass man nicht im Vorfeld schon Beschimpfungen und Hass einkalkulieren muss, sich nicht von anderen stärken lassen muss, um alles auszuhalten, nicht weggehen muss, um sich auszutauschen. Ausloten, wer bereit ist (acht) zu geben, wer nicht in der Lage und wer einfach zu faul.
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Es gibt sie noch immer, die Nächte die sind wie in einen Berlinfilm hineingeschrieben, nur ohne die cheesy Dialoge. Mit den Menschen und den Drinks und den Lichtern und dem lauten Singen, dem Laufen nach Hause, wenn die Straßen sich langsam leeren, man das Licht des nächsten Tages schon erahnen kann, einem auch im Februar nicht kalt ist und vor allem immer so, dass die Nacht länger ist als eine Nacht. Sie ragt unauffällig bis in die nächste hinein.
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Sowieso: Konstellationen ausloten. Mit dem Kopf im Nacken, mit dem Blick zurück, mit Bedachtsamkeit nach vorn. Welches Patchwork funktioniert? Wie rücken Menschen nebeneinander, um so zu bleiben oder zumindest sich nicht sofort wieder zu verlieren? Wie viele Eltern kann man eigentlich haben? Und wie viele will man? Wer gehört noch dazu? Kann man noch einmal neu anfangen und wann ist es zu spät? Wie adoptieren wir Freunde?
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Durch die Weserstraße rannten gerade schwarz vermummte Menschen und brüllten irgendwas, als D. und mir Karate wieder einfiel. Die „Unsolved“Â ist und bleibt diese eine Platte, die immer noch viel mehr Literatur als Musik ist, diese eine Geschichte, derer ich nicht müde werde, sie wird als Geschenk immer gültig sein. Etwas, das man von Wohnung zu Wohnung mitnimmt, ohne es auszupacken, man kennt diese Kiste, man weiß genau, was darin sich an welcher Stelle befindet, manchmal schüttelt man sie sanft, um sich zu vergewissern, aber man muss sie nicht mehr öffnen, das Geräusch ist immer und immer wieder dasselbe, aber ohne die Kiste wäre alles anders.
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In Berlin hört man selten Wasser, obwohl welches da ist. Wenn man es doch wahrnimmt, bügelt einem das Geräusch am Morgen die Stirn.
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„Kleine Lichter“ hatte ich damals gelesen in diesem Hotel in Taiphe, als die Erde bebte, ich hatte es mitgenommen, weil es so praktisch war, so klein, ohne große Erwartungen an die Lektüre, und dann flogen mir doch so viele Sätze davon durch den Kopf, als ich mich durch die Stadt schieben ließ, ohne Smartphone, nur mit Stadtplan, denn sie erzählt im Buch ja auch immer von ihren Reisen. Und ich weiß noch, dass mich immer nicht entscheiden konnte, ob ich mich auf den Kitsch zwischen den Seiten, diese blumig beschriebene und so geradeheraus erzählte Liebesgeschichte wirklich einlassen wollte (keine Scheu vor keinem Gefühl), dieses Buch war mir suspekt, weil die Beschreibungen nicht schwankten. Dieses opulente Bild von einem großen Gefühl trug ich die ganze Zeit mit mir herum, berührt, ergriffen, weil die besten Bücher ja sind, die dich von innen heraus in verschiedene Richtungen drängen und kleine Beulen hinterlassen. Direkt danach trat ich in kleinen Sicherheitsabstand zu dieser Geschichte (und halte ihn immer noch), weil sie so eng verbunden ist mit der hohen Luftfeuchtigkeit und diesem großen Gefühl Anfang 20, das so nicht mehr wiederkam. Manchmal lässt man ja Platz zwischen sich und den Dingen vor allem aus Respekt. „Kein großer Bahnhof nötig.“
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Mit dem Großvater Schnitzel essen. Er verzehrt den Kartoffelsalat zuerst, dann das Kraut. Vom großen Schnitzel schneidet er die Ränder ab, sodass ein akurates Rechteck zurückbleibt. Anschließend holt er eine Brotdose aus seiner Tasche und packt das begradigte Schnitzel ein für später. „Ich bin doch nicht blöd.“
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In diesem Laden auf der Potsdamer Straße stehen ein rotes Plüschsofa, ein Klavier und so große Tische, dass Menschen ohne Probleme miteinander daran sitzen können, ohne einander auf die Nerven zu gehen. Die Fensterfronten sind so riesig, dass man sie gar nicht mehr bemerkt. Neben uns direkt am Fenster sitzt ein älterer Herr, er kommt spät, vielleicht gegen Mitternacht. Den Rucksack legt er auf dem zweiten Stuhl ab, er setzt sich, blättert nervös den Kulturteil des Tagesspiegels durch. Man kennt ihn hier, dem Barkeeper wirft er mit Blicken eine Begrüßung zu, manchmal spricht er nicht hörbar mit sich selbst, schaut nach draußen. Er trinkt ein Glas Weißwein, das erste sehr schnell aus. Dem zweiten dann gibt er etwas mehr Zeit, während er in Druckschrift Notizen in das kleine grüne Buch kritzelt, das er mit einem Schnipsgummi verschließt. Kurz bevor ich mich zurücklehne, treffen sich unsere Blicke, ich lächle, er weiß nicht genau, er lächelt dann doch. Am Ende sagt er mir auf Wiedersehen, als ich mich noch einmal umdrehe, bevor wir den Laden verlassen. Dann trinkt er aus.
Kommentare
in dem beschrieben laden bin ich so gerne! und der ältere herr ist auch immer da.
Opi <3