Aneignung
Die Angst des älteren Kindes vor den Narben, das ungläubige Fingern um die Stellen herum, wo es schon schmerzt, aber noch aushaltbar, das Berühren der neuen Haut, das Ansehen, immer wieder Ansehen, das Pulen am Prozess der Wunde, so wie man kaum glauben kann, dass sich Schorf darauf legt, wenn das Loch nicht zu groß, nicht zu tief ist, die Akribie des älteren Kindes in der Beobachtung jeden Tag, die Begutachtung des eigenen Körpers in seiner Arbeit, in seinem Ausgleich eines Vorfalls, Biologie am wachsenden Subjekt betrachten. Im späteren Leben verlernen wir häufig das Befühlen der Wunde, geben das Urteil über den Zustand an Experten ab, und ich habe vergessen aus den Gründen auszuwählen, vermutlich macht es manchen Angst in das eigene Fleisch hineinzusehen, dem Verfall guten Tag zu sagen, wir lehnen uns zurück und lassen die Experten den Verband wechseln, anstatt mit großen Augen dazusitzen und zu sehen, was man da selbst über Nacht für einen Fortschritt gemacht hat, das ist ja auch mit den anderen Wunden so, wenn wir älter werden, wir warten ab und auf das Rezept und später starren wir ungläubig auf die neue Haut, die heller ist als das Drumherum, die faseriger ist als ihre Umgebung, die sich nicht schert um das, was war, sondern halt einfach ist, da erschrecken wir uns und niemand käme je auf die Idee zu sagen: Schau mal, Blödkopf, hab ich gemacht. Einfach nur durch essen und liegen und abwarten und Geduld. Die wenigsten berühren im ersten Reflex ihre neue Haut, sondern beäugen nur, ziehen die Augenbrauen hoch und begutachten, was nun daraus geworden ist von selbst. Die Identifikation mit der Wunde findet nicht statt, wir machen uns die eigene Veränderung nicht mehr zu eigen, sondern stehen außerhalb und sehen uns dabei zu. Und viele Jahre später wundern wir uns über das, was aus uns geworden ist. Die Rückeroberung des eigenen Körpers und der Entwicklung ist, was man uns dann neu beibringen muss (auch wieder für Geld), das Niederschmettern der verrückten Distanz zwischen uns und den Körpern und allem, was darin passiert, A, B oder C. Kreuz alles an, ist alles deins, hast du alles gedacht, gemacht, erwachsen. Als sprieße man aus sich hinaus. Dabei fallen wir so oft doch einfach nur in uns hinein. Es gibt nun einmal rekursiv aufzählbare Mengen, die nicht entscheidbar sind, mein Kind.
(Vorschlag in Vorsorge: Vielleicht hätten zwei, drei Fingerbreit jeden Tag schon genügt.)
Kommentare
[…] Lisa hat was über Wachsen geschrieben und das Verhältnis zum eigenen Körper, und irgendwie hat sie recht: Aneignung. […]
Die „nicht entscheidbaren rekursiv aufzählbaren Mengen“ am Ende ließen den Informatiker in mir schmunzeln, die anderen Gedanken nicht… Kann es sein, daß wir mit zunehmendem Alter Bewußtsein verlieren für Dinge, die in jüngeren Jahren ganz viel wichtig, gegenwärtig, „da“ sind? Wir fokussieren auf vieles. Wir haben unsere Gedanken beständig irgendwo, von den Gefühlen ganz zu schweigen. Wir lassen uns von Verstand und Ungeduld treiben, anstatt viele kleine Dinge, in Sonderheit solche, die uns nah sind, nah gehen, bewußt zu durchleben, bewußt zuzulassen. Das ist wohl mehr als Rückeroberung des eigenen Körpers. Aber auch das.